THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 27 - 2014 POLITIK 30.06.2014

 

Sein Kampf: Wie Orbán Ungarn in Europa immer mehr isoliert

Ungarns Ministerpräsident Orbán hält seine Ablehnung von Juncker als EU-Kommissionspräsidenten für ein "starkes Signal", ein Zeichen des Widerstandes, ja ein Husarenstück gegen eine anmaßende europäische Bürokratie. Mit seinem persönlichen Racheakt an den Luxemburgern, der vor allem der Stärkung seiner inneren Machtposition dient und mit den aberwitzigsten Lügen und Verdrehungen paraphrasiert wird, drängt er sein Land immer weiter an den Rand Europas.

Der Premier einer Inselrepublik und David Cameron beim Aussenden “starker Signale”

Das ungarische Demokratieverständnis ist mittlerweile auf einem Level angekommen, das nur noch Vergleichen mit exotischen "Volksrepubliken", Wolfsrudeln oder der FIFA standhält. Schema: Einer gibt die Linie vor, der Rest heult mit. Daher muss es für jede Entscheidung des großen Vorsitzenden, sei sie noch so absurd, eine schlüssige Begründung geben, eingepackt in eine möglichst wolkige Sprachregelung, die dann bis zur Erschöpfung wiedergekäut wird. Der jüngste Schlagabtausch mit der EU lässt das Ausmaß des Orwellschens Doppelsprechs in Orbáns Rhetorik gut erkennen.

Für die Umleitung von EU-Geldern gibt es zwei eigene Minister

Bei Orbáns Zwergenaufstand gegen die dem Willen des - teilnehmenden - EU-Wahlvolkes entsprechende Nominierung Jean Claude Junckers zum EU-Kommissionspräsidenten, die zugleich den kleinsten gemeinsamen Nenner der großen Machtblöcke im Parlament darstellt, versuchte sich Orbán einmal mehr als Ungarns Freiheitskämpfer Nr. 1 zu etablieren.

Nach innen, also gegenüber seiner Anhängerschaft muss er dazu nicht viel erklären. Mit der Titulierung Brüssels als "das neue Moskau" vor vier Jahren, war bereits alles gesagt. Der Trend, nationales Versagen auf die "Brüsseler Bürokraten" zu schieben, wurde in Ungarn auf die Spitze getrieben. Seitdem ist die Vorgabe klar: so viel Geld wie möglich nehmen, so wenig Transparenz und Kontrolle wie möglich zulassen. Für die konzertierte Ausbeutung und Umleitung der Brüsseler Quellen hat man einen eigenen Minister geschaffen, abgesichert durch Orbáns Kronprinzen im Amt des Ministerpräsidenten, auch der ein Minister. Das irritierte Brüssel nur kurz, das Geld fließt weiter. Norwegen - nicht in der EU - war da viel konsequenter.

Geld ohne Gegenleistung. Das ist nicht nur der trickreiche Versuch, die lahme Brüsseler Monitoring-Maschine auszutricksen, sondern das ist das System Orbán, die sich zu Herren ihres Landes, samt Ressourcen und Volk erkoren: ganz demokratisch, versteht sich und basierend auf dem Versagen "sozialistischer" Vorgänger und falschen Priroritäten in der EU. Dummerweise sind aber auch Ungarns EU-"Honorare", immerhin eines der fünf größten Netto-Empfängerländer, an Regeln gebunden und seien es auch vor allem technische, kaufmännische, also die Regeln des EU-Binnenmarktes, auf die Brüssel seit je penibler achtet als auf Marginalien wie Grund- und Bürgerrechte.

Der Juncker aus Luxemburg und der Junker von Felcsút

Juncker ist für Europa kein Hauptgewinn, aber immerhin ein Europäer

Nun können progressive Europäer von Juncker denken und halten was sie wollen, natürlich ist er kein Umstürzler des Kapitalismus`, natürlich wird er seinen Job als Vollstrecker der konservativen Machstützen der herrschenden Klasse erfüllen, um es einmal marxistisch zu vokabularisieren. Aber: Juncker ist durch und durch Europäer und sogar soweit Demokrat, dass ihm klar ist, dass eine Zuspitzung der sozialen Nöte und gesellschaftlichen Schieflagen, wie sie in Südeuropa besonders krass, da bar einer stabilisierenden Wohlstandsreserve, auftraten, nicht nur schlecht für die Europäer ist, sondern auch für jene, die an ihnen verdienen.

 

Juncker also wird ausbalancieren, was in Schieflage geraten ist, er wird umlenken, weil er muss. Er muss, weil er Europa will. Was wiederum nur funktionieren kann, wenn Banken- und Fiskalkonzepte harmonisiert und zentral kontrolliert werden und letztlich die Eckpunkte der Wirtschaftspolitik abgestimmt, notfalls überstimmt werden können. Es geht um Kompetenzen, um Macht und um Prinzipien. Das machte er auch Orbán klar, im eigenen Namen, durch Kommissarin Reding und Außenminister Asselborn, das luxemburgische Trio, das in Ungarn seit den Mediengesetzen und dem Verfassungsputsch als infernal, ja feindlich wahrgenommen wurde und nun abgestraft gehörte.

Eine weitere Abgabe von Kompetenzen an Brüssel, im gemeinsamen Interesse? Gar die Einhaltung schon bestehender Regeln? Das bedeutet in der Konsequenz, dass man Orbán und seinen Räubern noch tiefer in die Bücher schauen wird, seine vorgekaukelte Sozialpolitik, die mit haarsträubenden Aktionen hingebogenen Haushaltsdefizitzahlen, der frisierte, hart an der Grenze zur Zwangsarbeit schrammende Arbeitsmarkt, seine ständisch-asoziale Einkommenssteuer, seine ad-hoc-Strafsteuern, die kriminelle
Re-Privatisierung der Genossenschaftsbanken, die vom Finanzamt gestützten Steuerbetrügereien mit astronomischen Mehrwertsteuersätzen auf Lebensmitteln, die Eingriffe in Vertrags- und Eigentumsrechte und nicht zuletzt der Missbrauch der EU-Gelder wird so irgendwann auf- und ihm um die Ohren fliegen.

Genau dann nämlich, wenn er sich nicht nur formal sondern real an die gleichen Regeln halten muss, wie alle anderen EU-Mitglieder, zumindest also
eine seriöse Finanzpolitik gestalten muss. Eine solidarische und abgestimmte - also bis zu einem gewissen Maße - zentralisierte Steuerpolitik bedeutet für Ungarn nicht nur der Wegfall eines der wenigen verbliebenen Wettbewerbsvorteile des Landes gegenüber Nachbarn, sondern auch der Wegfall einer bedeutenden Drehschraube für die Innenpolitik. Sei es für die Belohnung von Günstlingen, die Bedienung des Wahlvolkes, die Abstrafung Widerspenstiger oder das Sturmfreifschießen von Begehrenswertem.

100 Jahre nach Kriegsbeginn: wieder muss "die Nation" herhalten

Mehr Macht für Brüssel im Interesse aller Europäer zu fordern, bedeutet in Orbáns Kampfsprache einen "Angriff auf ungarische Familien." Überhaupt sind internationale Verträge und Vereinbarungen für das Fidesz-Kartell schlicht unnatürliche Hürden. Und so verbeißen sich Orbán und sein Chor der Herrenmenschen immer mehr in die Legende von dem "Europa der Nationen". Die Nationen, denen "Europa Respekt schuldet" und deren "Schwächung" durch die "Anmaßung weiterer Kompetenzen" nicht nur eine "betrügerisch erschlichene" Änderung der Europäischen Verträge wäre, sondern sogar ein "Angriff auf die Völker".

Denn ohne Nation, so die reine Lehre, ohne die Nation, möglichst eine christliche, die sich "selbst reproduziert, weil sie sonst untergeht", also bitte auch noch möglichst reinrassig zu sein hat, ohne die gibt es keine Zukunft. Diese zur Politik gewordene Rhetorik, die von den verwesenden "gottbegndaten" Familienmonarchien installierte Legende "Nation", hetzte die Völker gegeneinander, statt gegen ihre Peiniger und führte vor genau 100 Jahren zum Ersten Weltkrieg. Es ist eine Schande der Menschheit, dass sie immer noch funktioniert. Auch Orbán bezieht sein Sendungsbewutsein von ganz Oben. Er sprach bereits öffentlich von der "Vorsehung", vom "heiligen Blutbund" etc., weshalb jene, die sich über unsere Überschrift echauffieren wollten, langsam wieder abregen dürfen.

