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(c) Pester Lloyd / 44 - 2014   POLITIK   28.10.2014

 

Bürgerbewegung oder Putschversuch? Die Internetsteuer bringt Ungarn auf Trab

Fidesz-Funktionäre und -Medien haben Anfang der Woche konzertiert versucht, die anschwellende Bürgerbewegung gegen die Internetsteuer mit der üblichen Volksfeind-Demagogie zu kriminalisieren und diffamiert sie als (US)-fremdgesteuert. Dennoch sah sich die Orbán-Partei genötigt nachzubessern, ein Novum und ein Kratzer an Orbáns Lack, der Konsequenzen haben wird. Den Protestlern geht es um mehr als nur noch eine weitere Steuer. Am Dienstagabend läuft ihr Ultimatum ab. Dass Soldaten und Polizisten deutlich mehr Geld bekommen sollen, hat mit all dem nichts zu tun. Oder doch? Zum Bericht.

Ticker zur Demo am Dienstag, 28.10.

Kommentar: Das europäische Ungarn meldet sich zurück

20:50 Uhr: Für eine gerade eine Woche alte Bewegung, ist die Mobilisierung heute beeindruckend gewesen. Vereinnahmungen von Parteien (die DK hat es natürlich probiert) wurden unterbunden. Es wurde auch klar, dass die Proteste weit über die Internetsteuer hinausreichen. Forderungen nach “Demokratie” und Ablösung Orbáns waren unüberhörbar. Die Frage ist, wie sich die Bewegung entwickelt. Orbán kann praktisch nicht anders, als die Steuer durchzuprügeln, denn sonst würde er sich auf das fehlbare Maß eines Normalsterblichen begeben und sowohl dem Volk Tür und Tor für die Mitbestimmung öffnen als auch nach innen Schwäche zeigen. Er muss hier ein weiteres Exempel statuieren, Härte demonstrieren. Das kommt der Protestbewegung entgegen, hat aber auch Eskalationspotential.

Budapest gegen 19.40 Uhr

20:30 Uhr: Die Demo in Budapest neigt sich, mit dem Absingen der Nationalhymne dem Ende zu, die erfrischende Aufbruchstimmung einer parteiunabhängigen und recht jungen Bürgerbewegung ist spürbar. Die nächste Demo ist für den 17. November ausgerufen, dem Tag, an dem im Parlament über die Steuergesetze 2015 abgestimmt wird. Vorherige Aktionen sind jedoch ausdrücklich nicht ausgeschlossen.

19:54 Uhr: Einen guten Eindruck über die Menge gibt dieses 10-Sekunden-Schwenkvideo:

 

19:50 Uhr: ”Viktator”, “Orbán, hau ab!” und Hochrufe auf Europa und die Demokratie wechseln sich ab...

19:44 Uhr: Die Menge in Budapest hat mittlerweile die Elisabeth-Brücke erreicht. Während der Beginn des Zuges inmitten der Elisabetbrücke ist, befindet sich das Ende immer noch etwa am Astoria. Index.hu schätzt die Zahl vorsichtig auf 30.000 bis 40.000...

Demo in Debrecen

Demo in Pécs

Demo in Szeged.

Demo in Györ.

Demo in Nyíregyháza.

Ca. 18.20 Uhr Budapest. Fotos: MTI

18:47 Uhr: Die Menge setzt sich in Bewegung durch die Innenstadt Richtung Donaubrücken (Route siehe unten). Ersten Schätzungen zufolge könnten es heute mehr Menschen sein als am Sonntag. Bislang alles friedlich, auf dem Weg liegen keine Parteizentralen, am Parlament schrammt man knapp vorbei.

18:43 Uhr: Budapest, József Nádor Platz, kurz vor 18 Uhr am Dienstag

18:39 Uhr: Unter den Rednern ist u.a. ein bekannter IT-Gründer sowie eine Sprecherin der “Humanistischen Plattform”. Sie prangern die Sinnlosigkeit der Steuer an, vermerken dabei aber immer wieder, dass diese Steuer nur ein Symptom für eine generell am Volk und dessen Bedürfnissen vorbeiführenden Politik ist. “Würde Orbán die `nationale Konsultation` ernst nehmen, wäre ihm diese Steuer nicht passiert...”.

