THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 20 - 2014   GESELLSCHAFT 12.05.2014

 

Wo es wirklich wehtut...

Ärztepräsident fordert grundsätzliches Umdenken bei Gesundheitspolitik in Ungarn

Seine Regierung habe das "Fundament für ein neues Gesundheitssystem" gelegt, brüstet sich Premier Orbán. István Éger, gerade wiedergewählter Präsident der Ungarischen Ärztekammer, MOK, warnt, dass das Herumwerkeln an Fundamenten ein System auch zum Einsturz bringen kann, wenn man den Überbau vernachlässig. Er fordert nicht nur mehr Geld und dieses an den richtigen Stellen, sondern einen radikalen Paradigmenwechsel. Neben tausenden Ärzten fehlt vor allem ein gesellschaftliches Übereinkommen über die Gesundheit und ihr System.

Was nutzt es, fragt der Ärztepräsident, wenn die Regierung neue, hochmoderne und sündteure Spitäler errichten lässt, die Verwaltung aber nicht einmal das Geld dafür hat, die Klimanlage anzustellen? (Detaillinks am Ende des Textes). Nach wie vor sei es nämlich nicht die materielle Ausstattung, welche die größten Probleme bereite, sondern die Arbeitsbedingungen, die "Unzufriedenheit am Arbeitsplatz" für das medizinische Personal, die - neben den "beschämend geringen Gehältern" - den Hauptgrund für die anhaltende Massenauswanderung von Ärzten und PflÉgern darstelle.

Das "Ende des klassischen Gesundheitssystems", sprich die Verstaatlichung, also Regierungsunterstellung der Krankenhäuser und Ambulanzen, sieht Éger gespalten, denn am Ende dürfte es für die Patienten "nicht so wichtig sein, ob sie die Kosten über ihre Gesundheitsversicherung oder über Steuern tragen", am Ende kommt es darauf an, wieviel Geld im System ankommt und wie die Lasten verteilt sind. Allerdings solle niemand darauf vertrauen, dass ein staatlich gelenktes System günstiger zu fahren sei als das bisherige Sozialversicherungssystem. Genau das aber sei der Irrglaube, dem die Regierung anhängt.

Die Bezahlbarkeit ist aber eben nur der zweite Aspekt eines Gesundheitssystems, die Qualität müsse an erster Stelle stehen. Ungarn gibt derzeit gerade 4% des BIP für die Gesundheit seiner Bürger aus, der Schnitt bei den gut vergleichbaren Visegrád-Staaten (neben Ungarn noch Polen, Slowakei, Tschechien) beträgt 6,5%, der EU-Schnitt sogar 8%. Wie man es also dreht und wendet, mit 4% des BIP lässt sich kein Gesundheitssystem gestalten, so Éger. Selbst wenn man in Betracht zieht, das wegen der Schuldenlage gespart werden muss (laut Orbán gibt es in Ungarn keine Sparpakete wie in anderen EU-Staaten. Anm.), mit einem Systemwechsel und dem Willen allein "kann man nichts finanzieren."

Die Regierung solle sich von der Vorstellung verabschieden, dass man im Gesundheitswesen "binnen vier Jahren" sichtbare Veränderungen sehen wird. Es gehe um eine gesellschaftliche Perspektive und die müsse darin liegen, dass viel mehr in die Prävention investiert wird und dies nicht nur im Gesundheits-, sondern vor allem auch im Bildungswesen, in welchem die Erkenntnisse der medizinischen Forschung angewandt werden müssten. Heute "bezahlen wir hoffnungslos hohe Beträge für die Behandlung von Menschen, die wir nicht mehr heilen können". Hätte man deren Beiträge früher an der richtigen Stelle eingesetzt, wären viele von ihnen "gar nicht erst in diese Situation gekommen". (Die Regierung zog daraus übrigens den Schluss, dass man diese "sinnlosen" Behandlungen abstellen sollte.
Hier mehr dazu.)

