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(c) Pester Lloyd / 35 - 2015     POLITIK    28.08.2015

 

"Notstand" in Ungarn und die Schuld des Westens: Europas Zukunft entscheidet sich am Grenzzaun zu Serbien - Bericht & Kommentar

Budapest steckt im Dilemma: Zaun und Gewalt werden die Flüchtlinge nicht aufhalten, doch einen weitgehend ungehinderten Transit - wie durch den Balkan - wird es aus innenpolitischem Kalkül und wegen westlichen Drucks nicht geben. Dabei steht an Ungarns bald mit Militär gesicherten Grenze nicht allein das Schicksal und - wie die 71 Toten im Burgenland zeigten - auch das Leben traumatisierter Flüchtlinge auf dem Spiel, sondern der Rest Humanität, den Europa noch ausmacht. 

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Aktuelle Szene vom Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn, Foto: MTI

Die ungarische Regierung hat am Freitag die Ausrufung des "Notstands" angekündigt. So kommen nicht nur - wie von Orbáns Kanzler angekündigt - Polizei mit Knüppel und Tränengas, sondern auch das Militär an der Grenze zu Serbien zum Einsatz, ein riesiges Auffanglager soll die Ankommenden bis zur Statusklärung aufhalten. Die Regierungen mehrerer Balkanländer bezichtigte man der aktiven Fluchthilfe, dabei tun die das einzig Richtige: sie zwingen die EU zu einer geregelten Flüchtlingspolitik.

 

71 Tote, darunter mehrere Kinder in einem Kleinlastwagen auf einer österreichischen Autobahn, jämmerlich erstickt beim Versuch, mit organisierten Schleppern die Grenze von Ungarn in den "Westen" zu überqueren klagen an. Es ist nicht klein zu reden, auch wenn es schon wieder versucht wurde: Ungarn und der "Rest" Europas haben diese Toten auf dem Konto. