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(c) Pester Lloyd / 26 - 2015   POLITIK     24.06.2015

 

Völkerrechtsbruch: Ungarn suspendiert Dublin III und ignoriert Genfer Flüchtlingskonvention. Was kommt als Nächstes: Deportationen?

Am Dienstag veröffentlichte das ungarische Innenministerium ein Dekret, mit dem die Dublin-III-Regelung "mit sofortiger Wirkung" und "bis auf Weiteres ausgesetzt" wird. Begleitet wird die Maßnahme durch Gesetze, die das Asylwesen beenden. Ungarn ist nun nicht nur EU-Vorreiter bei der Demontage von Demokratie und Rechtsstaat, sondern auch beim Bruch von Völkerrecht.

Update, 13.00 Uhr : Pressekonferenz von Außenminister Szijjártó Dublin III doch nicht ausgesetzt?

Mit der Suspendierung der EU-Verordnung 604/2013, kurz Dublin-III, verweigert Ungarn die Rücknahme von Asylantragstellern, die in andere EU-Länder weitergezogen sind. Für Flüchtlinge ist das zunächst eine gute Nachricht, denn die Zustände in den Flüchtlingsgefängnissen von Ungarn sind menschenunwürdig.

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Ungarische Polizisten “begrüßen” Flüchtlinge am Budapester Ostbahnhof. Kamen zu Beginn des Jahres die meisten aus dem Kosovo, stellen seit ca. drei Monaten Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak mehr als Zwei Drittel.

Vorgesehen ist laut Dublin III, dass die Rückführung in jene "sicheren Drittländer" durchgeführt wird, in denen der Flüchtling zum ersten Mal amtlich registriert worden ist, resp. einen Asylantrag gestellt hat. Das Verfahren benachteiligt tendentiell Länder an den östlichen und südlichen EU-Außengrenzen, weshalb es um eine Quotenregelung ergänzt werden sollte, die Ungarn aber strikt ablehnte.

 

Fast alle der in diesem Jahr bisher 60.000 Flüchtlinge, die durch Ungarn in die EU kamen, reisten umgehend nach Österreich, Deutschland, Frankreich etc. weiter. Diese drei Länder kündigten kürzlich an, im Sommer vermehrt Rückabschiebungen auch nach Ungarn durchführen zu wollen, die Regierung in Budapest warnte dann vor einer Rückschiebewelle von bis zu 150.000 Personen - eine völlig überhöhte Zahl. Mehrere Tausend bis ca. 40.000 (theoretisch) wären denkbar, allerdings für Ungarn aus praktischen Gründen tatsächlich nicht zu bewältigen.

Westliche Länder hielten sich bei Rückschiebungen nach Ungarn in den vergangenen Jahren zurück, auch, weil mehrere (u.a. deutsche) Gerichte, Ungarn nicht mehr als "sicheren Drittstaat" einstuften. Rückabschiebungen von (auch unbegleiteten. minderjährigen) Asylbewerbern nach Ungarn riefen auch Proteste der einheimischen Bevölkerung hervor. In den vergangenen Monaten wurden die Behördenentscheide zur Rückabschiebung auf der Basis von Dublin III jedoch spürbar rigider.

Der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács begründete die von Orbán verfügte Aussetzung von Dublin III - also den offenen Bruch mit EU-Recht - am Dienstagabend im Staatsfernsehen M1 damit, dass "Ungarn gerne an einer europäischen Lösung teilgenommen hätte", aber leider "keine Kapazitäten mehr" habe. Derzeit kümmere man sich um 3.000 Asylantragsteller, habe für diese aber nur 2.500 Unterkunftsplätze. Das Boot sei voll, die Aussetzung soll aber nur "eine zeitlich befristete Maßnahme" sein. Ungarn habe natürlich "das Recht, Dublin III auszusetzen" (die EU sagt: Nein, hat es nicht.) und "wir hatten gar keine andere Wahl". Die Regierung hatte übrigens dafür gesorgt, die Unterbringungs-Kapazitäten so knapp wie möglich zu halten.

Außerdem waren unter den in Ungarn Einreisenden auch viele, die ebenfalls über sog. sichere Drittstaaten, zumindest aber EU-Gebiet kamen (Bulgarien, Griechenland), das ungarische Grenzregime war und ist bisher aber weder in der Lage, diese Leute effektiv herauszufiltern, noch, sie zurückzusenden. Ungarn wandte Dublin III also selbst dann nicht an, wenn es zu seinem Vorteil war. Dieser Weg dürfte durch den einseitigen Schritt Budapestes nun verschlossen bleiben und eine Kettenreaktion auslösen, schon will Italien dem ungarischen Beispiel folgen.

