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(c) Pester Lloyd / 45 - 2014   WIRTSCHAFT   03.11.2014

 

Opfergabe: Ungarn zahlen "freiwillig" Bakschisch an Ärzte

Ab 2015 soll das öffentliche vom privaten Gesundheitswesen in Ungarn strikt getrennt arbeiten. Das ist zumindest die Vorstellung der Regierungspartei. Die Patienten können über die Realitätsferne ihrer Politiker nur traurig lächeln, sie trauen längst keiner "Reform" mehr und richten sich in fatalistischem Pragmatismus ein. Das berüchtigte "Handgeld" zahlen sie sogar "freiwillig", um anständig behandelt zu werden. UPDATE: Budgetpläne für das Gesundheitswesen 2015

Ob Hunderttausende Forint für die Chefarzt-Überweisung in eine Spezialklinik, das Vorrutschen auf der Warteliste für ein künstliches Hüftgelenk oder nur der 10.000er für zwischendurch, für einen Hausbesuch beim Neugeborenen oder einen frischen Tee und ein Lächeln der Schwester. Der “weiße Umschlag” ist sozusagen der private Teil der staatlichen Krankenversicherung.

Ab kommenden Jahr ist es öffentlichen Krankenhäusern untersagt, Dienstleistungen außerhalb dessen, was von der gesetzlichen Krankenversicherungen, dem Nationalen Gesundheitsfonds, abgedeckt ist, zu erbringen. Diese Mitteilung machte der Gesundheitsstaatssekretär Gábor Zombor Ende Oktober und hatte dafür auch gleich die schlüssige Erklärung. Es sei weder einsehbar noch finanzierbar, dass die Ressourcen der öffentlichen Gesundheitsversorgung für Privatpatienten bzw. privat finanzierte Dienstleistungen einfach mitgenutzt werden und Selbstzahler bzw. Privatversicherte dadurch in öffentlichen Klinken bevorzugt behandelt werden.

 

Staatssekretär Zombor vergaß jedoch nicht, darauf hinzuweisen, dass es im Gegenzug künftig staatliche "Anreize" für die Errichtung von Privatkliniken geben soll. Achso. Das ist dann aber keine öffentliche Mit-Finanzierung des privaten Gesundheitssektors? Dass im privaten Klinikwesen eine Menge Geld zu verdienen ist und noch mehr, sobald staatliches dazu kommt, dürfte also auch einer der "Anreize" für diese Initiative sein.

Nun hat jedes Ding ihre zwei Seiten und die Orbán-Regierung sowohl ihre begrenzte Empathie für das einfache Volk als auch ihr Gespür für selektive Marktwirtschaft mehr als einmal unter Beweis gestellt. Daher lohnt auch hier ein Blick auf die zweite Seite der Medaille. Denn sowohl Ärztevertreter wie auch Patientenorganisationen warnen vor der Zementierung einer solchen Zwei- eigentlich Drei-Klassen-Medizin (Private, Versicherte, die sich Nebenleistungen leisten können und der Rest).

Zum Thema (2014):
Multiples Versagen: Notspritzen für chronisch unterfinanziertes Gesundheitswesen
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Die oben genannten Effekte einer unstatthaften Querfinanzierung des privaten durch das öffentliche System stellt man dabei gar nicht in Abrede, gibt aber zu bedenken, dass eine wachsende Zahl von Privatkliniken - noch dazu staatlich geförderten - den Brain drain aus dem öffentlichen System verstärken würde. Vor allem Chef- und Oberärzte halten in den Kliniken ihre Privataudienzen ab, sie wären die ersten, die weg wären. Wer von den Ärzten und auch dem Pflegepersonal aber nicht in den lukrativeren Kliniken unterkommt, wird versuchen, den Ausfall durch die ihm nun entgehenden Nebeneinnahmen durch Privatpatienten durch ein erhöhtes "Handgeld", das berühmt-berüchtigte und allgegenwärtige "hálapénz" zu kompensieren. Gelänge ihnen das auch nicht befriedigend, würde sich die nach wie vor und auch durch gelegentliche Lohnerhöhungen kaum aufhaltsame Abwanderung wieder beschleunigen, denn so viele private Ärztestellen kann es in Ungarn gar nicht geben, wie Mediziner, die mit ihrem Salär - und ihren Arbeitsbedingungen - unzufrieden sind.

Die freiwillige, monetäre Danksagung des "Handgeldes" nach abgeschlossener Behandlung, so ist zumindest ihr dekretierter gesetzlicher Status derzeit, ist sozusagen die Maßeinheit für das Scheitern des ungarischen Gesundhweitswesens. Die Ungarn, in ihrem jahrhundertelang eingeimpften fatalistischen Pragmatismus haben zu dem Thema ihre eigene Meinung. Knapp 70% - so fand es eine Umfrage, die nicht von der Ärztekammer gemacht wurde - kürzlich heraus, "wünschen" sich, künftig weiter "Handgeld zahlen zu dürfen", vulgo: den Arzt legal schmieren zu dürfen, weil sie sonst befürchten, schlechtere Dienstleistungen zu erhalten. 48% finden das falsch, machen es aber zu 70% trotzdem.