Éger erläutert, was wirklich weh tut: Laut der statistischen Daten steht Ungarn beim Auftreten von Tumoren, Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck und Diabetes besser da als der EU-Schnitt. Doch eigenartigerweise ist die Lebenserwartung deutlich niedriger als der EU-Schnitt (fünftletzte Stelle und ca. Nr. 110 in der Welt) und die Todesursachen bestehen überproportional genau aus den Krankheitsbildern, in denen das Land besser liegen soll. Das bedeutet, dass Ungarn nicht einmal ein richtiges Bild über den Gesundheitszustand seiner Bevölkerung hat, sagt der Kammerpräsident, der übrigens als oppositionsfern, aber nicht gerade regierungsnah gilt. Wenn wir anhand dieser Differenz nun hochrechnen, wie viele Menschen eigentlich Behandlungen bräuchten, würden die Kosten wahrlich explodieren. (Anm.: Éger folgert daraus nicht das Naheliegende, nämlich den Verdacht, dass der Staat, der alles bezahlen müsste, gar nicht so genau wissen will, wie gesund bzw. krank seine Menschen sind.)

Éger plädiert für ein "beschäftigungsbezogenes Gesundheitsscreening", das spezifische Krankheitsbilder frühzeitig scannt und damit später teurere - und eben aussichtslosere - Behandlungen vermeiden hilft. Im derzeitigen System, bei dem es nur ums Sparen geht, renne er mit solch komplexen Forderungen nur gegen Wände. Dabei sei es zuerst im Interesse der Patienten, dass sie früh genug und spezifisch untersucht werden können. Um das umzusetzen brauche es endlich ein "unabhängiges Gesundheitsministerium" (derzeit als Staatssekretariat beim Superministerium für "Humanressourcen", Balog, angegliedert).

Ein weiteres Problemfeld sieht Éger in der Disproportion zwischen Allgemeinärzten, Hausärzten und den Spezialisten. Die Ersteren, "an der vordersten Front", machen rund 30.000 Personen aus und arbeiten seit Jahren über der Kapzitätsgrenze. Aber gerade die Erstbehandlung kann sehr viele Probleme unkompliziert lösen und intelligent kanalisieren. Stattdessen aber rennen verunsicherte Patienten von einem Spezialisten zum nächsten, was Geld kostet und Ressourcen bindet. Daher müsste vor allem in die Erstbehandlung viel mehr investiert werden.

 

Derzeit fehlten in Ungarn  "wenigstens 1.500 neue Ärzte, doch selbst "nach den optimistischsten Prognosen können wir höchsten auf jährlich 80 neue Ärzte hoffen", die ihre Zulassung erhalten, wie viele davon dann im Lande bleiben, ist noch eine andere Frage. Dass es dabei um Geld und - wie gesagt - um die unmittelbaren Arbeitsbedingungen geht, ist das eine, aber man müsse auch die "sinnlose, überbürokratische Aufsicht durch eine professionelle, von Fachleuten begutachtete Kontrolle ersetzen".

Das Gleiche gelte für private Anbieter (Privatkliniken), die Nachfrage dafür wachse, weil das Staatssystem den Bedarf nicht erfüllt. Zwar könne man das Staatssystem als "feudal und hierarchisch" beschreiben, doch die staatlich geführten Institutionen wüssten zumindest, "was sie dürfen", in den privaten sei das nicht immer der Fall, den Ärzten dort fehle schlicht ein permanenter Ansprechpartner.

Hinsichtlich der langen Wartelisten für nichtlebensnotwendige Operationen und der sich angehäuften (bzw. immer wieder anhäufenden) offenen Rechnungen von Krankenhäusern, bittet Éger den Staat "nicht naiv" zu sein und sich nicht "weiter selbst zu belügen". Der Staat wisse genau "was was kostet" und dass ein Krankenhaus sein angesammeltes Defizit "niemals aus eigenen Ressourcen begleichen" können wird.

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