18:38 Uhr: Weitere Protesaktionen finden heute in Debrecen, Kecskemét, Kiskunfélegyháza, Miskolc, Nyíregyháza, Pécs, Szeged und Vác statt.

18:34 Uhr: Teilnehmerzahlen sind zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu schätzen, der József Nádor Platz ist aber wieder randvoll.

18:27 Uhr: Die EU-Kommission hat heute erklärt, dass die in Ungarn geplante Internetsteuer eine weitere “bedenkliche Maßnahme” der Orbán-Regierung sei und die Kommission diese “nicht akzeptieren werde”, dass mit Hilfe von Steuern Menschen der Zugang zum Internet erschwert werde, zumal Ungarn gerade auf diesem Gebiet, das “dazu beiträgt, dass Europa nicht in die Rezession rutscht”, noch enormen Nachholebedarf habe. Die Regierung teilte mit, dass es sich gar nicht um eine neue Steuer handelt, sondern nur eine Modifikation der Telefonsteuer und die Einnahmen (ca. 150 Mio. EUR im Jahr) für den Breitbandausbau benutzt werden sollen.

17:48 Uhr: Die Tour geht heute vom József Nádor tér zum Erzsébet tér, am Hotel Astoria vorbei zur Erzsébet Brücke und Lánchíd (Kettenbrücke) utca

17:42 Uhr: Die Facebookseite “100.000 gegen die Internetsteuer” ist bis jetzt auf 224.800 angeschwollen. Zur heutigen Demo haben rund 17.000 über Facebook zugesagt, nach den Erfahrungen vom Sonntag, ist also mit rund 4.000 bis 5.000 zu rechnen. Die “MSZP-Provokateure” natürlich nicht mitgerechnet...
 

 

Zehntausend waren am Sonntag auf dem Heldenplatz

Erstbericht: Noch am Sonntagabend (Unser Demobericht) hatte die Polizei sechs Personen im Zusammenhang mit den Sachbeschädigungen an der Fidesz-Parteizentrale verhaftet, nachdem sie unmittelbar während der Übergriffe zwar anwesend war, aber nur präventiv eingriff. Fidesz-Fraktionschef Rogán gab sich indes jede Mühe, den Widerstand gegen die Internetsteuer zu kriminalisieren und wollte von der These der Veranstalter, dass es sich um einige "Provokateure" unbekannter Herkunft handelte, nichts wissen.

Im Fernsehen sprach er von "gezielten politischen Aktivisten", von denen die Linksparteien in den letzten Jahren immer wieder Gebrauch machten, so bereits beim "Sturm" auf die Parteizentrale vor einem Jahr, aber auch bei einer Aktion am Präsidentenpalast. Rogán brachte die Studentenbewegung HaHa ins Spiel, die wiederum vom Ausland beeinflusst und finanziert sei. Die Aktion sei im Übrigen "lange geplant gewesen". Für beide Vorwürfe lieferte er keine Beweise, nur das Motiv drei verlorener Wahlen der Opposition in diesem Jahr, die offenbar zu so viel Frust führten, dass die "Dratzieher sogar bereit sind, den Weg des Rechtes zu verlassen" und Unruhe zu stiften. Er will sogar das Parlamentskomitee für Nationale Sicherheit mit den Vorfällen beschäftigen.

