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(c) Pester Lloyd / 46 - 2013 POLITIK / WIRTSCHAFT 14.11.2013

 

Verbrechenszentrale Finanzamt?

Ex-Fahnder: Steuerbehörde und Politik in Ungarn decken und organisieren Milliardenbetrug

Dass es auch in Ungarn systematischen Steuerbetrug gibt, überrascht niemanden mehr, auch nicht die Größenordnung von bis zu 6% des BIP - allein bei Schiebereien mit der Mehrwertsteuer. Doch die Enthüllungen, die ein Ex-Steuerfahnder jetzt aus erster Hand vornahm und die auch die Staatsanwaltschaft beschäftigen, schockieren in ihrer Systematik doch. Das Finanzamt fungiert, so der Vorwurf, als Koordinierungsstelle des organsierten Verbrechens von Beamten, Politikern und Unternehmen - auch solchen in ausländischer Hand.

Update 15.11.: Staatsanwaltschaft verschleppt, NAV leugnet, Kronzeuge droht und fürchtet sich

Spalierstehen für die großen Kaliber? Beamte der ungarischen Steuer- und Zollbehörde NAV

Auf jährlich 1.700 Milliarden Forint, umgerechnet rund 5,7 Milliarden Euro, bzw. 5 bis 6% der jährlichen Bruttoinlandsproduktes (umgerechnet auf deutsche Verhältnisse wären das 150 Mrd. EUR!) schätzen ungarisches Finanzamt und EU-Kommission einhellig die Schäden, die der ungarischen Staatskasse allein durch organisierten Mehrwertsteuerbetrug entstehen. Und, um es nochmals klarzustellen: hier geht es nur um die Mehrwertsteuer, also nur ein Segment des Steuerbetruges.

András Horváth war selbst Steuerfahnder, ein mittlerer Beamter des Nationalen Steuer- und Zollamtes, NAV. Er kündigte vor kurzem seinen Job, weil seine Memos und Eingaben an Vorgesetzte über ihm zugetragene Steuervermeidungs und -hinterziehungspraktiken auf taube Ohren stießen und ihm nahegelegt wurde, sich aus solchen Sachen herauszuhalten. Vor einigen Tagen übergab Horváth deshalb direkt der Generalstaatsanwaltschaft einen Stapel Unterlagen, aus denen hervorgehen soll wie "Korruption auf Regierungsebene Mehrwertsteuerbetrug in großem Maßstab" möglich macht.

"Hochkriminelle Netzwerke" aus Politik, Beamten und Wirtschaft

Auf einer Pressekonferenz am Freitag, die gemeinsam mit zwei NGO´s, der "Aktionsgruppe Saubere Luft" und dem Transparenzportal atlatszo.hu, dem ungarischen WikiLeaks, organsiert wurde, schwieg er sich über Firmen- und Personennamen mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen aus, gab aber einige Einblicke in die Systematik der NAV bei der "Verfolgung" von Steuerbetrügern. Wenn seine Angaben in den Unterlagen so konkret sind, wie er andeutet, hat Ungarn eine Art Finanz-Snowden.

Danach sei es im Finanzamt offenbar seit Jahren an der Tagesordnung, "bestimmten großen Unternehmen, die in Ungarn tätig sind" "Steuernachlässe" zu gewähren, die von keinem Gesetz gedeckt sind. Während kleine Unternehmen oder Einzelpersonen mit der vollen Härte der Steuer- und Strafgesetzgebung schon bei kleineren Steuerungenauigkeiten rechnen müssen, werden bestimmte Unternehmen, sogenannte "priorisierte Steuerzahler" von abgeschotteten "Sonderabteilungen" betreut, offiziell und im Einklang mit EU-Regularien, um deren Prüfung nicht beeinflussen lassen zu können. Wie Horváths Erläuterungen nahe legen, handelt es sich jedoch um eine Sonderbehandlung, die in die entgegengesetzte Richtung führt. Jeder, der sich Unregelmäßigkeit bei diesen "geschützten" Unternehmen auch nur nähere, werde sofort zurückgepfiffen, Horváth nennt das "hoch organisierte, kriminelle Netzwerke mit engen Verbindungen zur staatlichen Verwaltung." lies: Regierung.
 

