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(c) Pester Lloyd / 11 - 2013   POLITIK 14.03.2013

 

Die Ein-Mann-Demokratie

Wie erklärt man es dem Ausland? Sechs Fragen und Antworten zu Ungarn

Wie immer, wenn in Budapest der Bär steppt, erreichen uns in der Redaktion zahllose Anfragen ausländischer Medien. Fragen, die oft erfrischend direkt sind und mit ihrer Forderung nach klarer Antwort das Dickicht der täglichen Detailflut lichten helfen. Ist Ungarn noch eine Demokratie? Treten sie aus der EU aus? Was kann die EU nur tun? Was treibt Orbán an? Wo wird das enden? Anbei ein Querschnitt der häufigsten Fragen aus Dänemark, Frankreich, Belgien, und Großbritannien und unsere Antworten darauf.

1. Ist Ungarn noch eine Demokratie?

Ungarn zeigt, dass es innerhalb der EU möglich zu sein scheint, eine Demokratie in ein autokratisches System umzuwandeln und das mit vordergründig demokratischen Mitteln, wie denen des Mehrheitsentscheids. Wichtige Merkmale einer Demokratie sind offen in Frage gestellt, nicht erst seit Montag, sondern seit Mai 2010, seit die Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Partei um Premier Orbán den "totalen Umbau", die "nationale Revolution" ausgerufen hat. Es geht um nicht weniger als den Bestand der Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit demokratischer Konstrollinstanzen bis hin zur "Gleichschaltung" der öffentlich-rechtlichen Medien. Es geht um einen gesellschaftlichen Konsens, der von einer Partei bestimmt und damit unterbunden wird.

Was am Montag als - bisher - letzter Schritt geschah, war die Transformation über die Aufsicht über die Verfassung vom Verfassungsgericht auf das Parlament, genauer, auf die Mehrheit einer einzigen Fraktion und die Implementierung von immer mehr tagespolitischen Fragen in den Kerntext der Verfassung. Angefangen von Steuersätzen über den Bleibezwang für Studenten, die Einschränkungen bei der Meinungsfreiheit (Würde der "Nation"), Gängelungen im Wahlkampf, Einengung des Famlienbegriffs bis hin zur verfassungsmäßigen Möglichkeit der pauschalen Kriminalisierung von Obdachlosen durch kommunale Amtsträger.

Die Aufnahme von Tagespolitik in eine Verfassung aber hindert zukünftige Mehrheiten am Regieren, denn für Änderungen brauchten sie eine wenig wahrscheinliche 2/3-Mehrheit. Dies zerstört also ein weiteres demokratisches Grundprinzip.

In der Verfassungsänderung ist auch die gesetzliche Zuständigkeit der Gerichte de facto aufgehoben worden, die Richterkammer kann nun einzelne Fälle beliebigen Gerichten zuweisen, was eine weitere - deutliche - Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere der Richter darstellt.

Ungarn ist auf dem Papier immer noch eine Demokratie, aber alle Tore hin zu einer Autokratie, einer Diktatur sind geöffnet und im Moment gibt es weder im In- noch im Ausland eine Kraft, die diese Entwicklung stoppen könnte - oder wollte.

2. Was sind die Konsequenzen der 4. Verfassungsänderung.
Wer wird davon am meisten betroffen sein?

“Selbstermächtigung”: Beitrag zu den Änderungen am Kerntext der Verfassung
+ Details bezüglich VfG

Änderungen an den Kompetenzen, der Arbeits- und Funktionsweise des Verfassungsgerichtes + weiterführende Links zur Verfassungsgeschichte seit 2010

Originaltext der geplanten Verfassungsänderungen (pdf, engl.)

Das Letzte Wort: Ex-Präsident zum Verfassungsputsch: Präsident muss Veto einlegen

Brief Außenminister Martonyi an die europäischen Außenminister (pdf, engl.)

Vormärz: Tausende protestieren gegen den “Verfassungsputsch” + Stimmen aus USA, Barroso etc.

