THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 14 - 2014   FEUILLETON 03.04.2014

 

Nichts ändert sich...

Interview mit dem Theatermacher Béla Pintér über Ungarn, “ein Land mit frustrierter Seelenverfassung"

Béla Pintér und sein Ensemble sind die Stars der freien Budapester Theaterszene und werden europaweit gefeiert. Gerade erst gastierten sie auf dem Berliner Ungarn-Festival „Leaving is not an option?“ im Theater „Hebbel am Ufer“. In seinem aktuellen Stück „Unsere Geheimnisse“ hält Pintér der Gesellschaft und der politischen Elite Ungarns den Spiegel vor und übt scharfe Kritik an der Kulturpolitik der Orbán-Regierung. Ein Gespräch über Kunst und Politik in Zeiten gesellschaftlicher Frustration. 

Herr Pintér, Viktor Orban und seiner FIDESZ-Partei ist der Wahlsieg am kommenden Sonntag so gut wie sicher. Wie erklären sie sich das?

Die ungarische Demokratie ist sehr schwach. Die Opposition ist tief gespalten, unglaubwürdig und in einem katastrophalen Zustand. Die Unzufriedenheit mit dem FIDESZ kann noch so groß sein: Solange es keine wählbaren Alternativen gibt, kann der demokratische Wettbewerb nicht richtig greifen. Das ist ein großes Problem und es ist zu befürchten, dass sich nichts ändert und alles so bleibt wie es ist.

Der Theatermacher Béla Pintér.
Foto: Dobos Tamás

Wie steht es um die Kunstfreiheit in Ungarn?

Mit der Freiheit gibt es kein Problem. Alle Künstler sind frei, jeder schreibt und bringt auf die Bühne was er will. Es wird nichts verboten oder zensiert. Nur mit der Finanzierung gibt es Schwierigkeiten.

Infwiefern?

Die Unterstützung der freien Szene ist seit 2010 um die Hälfte gekürzt worden. Mittel werden zugesagt, aber dann nicht ausgezahlt. Einfach so. Weil sie es können. (Anm. d. Red.: Die Regierung) Irgendwann bekommt man das Geld, aber dann eben auch mal ein Jahr später. Man muss Schulden aufnehmen oder kann gar nicht spielen. Viele mussten wegen solcher Schikanen den Spielbetrieb einstellen.

In ihrem aktuellen Stück „Titkaink“ („Unsere Geheimnisse“) thematisieren sie die „besúgó“ (Einflüsterer), also die Tätigkeiten von Stasi-Spitzeln im Ungarn der 80er Jahre. Wie steht es um die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit und die Veröffentlichung der Stasi-Akten in Ungarn?

In Ungarn wurde bisher nur ein sehr kleiner Teil dieser Unterlagen veröffentlicht. Ich bin zwar kein Experte, aber in Deutschland wurde meines Wissens nach viel transparenter vorgegangen und alle Akten und Dokumente veröffentlicht. Das ist in Ungarn nie passiert. Wir wissen immer noch nicht, wer früher die Spitzel waren.

Woran liegt das?

Weder die ungarische Linke, als sie an der Macht war, noch die aktuelle rechte Regierung haben diese Listen veröffentlicht. Wahrscheinlich weil beide Seiten etwas zu verheimlichen haben. Es ist also eine ungeklärte Situation in der ungarischen Gesellschaft. Deshalb interessiert mich das Thema.

Das Stück trägt auch sehr starke aktuelle politische Bezüge, besonders die Schlussszene ist außerordentlich explizit. Als Zuschauer braucht man wenig Phantasie, um heutige Staatssekretäre oder Minister zu erkennen, die im Stück in den 80er Jahren noch als Mitläufer oder aktive Agenten dargestellt werden...

Ja, es ist allgemein bekannt, dass in der aktuellen Regierung viele ehemalige Mitglieder und sogar Sekretäre der kommunistischen Partei sitzen. Das ist ein sehr weit verbreitetes Phänomen innerhalb der politischen Elite. Ich will natürlich nicht die Politiker der heutigen Sozialisten entlasten, die waren ja schließlich fast alle noch KP-Mitglieder Aber im FIDESZ gibt es eben auch viele von diesen ehemaligen Kadern. Das ist meiner Meinung nach eine sehr antipathische Situation.

In der Schlussszene wird außerdem auch eine unverblümte Kritik an der aktuellen Kulturpolitik der Orbán-Regierung deutlich. Brechen sie damit bewusst mit der Tradition des ungarischen Theaters, Kritik an aktuellen politischen Erscheinungen eher zwischen den Zeilen zu transportieren oder waren sie schon immer so direkt?

Nein, früher habe ich in solchen Fragen noch etwas feiner formuliert. Natürlich habe ich schon immer meine Meinung zu aktuellen politischen Entwicklungen in unseren Stücken kundgetan, aber ich habe nicht so spitz formuliert wie heute. Die aktuelle Kulturkonzeption der Regierung geißelt uns sehr hart. Wenn man als Theatermacher in so einer Situation schweigt und dem Nichts entgegensetzt… (überlegt kurz) Ich hätte es vor mir selbst als Feigheit empfunden, wenn ich nicht darauf reagiert hätte.