Ein Ex-Beamter packt aus. Weil er bei seinen Vorgesetzten auf taube Ohren stieß, wendet er sich nun an die Öffentlichkeit und Staatsanwaltschaft. András Horváth beim “Oppositionssender” ATV.

Auch ausländische Investoren in Steuerbetrug involviert

Im TV-Sender ATV konkretisierte Horváth seine Vorwürfe dahingehend, dass sowohl viele multinationale Konzerne als auch tausende ungarische Mittelständler in dem Betrugs-System verankert sind. Also auch jene Unternehmen, die mit der Orbán-Regierung reihenweise "strategische Kooperationsvereinbarungen" schließen, sowie solche, die sich zwar durch Sondersteuern der Regierung geschröpft sehen, sich wohl aber einen großen Teil davon hintenrum zurückholen können, um bei Laune und im Land zu bleiben. Horváths Ausführungen lassen
das von der Regierung gerade zitierte Statement des Chefs  der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer "in Ungarn seien alle Bedingungen für Investionen" deutscher Unternehmen gegeben, in einem diffusen Licht erscheinen. Haben es sich die großen Konzerne mit dem streng gepflegten Saubermannimage wieder in den Hinterzimmern gerichtet, so wie es schon die großen Medienkonzerne beim Mediengesetz geschafft haben, die sich dabei genausowenig um die Pressefreiheit kümmerten, wie sich die Multis um die Arbeitsbedingungen, das neue "Untertanen"-Arbeitsrecht oder die Steuergerechtigkeit kümmern?

In Horváths Aktenstapel, der jetzt der Staatsanwaltschaft vorliegt, werde zumindest ein konkreter Fall belegt, wo Ermittlungen gegen ein multinationales Unternehmen durch die Intervention eines Fidesz-Regierungsbeamten eingestellt worden sind. Auch hier wollte Horváth die Namen vorerst nicht nennen.

2010 hat die neue Regierung das System einfach übernommen

Nicht überraschend gab es "schon immer strukturelle und personelle Probleme" beim Finanzamt (das vor 2010 noch vom Zollamt getrennt war), allerdings gab es im Jahre 2007 - also unter der MSZP-SZDSZ-Regierung von Ferenc Gyurcsány - "tiefgreifende Veränderungen bei Mitarbeitern und in der Organisation", so Hórvath. Man habe damals eine ganze Reihe von Abteilungsleitern und Leiter der Ermittlungsbüros gefeuert und mit Personen ersetzt, die "weder ausreichend Fachkenntnisse noch Managementfähigkeiten" hatten, gleichzeitig deckte man die normalen Mitarbeiter mit einem Wust an Bürokratie ein, offenbar um sie zu beschäftigen. Wer Kritik an den Neuerungen und Umstrukturierungen übte, wurde gefeuert oder an unwichtige Positionen degradiert.

Mit dem Regierungswechsel 2010 hätten sich im Amt einige Hoffnungen breit gemacht, doch, so Horváth, die neue Regierung habe das System einfach übernommen, "die geübten Praktiken erfuhren die volle Akzeptanz" der von Fidesz entsandten Beamten.

Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen? Ung. Zollbeamte im Fahndungseinsatz.

Unternehmen werden von Finanzbeamten zum Mitmachen "überredet"

Horváth behauptet, dass die bei anderen Unternehmen von Zeit zu Zeit angesetzten "Tiefenprüfungen" bei dem erlauchten Kreis der "geschützten" Unternehmen unterbunden wurden und die berüchtigten
Mehrwertsteuerkarussells, bei denen durch Export- und Reimportgeschäfte in Verbindung mit etlichen Tarnfirmen und Scheingeschäften Mehrwertsteuerrückzahlungen ergaunert werden, keinesfalls nur ein Phänomen der Wurst-. Fleisch- und Agrarindustrie seien, sondern systematisch - und mit Wissen der Behörden - auch in vielen anderen Bereichen durchgeführt würden. Die hohen Mehrwertsteuersätze in Ungarn (27%) machten den Sektor zudem besonders lohnend und ziehen auch ausländische "Spezialisten" an.

