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(c) Pester Lloyd / 25 - 2015   POLITIK     19.06.2015

 

Brett vorm Kopf: Das 100 Millionen-Euro-Alibi. Ungarn isoliert sich mit "Eisernem Vorhang" selbst

Ungarn hat mit seiner Ankündigung, an der serbischen Grenze einen Zaun zu errichten, seine südlichen Nachbarn nicht nur verärgert, sondern riskiert einen Zusammenbruch seiner gesamten Balkan-Politik. Serbien, Kroatien, Mazedonien und Rumänien fühlen sich übergangen und ausgeschlossen. Das wird Konsequenzen, über das Flüchtlingsproblem hinaus haben, das mit dem Zaun ohnehin nicht gelöst werden kann. - KOMMENTAR

1. Die Kriege in Syrien, Irak, Afghanistan stoppen, 2. eine regulierte Einwanderung aufgrund klarer, europaweit koordinierter Quoten- und Qualifikationsmodelle ermöglichen, 3. Partnerschaften mit den Herkunfts- und Transitländern eingehen, um Flüchtlingsströme humanitär zu steuern und zu betreuen und das Schmugglerwesen auszutrocknen. Schließlich: 4. radikaler Wandel in der Entwicklungshilfe, einschließlich eines Umdenkens in der Investitions- und Außenhandelspolitik der Europäer. Diese vier Punkte werden von internationalen Experten und den großen Gemeinschaften EU und UN als die wichtigsten bei der Lösung des größten Flüchtlingsproblems seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgehoben.

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Leichter gesagt als getan, vor allem, da wesentliche Player, die USA und die arabischen Staaten, ihre eigenen Wege gehen, die die negativen Entwicklungen anheizen. Nicht zu vergessen: das vorherrschende Wirtschaftssystem in unseren Breiten ist auf die Ausbeutung und Unterdrückung der 3. Welt ausgerichtet. Die Systemfrage mag in der maßgeblichen politischen Arena aber niemand stellen. Auch mangels realisierbar erscheinender Alternativen. Doch selbst im gegebenen Rahmen erscheint die ungarische Aktion dillettantisch, praxisfern und selbstsüchtig.

 

Ungarn hat mit seinem jetzt angekündigten Zaunbau keinen der vier genannten Aspekte berücksichtigt, ja nicht einmal das vorgegebene Primärziel, der "Stopp des Flüchtlingsstroms" durch das eigene Land wird damit zu erreichen sein, weshalb Orbán bereits nachschob, dass auch "eine vollständige Grenzschließung" in Betracht gezogen werden müsse. Die im Internet kursierende Grafik illustriert ohne Worte die "Weitsicht" von Orbáns Plan.

Die "Mauer", die Orbán errichten lässt, dient nicht  dem "Schutz Ungarns vor Einwanderern", sie ist - betrachtet man ihre wahrscheinliche Wirkung - nur hilfloser Alarmismus, ein Instrument des Populismus, ein Statement vermeintlicher Stärke, also letztlich eine Mauer als Brett vorm Kopf für die eigenen Bürger, die glauben sollen, ihr Ministerpräsident habe alles im Griff. Orbán spürt, dass er der Menge etwas vorwerfen musste, angesichts einer halben Million Wirtschaftsflüchtlinge aus Ungarn und einer weiteren Million auf gepackten Koffern, dem zweithöchsten Armutswachstum in der EU - trotz - hübsch zu lesender nominaler Wirtschaftsdaten, den Skandalen seiner kleptokratischen Günstlinge. Der Zaun: Ein Alibi zum Preis von 100 Mio. Euro. Vorerst.

Denn die Reaktionen der Nachbarländern legen nahe, dass Orbán seinem Land wieder einmal ein dickes Ei ins Nest gelegt hat. Das jahrelange Bemühen, sich bei den EU-Perspektiven der Balkanstaaten eine Pole-Position zu erarbeiten, die Ungarns geographische und historische Nähe zu den Ländern südlich des Karpatenbeckens in bare Münze und Wachstumg ummünzt, stehen jetzt auf dem Spiel. Serbien, Kroatien, Rumänien fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Dass Ungarn sie mit dem Flüchtlingsproblem hängen lässt, wird sich rächen.