Österreich, dessen etablierte Parteien ebenfalls in der Populismus-Spirale mit rechtsextremen, rassistischen Hasspredigern (FPÖ) gefangen sind und auch ein Unterbringungsproblem für Flüchtlinge (geschaffen) hat, wird nun hektisch und fragte bei den Ungarn an, was das praktisch bedeutet. Der ungarische Botschafter in Wien konnte nur auf "technische Gründe" verweisen, die die Aussetzung angeblich nötig machten, nun wird bilateral und auf europäischer Ebene hantiert, sollte Ungarn wirklich ernst machen, hat Wien ein Problem. Der Botschafter wurde heute ins Außenministerium einbestellt.

Ungarn ergänzt den aktuellsten Schritt um
eine neue Gesetzgebung, die Flüchtlinge pauschal zu illegalen Eindringlingen deklariert und die Einleitung von Asylverfahren praktisch unmöglich macht, in dem man praktisch alle Nachbarländer (außer die Ukraine) einfach zu sicheren Herkunfts- oder Transitländern erklärte, in die die Ankömmlinge stante pede zurückgeschoben werden sollen. Auch dieses Verfahren ist völkerrechtswidrig.

Die fremdenfeindliche, für innenpolitische Zwecke missbrauchte Agenda von Premier Orbán, der ständig von einem "Einwanderungsproblem" nach Ungarn spricht, das es - im Gengesatz zur enormen Flüchtlingswelle - gar nicht gibt (
von 42.000 Flüchtlingen in Ungarn blieben 2014 lediglich 455), sieht als nächsten Punkt im Drehbuch die "Entfernung" der in Ungarn befindlichen Flüchtlinge, also die Deportation von Schutzsuchenden sowie die Abweisung weiterer Asylantragsteller vor, ein weiterer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, also Völkerrecht.

Orbán hatte diese "Entfernung"
wörtlich angekündigt, sie ist auf der Liste der nächste logische Schritt nach: regierungsamtlicher Hetzrede (setzte nach den Anschlägen in Paris ein als Orbán erstmals Einwanderung mit Terrorismusgefahr gleichsetzte), der manipulativen "Nationalen Konsultation", den o.g. Gesetzesänderungen, einer absurden Plakatkampagne sowie der Grenzschließung zu Serbien inkl. Zaunbau. Letzten Freitag dann sprach Orbán davon, dass Einwanderung per se ein Verbrechen sei, neben ihm stand Frankreichs Präsident Hollande und widersprach nicht.

Die Ankündigung des
"Eisernen Vorhangs" zu Serbien hat die Flüchtlingswelle nochmals beschleunigt, Mazedonien erteilte den über ihr Territorium ziehenden Menschenmassen ein pauschales Transitvisum und verteilte kostenlose Bahn- und Bustickets. Ungarische Polizisten sind an der serbisch-mazedonschen Grenze mit Wärmebildkameras im Einsatz, 40 österreichische Polizisten an der serbisch-ungarischen Grenze, auch deutsche "Berater", aber letztlich erfolglos. Regierungssprecher Kovács spricht von "täglich 600 bis 800" Menschen, die über die grüne Grenze kommen.

 

Für die Flüchtlinge, die Ungarn nicht aus dem Westen zurücknimmt, ist die Suspendierung von Dublin III zunächst sogar eine gute Nachricht, erspart sie ihnen nämlich Zustände, die mehr an jene in der Heimat erinnern, denn an ein zivilisiertes Europa. Das grundlegende Problem (abseits der Eindämmung der Fluchtgründe), nämlich das Fehlen einer einheitlichen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und -strategie der EU-Mitglieder, wurde durch Ungarns Alleingang nicht nur deutlich, sondern noch zementiert. Das Land fällt der Gemeinschaft ein weiteres Mal in den Rücken - auf dem Rücken hin- und hergeschubster Flüchltinge.

Man kann der EU den Vorwurf machen, zu lange mit einer einheitlichen, schlagkräftigen Regelung gewartet zu haben, dass es nun kein Wunder ist, dass die Länder eigene Maßnahmen ergreifen. Doch dieser Vorwurf schlägt 1:1 auf die nationalen Regierungen zurück. Denn diese blockieren in den EU-Institutionen, vor allem im Rat der Regierungschef konsequent eine Harmonisierung der Strategie, sei es aus Ratlosigkeit, Zögerlichkeit oder - wie im Falle Ungarns - aus kaltem, innenpolitischem Kalkül. Wie hilflos die EU ist, zeigte sich an der Reaktion aus Brüssel auf Budapests Alleingang. Man forderte eine “sofortige Erklärung”...

Wie
hier ausführlicher analysiert, ist Ungarn nun in einem Teufelskreis gefangen, denn die Flüchtlinge werden Wege über Rumänien, Kroatien etc. finden, nach Ungarn und von dort weiter nach Westen zu gelangen. Weitere Zäune, Mauern, Grenzarmeen? Die Nachbarn und die EU noch mehr verärgern? Orbáns Kanzler Lázár musste vor wenigen Tagen als "bösartiges Gerücht" dementieren, dass an der südlichen Grenze des Landes ein "Schießbefehl" vorgesehen sei. Allein, dass ein solches Dementi wirklich nötig ist, sollte den Ernst der Lage verdeutlichen.

red. / cs.sz. / m.s.

 


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