Nicht nur, dass die Steuerbehörde eingehenden Hinweisen nicht nachgehen und zu neugierigen Mitarbeitern vehement auf die Finger klopfen würde, - Unternehmen, die in der gleichen Branche tätig sind und durch ihre Tätigkeit womöglich die Kreise der bereits aktiv im Steuerbetrug tätigen Mitbewerber stören könnten, würden dikret, aber aktiv dazu bewegt, Teil des Systems zu werden. Man könnte sagen, das Finanzamt nimmt die Rolle eines Consigliere, also Ratgebers in dem Mafia-System ein.

Politik schweigt, Finanzamt klagt, Ministerium ist nervös, Medien berichten unterschiedlich bis gar nicht

Sowohl in den Medien, aus dem Finanzamt und auch in hohen Regierungskreisen wurde immer wieder auf die kriminellen Praktiken hingewiesen, doch "die Situation hat sich kein bisschen verbessert", resümiert Horváth. Er habe sich deshalb dafür entschieden, den Dienstweg zu verlassen, "seine persönliche Sicherheit zu riskieren" und "die Sache öffentlich zu machen."

Das Finanzamt NAV erklärte in einer ersten Stellungnahme, dass man die Vorwürfe Horváths "über das Wochenende" eingehend geprüft habe. Es sei nichts dran, die Prüfung "habe alles in Ordnung" befunden, man prüfe nun rechtliche Schritte gegen den Ex-Mitarbeiter. Das Finanzministerum habe eine "sofortige" Stellungnahme von der NAV angefordert, diese konnte - natürlich - belegen, dass man in den letzten Jahren immer mehr Steuersünder auffliegen lassen konnte und
die Erfolgsquoten an allen Ecken und Enden steigen. Interessant ist, dass das Finanz- und Wirtschaftsministerium die Aussagen von Horváth in einer Aussendung als, wörtlich, "unhaltbar und diffamierend" qualifiziert, noch bevor die Staatsanwaltschaft zu einer Einschätzung gekommen ist. Diese Reaktion zeugt von einiger Nervosität und wäre völlig überflüssig, wenn man den Laden tatsächlich "in Ordnung" hätte.

 

Die Politik schweigt sich ansonsten lieber aus, auch die Linke will lieber nicht zu sehr vorpreschen und wird wissen, warum. Die Staatsanwaltschaft prüft. - Horváth wird derzeit durch die Medien gereicht, die privaten Medien. Seinen ersten TV-Auftritt hatte er bezeichnenderweise bei ATV, M1 hatte noch kein Interesse. Auch die privaten, regierungsnahen Medien sind kleinlaut, lediglich Heti Válasz fragt nach, ob ein Fidesz-Politiker verwickelt sein könnte, stützt sich dann aber auf den Widerruf des NAV. Immerhin spricht das Blatt von einem "echten Skandal". Die anderen Regierungsblätter, z.B. Magyar Nemzet und Magyr Hírlap, die News-Sender HírTV, der sonst wirklich alles berichtet, das Öffentlich-Rechtliche schweigen das Thema einfach tot. Nicht eine Notiz gab es dort bisher (Stand Mittwoch, 19:17 Uhr).

Die an der Präsentation beteiligten NGO´s sagten Horváth anwaltliche Unterstützung zu. Doch die dürfte kaum reichen. Denn sollten seine Kentnisse wirklich so konkret sein, ist sein Leben in akuter Gefahr, er wäre ein Fall für ein Zeugenschutzprogramm, wenn, ja wenn man wenigstens der Polizei trauen könnte. Der Skandal wird erst richtig losbrechen, wenn die ersten Namen der beteiligten Beamten, Politiker - und Unternehmen bekannt werden. Das werden sie irgendwann. Doch bis dahin bleibt noch Zeit: um den Reißwolf zu füttern.

red., m.s.

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