Regierungs- und Parteimedien zeigen aber mit Vorliebe
die Bilder von einer Handvoll Randalierer an der FIDESZ-Parteizentrale

Noch weiter ging die Pro-Regierungs-Organisation CÖF, deren Co-Chef András Bencsik, Chefredakteur von Orbáns Haus- und Hofblättern "Magyar Demokrata" und "Magyar Krónika" in der Anwesenheit des US-Gesandten Goodfriend bei der Demo am Sonntag einen Hinweis darauf erkennen will, dass die "USA signalisiert", dass sie in Ungarn für ihre Ziele sogar Blutvergießen in Kauf nehmen würde. Die USA seien nicht unser Freund, ein Putschversuch sei im Gange (2012 wurde das Gleiche bereits der EU vorgeworfen), die US-Einreiseverbote seien nur ein Indiz dafür. Der Weltpolizist könne nicht hinnehmen, dass Ungarn sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt und seine Zukunft im Osten sucht. Es sei mal wieder ein "Friedensmarsch" fällig, damit die "Liebe und Geschlossenheit" des Volkes den zerstörerischen Bestrebungen der westlichen "Anti-Ungarn-Front" etwas entgegenstelle.

Mittelfinger für den Chefreporter des regierungsnahen, zuweilen rechtsextremen HírTV. Die Leute haben die Lügen satt. HírTV: Angriff auf die Pressefreiheit...

Einen konkreten Termin nannte Bencsik dafür noch nicht, wie zu hören, wartet die regierungsunabhängige Organisation noch auf die entsprechenden Vorgaben aus der Fidesz-Parteizentrale, die den jetzigen Zeitpunkt für noch nicht geeignet hält. Der Chefredakteur von "Magyar Nemzet", einem sich seriös gebenden regierungsnahen Blatt, brillierte schon davor mit der Aussage, dass an den Vorwürfen der USA, Ungarn sei korrupt, schon etwas dran sein könnte. Aber auch das "ist dann unsere Angelegenheit" und für die Amis nur ein Vorwand, das Land zu attackieren.

 

Den Höhepunkt der Debatte lieferte jedoch zweifellos Parlamentspräsident Kövér, der dem Land empfahl "langsam die Gemeinschaft (EU) zu verlassen..." Hier mehr dazu. Das Staatsfernsehen sendet fortlaufend Berichte über den "Vandalismus" vom Sonntag, Orbáns Freund, Fidesz-Mitgründer, CÖF-Co-Chef und führender Hassprediger, Zsolt Bayer, hetzt in der “Magyar Hírlap”, einem rechtsradikalen Oligarchenblatt, gegen die Demonstranten und gegen Medien ("Idioten"), die nicht im Gleichschritt der Regierungsfreunde marschieren. Der Heldenplatz sei nicht der Majdan, richtet er speziell dem US-Gesandten Goodfriend aus, über den er sich gar nicht mehr einkriegen kann. Natürlich ist Budapest nicht Kiew, Orbán will ja auch nicht Janukowitsch sein, sondern ....... (nach Belieben auszufüllen).

Fidesz-Fraktionschef Rogán verkündete am Montag den "Kompromiss", den die Regierung hinsichtlich der Internetsteuer unter sich ausgemacht hatte. Laut einem auf der Parlamentswebseite vorliegenden Gesetzesänderungsantrag soll die Deckelung für Privatanschlüsse bei 700 Forint (2,30 EUR) pro Monat und Anschluss, bei Unternehmen bei 5.000 Forint (ca. 14,50 EUR) liegen. Möglicherweise aber wird es sich dabei nur um den Betrag handeln, den die Internet Provider ihren Kunden auf der Rechnung ausweisen dürfen, während sie selbst doch die ursprünglich anvisierten 150 Forint (knapp 50 Cent) pro GB Datenverkehr abführen müssen. Wie bei Telefon- und Transaktionssteuer kurz nach Einführung jeweils geschehen, sind zudem mit einem Federstrich Erhöhungen möglich, ist die Steuer grundsätzlich erstmal etabliert.