Orbán, Merkel und die europäische Selbstenthauptung: Kritik von Europarat, dt. Bundesregierung, EU-Kommission + Kommentar

Am meisten betroffen sein werden all jene, die nicht Teil des Mainstreams sind und ihre Rechte über Gerichte einfodern wollen oder müssen, ob Unternehmen oder Bürger, ob ethnische Minderheit oder Partei. Denn was geschah am Montag? Die 22jährige Verfassungsgeschichte des Nachwende-Ungarns wurde de facto gelöscht. Das Verfassungsgericht kann sich bei neuen Prüfungen und Klagen in ihren Urteilen zwar noch auf die Urteilsgeschichte, die organisch gewachsene Rechtspraxis beziehen, aber ihre Urteile nicht mehr darauf gründen. Das ist ein kleiner, aber gemeiner Unterschied. Nur noch die neue "Ein-Parteien-Verfassung" bildet die rechtliche Grundlage für Urteile. In diese Verfassung wurden nun aber auch offenkundige Grundrechtsverstöße (s.o.)  aufgenommen, als Teil der Verfassung. An die kann das VfG nun nicht mehr ran, denn ihr Job ist der Schutz der bestehenden Verfassung.

Im Grunde hat man das ganze Verfassungsystem damit ausgetrickst und ad absurdum geführt. Einige Bestimmungen hinsichtlich der Funktionsweise bei der Urteilsfindung hat man am Ende etwas abgeschwächt, woran sich die gläubige Orbán-Gilde wie an einen Strohhalm klammert. Doch was nutzt selbst ein voll intaktes VfG, wenn jedes abgeschmetterte Gesetz durch einen Parlamentsbeschluss in die Verfassung gehoben wird, damit der Gegenstand nicht mehr Teil einer Prüfung werden kann?! Orbán hätte auch beschließen lassen können: Die Verfassung bin ich. Denn so ist es heute. Ungarn, eine Ein-Mann-Demokratie.

Das Fatale dabei ist: Ungarns politisches System ist als konstitutionelle Demokratie konzipiert gewesen, hier gibt es außer dem Verfassungsgericht keine ausgleichenden, gewährleistenden Kräfte, z.B. eine starke zweite Kammer wie in Deutschland, einen starken Präsidenten wie in Frankreich oder Elemente direkter Demokratie wie in der Schweiz. Von einer starken Zivilgesellschaft gar nicht zu sprechen. Ungarns Demokratieversicherung war das Verfassungsgericht. Diese Versicherung wurde nun ausgesetzt, womöglich gekündigt. Ex-Präsident Sólyom, selbst einst Präsident des Verfassungsgerichtes - und übrigens ein Konservativer - nannte das einen schleichenden Systemwechsel. Das VfG hat nicht mehr das letzte Wort über die Verfassungsmäßigkeit der Politik.

"Die Gesetze, vor allem aber die Verfassung, sind gemacht worden, um sie einzuhalten, und nicht, um sie aus persönlichen oder parteipolitischen Gründen zu modifizieren." Kardinal Jorge Bergoglio, seit Mittwoch Papst Franziskus I., zur argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner anlässlich einer angstrebten Verfassungsänderung, die ihr eine dritte Amtszeit ermöglichen würde.

3. Die Fidesz-Regierung schränkt auch unabhängige Medien ein. Leiden Sie darunter?

Die unabhängigen Medien werden durch ein durch eine Behörde frei interpretierbares, kaum überschaubares Konvolut von Regularien im Mediengesetz herausgefordert, das ein mächtiges Instrument des regierungstreu besetzten Medienrates ist. Dieser nutzt seine Macht u.a. bei der Frequenzvergabe (Fall Klubrádió). Gegenteilige Gerichtsurteile werden hier einfach ignoriert. Aber es gibt auch ein Bußgeldsystem. Ein Beispiel: einerseits konnte der Orbán-Freund, Fidesz-Mann und "Journalist" Zsolt Bayer - ohne jede Sanktionierung - schreiben, dass "Zigeuner Tiere, Bestien" sind, "die nicht wert sind unter uns zu leben" etc., gleichzeitig belegt der Medienrat den TV-Sender RTL Klub mit einer strafbewährten Unterlassungsanordnung, weil sich die offen nazistisch agierende Partei Jobbik an der Titulierung "rechtsextrem" stört. Politische Berichterstattung müsse "wertneutral" sein, hieß es zur Begründung, eine Bestimmung, die es ja angeblich gar nicht geben soll, glaubt man den Orbán-Verteidigern.