Die drastischsten Worte ergriff Serbiens Premier, Aleksandar Vucic, dem öffentlichen Fernsehen RTS sagte er, dass er "überrascht und schockiert" über die ungarische Maßnahme sei. "Ich verstehe diesen Schritt nicht und erwarte eine logische Antwort von Orbán". Die will er am 1. Juli haben, bei einer gemeinsamen Regierungssitzung mit den Ungarn.

Serbien habe ja keine Schuld an der Misere, es sei selbst nur Transitland, zumal die meisten Flüchtlinge ohnehin aus EU-Ländern (Bulgarien und Griechenland) kämen. "Sollen wir jetzt auch eine Mauer bauen, zu Bulgarien und Mazedonien? Serbien will das nicht tun." "Wir werden uns nicht einsperren und in einem Auschwitz leben." tönte er, themenverfehlend hinterher. Innenminister Stefanovic ergänzte, dass sich Serbien dem großen Problem stelle, auch wenn es gar nicht EU-Mitglied ist. Ungarn solle das gefälligst auch tun.

Kroatien fürchtet nun, zur Ausweichroute für Flüchtlinge zu werden, was naheliegend ist. "Dramatische Zustände" könnten auf das Land zukommen. Das Gleiche gilt für Rumänien. "Ein Fluss findet immer einen Weg", lautete die knappe, aber kaum widerlegbare Analyse eines kroatischen Sicherheitsexperten. Die Präsidenten Kroatiens uns Rumäniens treffen sich dieser Tage. Eine Neupositionierung zu Ungarn wird dabei Thema sein. Mazedonien, auch eines der großen Durchgansrouten, fürchtet, dass die Flüchtlinge nun länger im Lande verweilen, bis sie eine passende Route finden. Schnell erteilte das Land jetzt allen "Illegalen" ein pauschales 72-Stunden-Aufenthaltsrecht, damit sie auf legalen Wegen das Land verlassen könnten.

Die Folge - nach Orbáns Logik - müssten weitere - und höhere - Zäune sein, bis hinauf zur Ukraine, ein Vorhaben, bei dem Ungarn dann sehr schnell auch an logistische, finanzielle und personelle Grenzen stößt. Was kommt dann? Die Austellung einer Grenzarmee mit Schießbefehl, Konzentrationslager? Orbán agiert wie alle Rechtspopulisten Europas. Mit dem Unterschied: er hat in seinem Land die Macht.

 

Auch die Isoaltion in der EU hat Orbán weiter verstärkt, denn wieder muss die Europäische Kommission darauf hinweisen, dass Ungarn "Schritte unternimmt, die gegen EU-Verpflichtungen" verstoßen, dass es sich gemeinsamen Lösungen verschließt. "Wir haben erst die Mauern in Europa beseitigt, sie dürfen nicht wieder aufgebaut werden." Auch die ungarische Ankündigung, Asylverfahren auch für Schutzberechtigte weitgehend zu verweigern, ist zentraler Bestandteil dieser Kritik, denn diese Weigerung gehe über das Recht der Staaten hinaus, ihren Grenzschutz selbst zu bestimmen.

Wenn der Flüchtlingsstrom für Ungarn wirklich ein so existentielles Problem darstellt wie es die Regierung behauptet, dann kommt er an Kooperationen mit der EU und den Nachbarn nicht vorbei. Dazu ist Orbán weder fähig noch willig, denn ihm, so glaubt er, nutzt die "Alarmstimmung", die er in seinem Land produziert politisch. Seinem Land schadet sie. Es ist also wieder an den Ungarn, Eiserne Zäune einzureißen, für Ungarn und für Europa.

m.s



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