Die Befürchtungen drehen sich dabei sowohl um die Angst einer nachlässigeren Pflege, aber auch darum, möglicherweise nicht die beste oder modernste Therapie samt den entsprechenden Medikamenten (für die man übrigens nochmal zahlt) zu bekommen. Auch die Wartezeiten spielen eine wichtige Rolle. 55% der Befragten gaben an, dass sie mit der direkten oder indirekten Forderung nach "Sonderzahlungen" für die Erbringung bestimmter Dienstleistungen in den letzten zwei Jahren konfrontiert worden sind, - was auch vom derzeitigen Interimsrecht nicht gedeckt ist. Die Mehrheit der Befragten ist dabei der Überzeugung, dass der Staat (ihr Staat) die "Gratifikationen" der Patienten bereits bei der Lohngestaltung für das medizinische Personal berücksichtigt habe und das diese freiwilligen Patientenspenden per "weißem Umschlag" in Summe mehr ausmachen als das Gehalt selbst

Wie verkommen, fragt sich da der gesunde Menschenverstand, muss ein Land eigentlich sein, dass dessen Volk bereit ist, für die ihm zustehenden und von ihm selbst finanzierten Grundversorgungen noch einmal nach zu bezahlen? Was ist mit denen, die sich das "Handgeld" nicht leisten können, immerhin 40% der Ungarn gelten als arm oder nahe daran? Die (natürlich nicht laut gestellte) Gegenfrage der Regierung lautet: wäre das Volk für eine 1a-Versorgung bereit, eine Verdopplung der Krankenversicherungsbeiträge hinzunehmen? Denn eines scheint klar, mit dem vorhandenen Geld und dem Hypokratischen Eid kommt man nicht aus. Angesichts der
Prioritäten im 2015er Budgetentwurf, erkennt man auch, warum.

Der Nationale Gesundheitsfonds läuft derzeit mit einer roten Null. Irgendwie. Dass er nicht tief defizitär ist, hängt damit zusammen, dass man seit der "Flat tax" auch den Ärmsten unter der Masse der Geringverdiener einen Beitrag aus der Tasche zieht, während die Beiträge für die Besserverdiener gedeckelt sind und die Regierungspartei die Gesetze so angepasst hat, dass die Sozialfonds heute funktionieren wie verbundene Gefäße. Sie werden zwar aus verschiedenen Quellen gespeist, stellen aber quasi einen Topf dar.

 

Auch die Verstaatlichung der Krankenhäuser hat dem System bisher jedenfalls nicht die versprochene Entlastung gebracht. Im Gegenteil: jährlich müssen Notfinanzspritzen (die nicht aus dem Gesundheitsfonds kommen, also ein verdecktes Budget darstellen) viele Spitäler vor der Pleite bewahren, die neuen Regierungskommissare stiften mehr Chaos als Ordnung. Warum das besser werden soll, wenn die Privatpatienten in ihre eigenen Kliniken abwandern, leuchtet nicht, bzw. nur den Privatpatienten ein.

UPDATE Am Sonntag verkündete Staatssekretär Bence Rétvári das gesundheitspolitische Stückwerk für 2015. Laut Budgetentwurf will der Staat 60 Milliarden Forint Schulden der Krankenhäuser “tilgen”. Ein Euphemismus, denn diese Schulden werden, so wie zuvor jene der Kommunen, lediglich in die zentrale Schuldenverwaltung umgebucht, naheliegend, wenn man die Krankenhäuser ohnehin verstaatlicht hat. In den Genuss dieser Entschuldung sollen aber nur jene Einrichtungen kommen, die “Garantien” vorlegen, wie eine erneute Verschuldung verhindert werden kann. Eine Quadratur des Kreises, wenn gleichzeitig die Gelder für strukturelle Investitionen fehlen oder nur partiell vorhanden sind.

10 Mrd. HUF sollen in den Ausbau der nahezu abgestorbenen Hausbesuche investiert werden, denn, so Rétvári, es werden heute zu viele Krankheiten in Spitälern behandelt, die man auch zu Hause heilen könnte, wie das in anderen Ländern vorgeführt würde.. Rund 20 Mrd. Forint fließen in die Aufstockung des Gesundheitsfonds für die Verbesserung der “allgemeinen Versorgung”, ein Beleg dafür, dass die Einnahmen der zentralen Krankenkasse dafür nicht reichen. Die Anhebungen in der Chipssteuer bzw. die Einbeziehung weiterer Produkte darin, sollen weitere Gehaltserhöhungen möglich machen, ca. 580 Mio. Forint werden für den Ausbau der Luftrettung bereit gestellt und die Zahl der Stipendien für die medizinische Weiterbildung soll von 700 auf 1.700 gesteigert werden.

Rétvári verheimlichte nicht, dass für das Erreichen der Basisziele womöglich “weitere Finanzquellen” nötig werden, Einsparungen schon mitgerechnet. Da Reserven und Fremdmittel versiegt sind, können nur neue oder erhöhte Steuern die Folge sein. Ein wildes Rätselraten, welche das sein könnten, setzte in den Medien nach der vorläufigen Absage der Internetsteuer ein. /UPDATE

Das befragte Patientenvolk hat - im Unterschied zu seiner zielorientierten Führung - längst den Überblick verloren und spiegelt eigentlich nur den Ist-Stand: Laut der Umfrage wünscht sich ein Drittel eine von der Versicherung abgedeckte Not- und Minimalversorgung und den Rest "per Katalog", ein Drittel will alle Leistungen abgedeckt sehen, ein Drittel wiederum weiß es nicht oder es ist ihm egal. So lange nichts Besseres funktioniert, bleibt mein bei dem bewährten Tribut an den "Gott in Weiß" bei der - im wahrsten Sinne des Wortes: Opfergabe.

Zum Thema (2014):
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red / cs.sz.

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