Begründet wird die Maßnahme wieder mit angeblichen "Extraprofiten" (angeblich 75 Mrd. HUF im Vorjahr), die den Telekoms nicht zustünden, zumal ein Großteil der Kunden in den letzten Jahren über Internetflatrates auf Voice over IP (also Internettelefonie) umgestiegen sei und so die pro Minute bzw. SMS eingeführte Telefonsteuer nicht mehr greife - zum Schaden des Staates. Zwar soll verankert werden, dass die Zusatzkosten für die Provider nicht bei den Kunden landen, doch ginge das letztlich nur, wenn man gesetzliche Preisvorgaben wie zuletzt bei den Energieversorgern vornehme. Es wird gemutmaßt, dass die Internetsteuer nur der Auftakt für ein ähnliches Szenario sein könnte, an dessen Ende die Verstaatlichung der Branche stehen könnte. Es wäre das Ende jeder Privatsphäre.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte... Foto: Győző Galcsik, www.nullker.hu

Die Widerstandsbewegung gegen die Internetsteuer lehnt den "Kompromiss" weiterhin ab und verweist auf ein Grundreceht zum Zugang zu Informationen sowie die steuerliche Mehrfachbelastung Dank des Orbánschen Paradigmas von der Besteuerung des Konsums zu Gunsten einer geringeren Belastung der Arbeit. (Im Falle der Telefonrechnung zahlt der Kunde heute - aus seinem versteuerten Einkommen: den Nettotarif des Anbieters, in dem bereits die Telefonsteuer und die Erschließungssteuer sowie die Branchensondersteuer eingepreist sind, dazu kommen: 27% Mehrwertsteuer sowie beim Bezahlen noch eine Finanztransaktionssteuer. Die Internetsteuer wäre also die siebente Steuer für eine einzige Leistung).

Es gilt das Ultimatum für den heutigen Dienstag 18 Uhr. Wird die Steuer bis dahin nicht gänzlich gekippt, stehen weitere Proteste an. Zunächst wird man sich wieder vor dem Wirtschaftsministerium am József Nádor Platz treffen.
Hier der Aufruf. Auf der Facebook-Seite der Protestler haben sich mittlerweile über 221.000 Menschen zusammengefunden, das sind bereits fast 5% der wahlberechtigten Bevölkerung. Die Internetsteuer wird dort zunehmend als Spitze eines Eisberges von Belastungen und verfehlter Wirtschaftspolitik präsentiert, die ihre Wurzel in der Korruptheit der Machteliten hat.

Die Regierung setzt derweil ihre Prioritäten und kauft sich für die Zukunft womöglich noch wichtig werdende Loyalitäten. Gestern kündigte Verteidigungsminister Csaba Hende an, dass die Einkommen der Sicherheitsorgane "um 50% steigen" sollen. Das Geld dafür hat der Staat nicht. Internetsteuer und weitere bevorstehende soziale Sparmaßnahmen müssen das finanzieren. So kann man die Polizei vielleicht auch motivieren?

Allerdings klingt die Erhöhung gewaltiger als sie ist, denn Soldaten, Geheimdienstler, Polizisten und Feuerwehrleute müssen sich noch gedulden. Der erste Gehaltssprung ist für Juli 2015 mit 30% angesetzt, womit man im Schnitt zumindest den unteren Rand des heutigen Median-Einkommens der Gesamtwirtschaft erreichen wird. Danach gibt es jährlich 5% drauf, also nicht viel mehr als die reguläre Inflation (die jetzige 0-Inflation ist durch die Energie- und Kommunalpreisdiktate sowie die mangelnde Kaufkraft bedingt und spiegelt nicht die tatsächliche Preisentwicklung für Lebensnotwendiges.) Ob das reicht, um die Exekutive gegen bürgerlichen Widerstand dauerhaft bei der Stange zu halten, wird sich erst noch zeigen.

Orbán hatte angekündigt, den Wehretat binnen weniger Jahre von 0,75% auf 2% des BIP fast zu verdreifachen. Er machte dabei NATO-Bündnisabsprachen und die Lage in der Ukraine, immerhin an Ungarn grenzend, geltend. Dass die Gelder nicht nur zu einer Stärkung der Armee, sondern des Sicherheitsapparates insgesamt führen und dabei über zahlreiche Ausschreibungen, die "aus Gründen der nationalen Sicherheit" nicht öffentlich gemacht werden, viel, sehr viel Geld fließen wird, sind natürlich nur beiläufige Nebeneffekte...

red.

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