Die öffentlich-rechtlichen Medien wurden zu Staats- bzw. Regierungsmedien umfunktioniert, sie dürfen nur noch Nachrichten von der amtlichen Nachrichtenagentur MTI übernehmen, die Berichterstattung ist gezielt selektiv und manipulativ. Die privaten, unabhängigen Medien müssen mit zurückgehenden oder ganz gekappten Anzeigenaufträgen öffentlicher Ämter und Staatsbetriebe klarkommen, vor allem aber müssen sie gegen ihre eigene Angst ankämpfen, gegen die Selbstzensur, die Schere im Kopf, wie sie noch aus der Vorwendezeit bekannt ist. Jeder kann schreiben was er will, die Frage ist nur, ober auch die Konsequenzen aushalten kann.

Was uns betrifft: der Pester Lloyd musste bisher zweimal Ungarn verlassen, einmal 1919 zur Räterepublik und dann 1944 zur Nazizeit. Dass Sie uns heute, im demokratischen Europa diese Frage wieder stellen müssen, zeigt schon das ganze Drama...

4. Was treibt Orbán zu seiner Politik an - fürchtet er nicht wenigstens die negativen ökonomischen Auswirkungen?

Orbáns Charakter ist getrieben vom Fetisch Macht und von Omnipotenz, von einem Kontrollwahn, der bis ins letzte Dorf reicht. Er hat 2002 - für ihn unerwartet - eine Wahl verloren und sorgt nun dafür, dass das nie wieder passieren kann. Womöglich verliert er nochmal eine Wahl, aber damit nicht gleich die Macht, denn diese hat er sich durch die Verfassung bzw. die Bestimmungen darin zementiert.

Auf der anderen Seite hat er im Zusammenhang mit den andauernden Krisen auch ganz richtige Fragen gestellt, vor allem in der Wirtschaft, z.B. was die Abhängigkeit vom internationalen Finanzmarkt betrifft und zur kranken Logik permanenten, fremdfinanzierten Wachstums. Fragen, die man vorher entweder verschwieg oder die Probleme dahiner verleugnete. Doch die Antworten darauf haben mit seinem erklärten "Befreiungskampf" nichts zu tun, er wechselte nur die Ketten aus, tünchte sie in die Nationalfarben und umgab sein Projekt mit einer diffusen Aura aus Opfermythen und einer Art magyarischen Rassentheologie, die immer schriller wird, je stümperhafter die Wirtschaftspolitik agiert.

Die Realität sieht nicht so bunt aus: wir haben mehr Armut als jemals in der Nachwendezeit, sehen ein ethnisch (Romafrage) und politisch, wie wirtschaftlich tief gespaltenes und zunehmend isoliertes Land. Das ist der Preis für die "Revolution", der Preis der Übertreibung. Orbán macht Politik nicht in erster Linie, um das Wachstum anzuwerfen, auch wenn er das dringend braucht. Er macht Politik vor allem, um sich selbst auf der "richtigen" Seite der Historie zu sehen, er glaubt, der Rest komme dann von selbst. Das glaubte man im Ostblock lange genug. Es ist eine Art von Wahn, dem noch bzw. wieder viele Menschen folgen, weil es bequemer ist, sich Heilsbringern anzuschließen als sich durch die Komplexität der Realität zu kämpfen. Populisten profititieren davon, dass viele Menschen von der Zeit und den Umständen überfordert sind.