Wie waren die Reaktionen auf das Stück?

Positiv. Ich bin stolz darauf, dass unser Publikum sich aus beiden politischen Lagern der Gesellschaft zusammensetzt. Egal ob links oder rechts, die Menschen schätzen unser Theater, unsere Botschaften kommen an. Sehen sie, auch innerhalb der Rechten gibt es ernsthaften Streit darüber, warum man die Stasi-Akten nicht veröffentlicht. Jeder vernünftige Mensch erkennt diese Probleme.

Trotzdem inszeniert sich Orbán als Antikommunist und erreicht mit seiner nationalistischen Ideologie immer noch viele Wähler. Auch die rechtsextreme Jobbik ist mittlerweile hoffähig. Wie erklären sie sich das?

Ungarn ist ein kleines Land mit einer frustrierten Seelenverfassung. Während der Sowjetherrschaft sind wir in einer Sackgasse gelandet. Es gab einen Entwicklungsstopp, sowohl wirtschaftlich als auch mental. Nach dem Systemwechsel 1989 ist der von vielen erhoffte Sprung – raus aus diesem Elend, rein in den Wohlstand - nicht passiert. Deshalb gibt es so eine verbitterte Frustration und diesen fruchtbaren Boden für rechtsextreme Parteien.

Vereinfacht: Wenn dann jemand diesen verbitterten Menschen erzählt, dass es ihnen wegen den Juden und den Zigeunern schlecht geht, dann glauben die das irgendwann. Diese Kräfte ziehen sehr einfach politischen Nutzen aus dieser Situation. Ich kann mit Orbáns Nationalismus und seinem ganzen Gerede über die „guten ungarischen Menschen“ nichts anfangen. Ich hatte nie diese Probleme und Selbstzweifel. Aber Populismus und Demagogie funktionieren und sind bei uns heute lebensfähig. Das ist eine sehr traurige Situation.

Wie sehen sie ihre gesellschaftliche Verantwortung als Künstler, zur Lösung dieser Probleme beizutragen?

Ich konzentriere mich auf das Gebiet, das ich am besten beherrsche: Das Theater. Ich will die Situation möglichst genau und objektiv beschreiben und die Probleme und Schmerzen, die in der Gesellschaft vorherrschen, mutig ansprechen und an die Oberfläche bringen. Normalerweise versuchen wir anhand individueller Geschichten universelle Themen aufzuarbeiten. Aber wenn es sein muss -und ich glaube gegenwärtig ist dies der Fall - dann muss man diese Probleme, Schmerzen, Dummheiten und Verkrampfungen in der Gesellschaft auch auf die Bühne bringen.

Sujet des jüngsten Ungarn-Festivals in Berlin am “Hebbel am Ufer”.

Sie werden viel auf ausländische Theaterfestivals eingeladen. Gerade erst spielten sie im Berliner „Hebbel am Ufer“, dass aktuellen künstlerischen Positionen aus Ungarn ein einwöchiges Festival widmete. Was halten Sie davon, wie hier über Ungarn nachgedacht und ungarische Themen auf die Agenda gesetzt werden?

Ich glaube, dass man sich in Deutschland grundsätzlich für Ungarn und die dortigen Ereignissen interessiert, nicht zuletzt wegen der Rolle Ungarns beim Öffnen des eisernen Vorhanges. Dafür sind die Deutschen uns dankbar. In Deutschland ist die politische Situation jedoch ausbalancierter und die Demokratie funktioniert. Die Menschen hier nehmen die Entwicklungen der letzten vier Jahre deshalb mit Interesse und Empörung wahr. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil, ich halte es für ausgesprochen gut!

Die rechtsgerichteten Medien kritisieren oft, dass Ungarn auf solchen Festivals Schlecht geredet und diffamiert wird. Das ist jedoch ein großer Denkfehler. Es geht nicht darum, Ungarn schlecht zu machen, sondern darum, Kritik an der aktuellen Regierung zu üben. Doch das ist nicht dasselbe.

Viele ihrer Mitbürger haben in den letzten Jahren das Land verlassen. Auch auf dem Festival wimmelte es nur so von jungen Ungarn, die in den letzten Jahren nach Berlin gezogen sind. Wie beurteilen sie diese Tendenz? Ist die Frage nach dem „Gehen oder Bleiben?“ wieder aktuell?

Es gab natürlich schon immer Auswanderung, gerade jetzt in der EU ist das ganz normal. Aber was mich traurig macht ist, dass gut ausgebildete, engagierte junge Leute gezwungen sind, in Deutschland Teller abzuwaschen, damit sie überhaupt ein einigermaßen angemessenes Leben führen können. Das macht mich sehr traurig.

Haben Sie auch schon darüber nachgedacht, Ungarn den Rücken zu kehren?

Nein, ich bleibe auf jeden Fall. Ich schreibe auf Ungarisch, über ungarische Themen, das ist meine Heimat, das ist meine Welt.

Das Gespräch führte Christian-Zsolt Varga

Über aktuelle Produktionen der Béla Pintér és Társulata, Spielpläne, Ticketinfos können sie auf der Webeite der Truppe auch auf Englisch informieren: http://www.pbest.hu/en
 

 

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