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(c) Pester Lloyd / 25 - 2013   POLITIK 17.06.2013

 

Wie weckt man ein halbes Land?

Demokratische Opposition in Ungarn nimmt neuen Anlauf für Wahlbündnis

Den Unentschlossenen und Verdrossenen in Ungarn einen "glaubhaften Weg und eine ebenso glaubhafte Partei" zu zeigen und Kandidaten "mit einem guten Willen und Herzen" zu präsentieren, sei die Voraussetzung dafür, 2014 einen "Regimewechsel" zu vollbringen. Ex-Premier Bajnai von der Mitte-Links Allianz "Gemeinsam 2014" hält den für nötig, weil die Orbán-Partei Ungarn in die Isolation geführt habe und das Land als persönliche Beute missbrauche. Ob aber ein Bündnis mit der MSZP die Menschen überzeugen wird? Ab Freitag verhandeln beide Parteien offiziell.

Schon wieder eine neue Ära?

Die Wähler müssten Gewissheit haben, dass ihre Stimme 2014 einen wirklichen Epochenwechsel einleiten könne, einen Wechsel, der Orbáns Regime ebenso beendet wie er dafür sorgt, dass die Zustände von vor 2010 sich nicht wiederholen. Das sagte Ex-Premier Gordon Bajnai am Samstag auf einem Kongress seiner in Gründung befindlichen Partei Wahllallianz "Gemeinsam 2014", dem Abschluss einer monatelangen Ochsentour durchs ganze Land. Die Wähler wollten weder ein Land in Fidesz-orange, noch eine sozialistische Auferstehung. Man wolle keine Lügenreden (Gyurcsány) mehr, aber auch keinen Felcsúter Führer (Orbán). Allerdings könne er auf eine "fruchtbare Kooperation" mit der MSZP ("Sozialisten") während seiner Zeit als Ministerpräsident zurückblicken und er hoffe auch für die Zukunft auf gute Vereinbarungen bzw. Komprommise mit ihnen.

Von Hoffnung und “wir können das” war am Samstag viel die Rede. Nicht nur verbal nimmt Bajnai Anleihen an den Wahlkampfauftritten Barak Obamas. Aber hat er auch das Charisma?

Mehr zum Thema im aktuellen Pester Lloyd-Interview mit Gordon Bajnai, darin auch weiterführende Links zur Situation der demokratischen Opposition in Ungarn.

Mit einem linkem Flügel fliegen, um in der Mitte zu landen?

Damit drückte Gordon Bajnai bereits zwei Dilemmi aus, in denen er sich befindet: denn ohne die Stimmen der MSZP-Wählerschaft, also jener Partei, die einst - mit Gyurcsány an der Spitze - wesentliche Teile der heutigen Misere mitschuf, kann seine Mitte-Links-Allianz nach aktueller Arithmetik die Wahlen nicht gewinnen und es erscheint fast aussichtslos, die wendemüden Ungarn von der Notwendigkeit einer neuerlichen Totalumkehr ihrer Gesellschaft zu überzeugen.

Offizielle Gespräche zwischen "Gemeinsam 2014" und der MSZP sollen in der kommenden Woche starten. Erste informelle Annäherungsversuche über die Planung gemeinsamer Kandidatenlisten, über programmatische und wahltaktische Absprachen scheiterten kläglich an internen Machtkämpfen und Eifersüchteleien, vor allem aber an dem für die MSZP offenbar naturgegebenen Führungsanspruch in einem Oppositionsbündnis.

Flat tax und Medienrat müssen weg, Wahlrecht für Auslandsungarn bleibt

Um im Pakt mit den in weiten Kreisen unglaubwürdigen Sozialisten sich nicht selbst zu diskreditieren und auch die liberal-grünen Bündnispartner (Milla, Szolidaritás, "Dialog für Ungarn") nicht zu vertreiben, will die Bajnai-Allianz einen "Paradigmenwechsel der politischen Ethik" an den Beginn der Verhandlungen am kommenden Freitag stellen, einschließlich einer wirklichen Anti-Korruptions-Strategie. Auch die Öffnung der Stasiakten (nicht nur für die "Sozialisten" bisher ein rotes Tuch) gilt ebenfalls als Grundbedingung, damit "Gemeinsam 2014" trotz des linken Flügels auch in der Mitte landen kann. Auch die Beibehaltung der vereinfachten Staatsbürgerschaft samt Wahlrecht in Ungarn ist vorgesehen, ein Zugeständnis an das nationale Sentiment, das in Ungarn gehegt wird.

Über die Abschaffung der Flat tax, eine Zerschlagung des Medienrates sowie eine Wiederherstellung grundlegender Arbeitnehmerrechte ist man sich indes schon einig. Erst ganz am Ende, also irgendwann im Herbst, soll auch ein Spitzenkandidat des Wahlbündnisses gekürt werden. Offen ist auch noch eine nicht ganz unwesentliche Frage: wie will man die Wiederherstellung einer demokratiewürdigen Verfassungsordnung angehen, ohne die das Land - angesichts der vielen Tagespolitik im Verfassungsrang - praktisch nicht regierbar ist?

Die Hälfte will nicht wählen oder weiß nicht, wen...

Rund 50% der Wahlberechtigten wollen sich in Ungarn derzeit weder für eine Partei entscheiden oder überhaupt an Wahlen teilnehmen. Ihre Mobilisierung ist der Schlüssel zum Erfolg gegen das Orbán-Lager, das sich bei Wahlen unter derzeitigen Konstellationen rund 45% der Stimmen ausrechnen kann, was durchaus zu einer zweiten Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate führen kann. Dabei kann sich Fidesz auf eine noch sehr treu erscheinende Wählerbasis von rund einem Viertel aller Wahlberechtigten stützen. Die demokratische Opposition kommt in derzeitigen Sonntagsfragen zusammen gerade auf rund 35%, zu wenig für einen Machtwechsel.