5. Wo wird das enden? Ist Ungarn auf dem Weg zum autoritären Staat, einschließlich auf dem Weg hinaus aus der EU?

Der Weg raus aus der EU wäre der Ruin der ungarischen Wirtschaft, sie hängt nicht unmaßgeblich von den Geldern aus Brüssel, vor allem aber vom Engagement ausländischer - vornehmlich aus der EU - Investoren und Kapitalgeber ab, woran auch Orbán nicht viel ändern kann. Doch Orbán macht heute innerhalb der EU was er will und bekommt trotzdem die Milliarden. Also warum sollte er austreten? Sicher kann die EU über verschiedene Verfahren Ungarn finanziell unter Druck setzen. Aber wer leidet darunter? Die Menschen mehr als Orbán, der in seiner "Fremdschuldthese" nur noch bestätigt würde.

6. Was kann die EU tun, um die Demokratie in Ungarn zu erhalten?

Das ist die 1-Millionen-Euro-Frage: Außerhalb der gegebenen Instrumente, musst die EU das heutige Ungarn endlich als Herausfoderung für ihr Verhalten auf Angriffe auf demokratische Grundnormen insgesamt erkennen.

Wir müssen sehen, dass die EU, weder die Kommission, noch das Parlament die Werkzeuge hat, antidemokratische Entwicklungen bei ihren Mitgliedsländern außerhalb von "Martkregularien" und anderem EU-Recht zu stoppen. Es gibt keine EU-Kompetenzen, die die Rechtsstaatlichkeit garantieren. Verfassung ist Ländersache. Wie kann es sein, dass es immer noch keine wirkliche EU-Verfassung gibt?

Der Rat der Regierungschef hätte mehr Befugnisse und Macht, ist aber nicht willens, diese einzusetzen. Im Gegenteil, die realtive EVP-Mehrheit sieht Ungarn als faszinierendes Labor, in dem man evaluieren kann, wie geduldig und wie genügsam Völker hinsichtlich ihrer Grundrechte sein können. Es ist mittlerweile ein erheblicher Zweifel daran angebracht, ob die EVP-Freunde selbst noch auf der Grundlage von Freiheit und Demokratie stehen, wenn sie Orbáns Ungarn weiter derart blind folgen.

 

Die EU als Ganzes sieht gerade dabei zu, was geschieht, wenn die Krisen unserer Demokratien - und die Finanzkrise ist auch eine Demokratiekrise - von Nicht-Demokraten "gelöst" werden. Die EU, die Demokraten in ihr, sollten Ungarn daher als eine Chance wahrnehmen, die Prioritäten der EU zu verschieben: von einem lobbygetriebenen Binnenmarkt hin zu einer bürgergetriebenen Binnendemokratie, mit dem Binnenmarkt als Draufgabe, nicht als Voraussetzung.

Diese Bürger-Gemeinschaft braucht, ebenso wie der Binnemarkt, klare und verbindliche Normen für alle und Instrumente diese umzusetzen oder Verstöße zu sanktionieren. Dazu braucht die EU selbst mehr demokratische Legitimation, der einzige Weg, mit der ihr mehr Macht zukommt. Anders kann Europa langfristig nicht exisitieren. Es braucht also einen grundsätzlichen Wandel der Bedeutung der EU, doch dazu müssen sich die Europäer und ihre Vertreter zumindest erstmal über das Grundziel dieser Gemeinschaft - wieder - einig werden.

Denn letztlich sollten wir eines nicht vergessen: Orbáns absolute Macht ist weder vom Himmel gefallen, noch kam sie aus der Hölle. Seine Macht bekam er vom ungarischen Volk, das wir - Europa - mit seinen Ängsten allein gelassen hat, dessen Armut es hingenommen hat, weil es nicht rechtzeitig auf Fehlentwicklungen reagierte und dadurch den Bürgern des Landes eine vernünftige Perspektive schuldig blieb, so wie das - in Abstufungen - auch in Rumänien, in Spanien, in Griechenland und anderswo der Fall ist. Wenn wir das als Europäer nicht ändern können, ist Ungarn morgen überall, denn "Orbáns" gibt es nicht nur hier.

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red., m.s.

 

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