Was Orbán sonst so - offiziell - von Europa hält,
erklärte er kürzlich aufschlussreich in Berlin:
Ich, Europas Mitte...

Orbán schimpft gegen neue Regeln, hält sich aber nicht mal an die alten

"Es ist eine Frage des Prinzips" sprach Orbán, nachdem er, mit dem britischen Premier Cameron seine Verhaltensauffälligkeiten in Brüssel demonstrierte. Ja, er hätte "sogar allein gegen Juncker gestimmt", falls Cameron nicht mitgemacht hätte. Die anderen Skeptiker, die Schweden z.B., habe "Brüssel mit Gefälligkeiten gekauft", er aber lasse sich die "Ausdehnung der Grenzen des EU-Vertrages" nicht einfach so abkaufen. Orbán lehnt sich damit einmal mehr weit aus dem Fenster, kann aber auf die Unwissenheit und Informationsfaulheit seiner Anhängerschaft rechnen. Denn es ist sein Land, dass derzeit massiv mit den Regeln des bestehenden Vertrages kollidiert und sogar den Anlass dafür gab, dass man über ein Monitoring- und (!) Sanktionierungssystem für Verstöße gegen Artikel 2 des Lissabon-Vertrages,
eine “Lex hungárica” nachdenkt. Eestmalig in der Geschichte der Europäischen Union! Dieser Artikel regelt die Grundrechte, es gibt kaum eines darin, dass durch Orbáns Politik nicht bereits angegriffen, relativiert, ausgehöhlt worden wäre.

 

Orbán aber fordert einen "transparenten, demokratischen, gut vorbereiteten und abwägenden Weg", wenn man schon neue Regeln aufstellen will, lehnt aber die "über die vergangenen fünf Jahre wiederholt gemachten Versuche ab", mit denen "die EU die Kontrolle über Dinge erlangen will, die zweifelsfrei in die nationale Zuständigkeit fallen". Konkret nennt Orbán hier: seine 1. die Energiepreissenkungen, 2. die Bankensteuer, 3. den "Schutz von Agrarland" und "sogar" den 4. "steuerbefreiten Pálinka" (für Private). Bei all den damit verbundenen Verfahren jedoch monierte die EU-Kommission nur Regularien, die seit EU-Beitritt der Ungarn bestehen. Orbán lügt also, wenn er behauptet, dass hier eine Kompetenzausweitung die Ursache für die Friktionen ist. Er lügt weiter, wenn er behauptet, dass die EU das nichts anginge und er lügt, zum dritten Mal, wenn er sagt, die von ihm genannten Maßnahmen seien zum Wohle seines Volkes: 1. ist reiner Wahlkampf mit einem teuren Bumerangeffekt, 2. strukturbefreite Budgetsanierung und Voraussetzung für die Übernahme des Finanzsystems in parteinahe Kreise, 3. ungenierte Landnahme für Fidesz-Günstlinge, 4. Fusel fürs Volk. (Weitere Details über die Stichwortsuche)

Zusammengefasst: Orbán reguliert seinen “ungarischen Binnenmarkt” so stark wie es seit Kádár nicht mehr vorkam, er ist im Kontrollwahn, an der Kippe zur Staatswirtschaft,
in der Chávez-Falle. Eine stärkere Regulierung seitens der EU - noch dazu nach solidarischen Prinzipien - passt ihm daher natürlich nicht ins Konzept. Im Orbán-Sprech heißt das dann: "Regulierung darf kein Selbstzweck sein." Treffender und freudscher kann man es nicht sagen.

Die nichtregierungsnahen Medien in Ungarn sind sich einig, Orbán verliert diesen Kampf gegen die EU, weil er sich für Cameron hält und sich maßlos selbst überschätzt. Orbán isolierte sein Land seit der Abstimmung im EU-Rat weiter. Der EU ohnehin, aber auch den EVP-geführten nationalen Regierungen ist klar, dass Ungarn kein Partner mehr in europäischen Fragen ist, sondern ein Außenseiter. Ein Großbritannien, bloß ohne wirtschaftliche Relevanz und ein Kostenfaktor noch dazu. Ein Schmarotzer also. Dass Ungarn für den Kampf Orbáns, diesen antieuropäischen Isolationsimus einen Preis zahlen wird, steht schon heute fest. Doch wer ihn bezahlen muss, leider auch.

m.s.

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