Bevor das Großreinemachen beginnen kann, muss erst noch das Volk überzeugt werden. Kurz vor Bajnais Auftritt am Samstag. Übertragen wurde der vom Privatsender ATV, der öffentlich-rechtliche Rundfunk hatte dafür nur eine Randnotiz übrig.

Warnung vor “hemmungslosen kleinen Orbáns”

Bajnai nennt das Land "geteilt und verzweifelt" und warnte die Ungarn in seiner Rede davor, dass eine Fortführung der Orbán-Regierung das Land letztlich aus der EU führe. Warum das nichts Gutes bedeuten kann, versucht der Wirtschaftsprofi an der engen Verknüpfung der ungarischen mit der europäischen Wirtschaft klar zu machen. Doch auch hausgemachte Skandale zieht er heran, um die Unentschlossenen zu ködern: "Wenn dieses Regime an der Macht bleibt, werden all die Simickas und lokalen Orbáns ihre letzten, vielleicht noch vorhandenen Hemmungen verlieren und glauben, sie könnten tun und lassen was sie wollen, weil ihr Handeln keine Konsequenzen gegen sie hat." sagte er in Anspielung auf das Orbánsche Oligarchensystem, in dem Milliarden an Fördergeldern versickern und den Tabakhandelsskandal sowie viele andere aktuelle, amts- und machtmissbrauchende Vorfälle von regionalen Platzhirschen mit Fidesz-Parteibuch oder entsprechenden Verbindungen. Solche handfesten Geschichten, die belegen helfen, dass Orbán und seine Truppe im Grunde nur eine Bande von Betrügern ist, scheint besser geeignet, Volkes Stimme hinter dem Ofen hervozulocken, als abstrakte Verfassungs- und Grundrechtsdebatten wie sie im Westen geführt werden.

Ein Herz für Arme

Hinsichtlich existentieller Fragen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik versucht Bajnai eigene Akzente zu setzen. So fordert er nicht, wie die MSZP, die Herabsetzung der Mehrwertsteuersätze auf Nahrungsmittel (mit 18 bis 27% europaweit Spitze), weil dies nicht nur jenen zu Gute käme, die diese Entlastung bräuchten und mit rund 300 Milliarden Forint (1 Mrd. EUR) im Jahr so viel kostet, wie man benötigt, um die Sozialpolitik wieder auf ein menschenwürdiges Maß zu restaurieren. Hinsichtlich der vielen durch Forex-Kredite und mangelnde Einkünfte überschuldeten Haushalte sagte Bajnai, dass die Stabilisierung des Forints der Schlüssel für eine Problemlösung darstellt. Diese ist aber bei dem Vertrauensverlust, den Orbán gegenüber den Finanzmärkten verschuldet hat, mit dieser Regierung nicht machbar. Er schlägt vor, dass arbeits- und vermögensslose Schuldner nur eine monatliche Rate von 10.000 Forint (33.- EUR, eine Art Kontaktrate) entrichten müssen, um sie nicht weiter in die Armutsfalle gleiten zu lassen.

Bajnai will Orbán beim packen helfen

Bajnai und sein Team tourten in den letzten drei Monaten durch rund 80 Städte und Gemeinden des Landes. Bei seinen Gesprächen dort habe er viel Wut und Zukunftsangst erfahren und die Gewissheit der Menschen gespürt, ein weiteres Mal von der Politik verladen worden zu sein. Seine Expertengruppen haben mittlerweile ein rund 200 Seiten umfassendes Regierungsprogramm erstellt. "Wir sind fit für den Job und bereit ihn zu übernehmen!". Im Anschluss an die Rede kamen Fragen aus dem Auditorium, viele handelten von den mangelenden Perspektiven, fehlender sozialer Sicherheit, auch einige kritische, z.B. über seine frühere Rolle als Unternehmensabwickler (Hajdu-Bet-Skandal) waren dabei. Den größten Applaus bekam Bajnai für die zweckoptimistische Antwort auf die Frage, was er denn in einem Jahr machen werde: "Ich werde Orbán packen helfen...". Bis dahin braucht es nur noch das Zuaberkunststück, Lethargie in Wählerstimmen zu verwandeln, Bajnai sagt: "Wir haben die Hoffnung, dass es gelingt."

Regierung bleibt stoisch gelassen

 

Das Regierungslager scheint, ob des kommenden Bündnisses noch nicht in große Panik zu geraten. Sie begnügt sich weiter damit Bajnai und Mesterházy in einem Atemzug mit Gyurcsány zu nennen, alle als Teil einer "linken Mafia" zu bezeichnen, die Ungarn "den Banken und Interessen der Multis" unterwerfe, während die Orbán-Regierung das Land "aus den Schulden" geführt habe und es eben einfach "besser mache", wie die simple Regierungsparole lautet, die inflationär aus sämtlichen Kadermündern schallt. Ja, Ungarn sei sogar ein Vorbild für ganz Europa. Die Umfragen geben der Regierung scheinbar recht, zumindest solange die schweigenden 50% weiter schweigen.

Mehr zum Thema im
aktuellen Pester Lloyd-Interview mit Gordon Bajnai, darin auch weiterführende Links zur Situation der demokratischen Opposition in Ungarn.

Langer Marsch ins Nichts? Mehr zu Kooperation von MSZP und G2014 und dem “Rest” der Opposition http://www.pesterlloyd.net/html/1318oppallianzfatal.html

red. / ms.

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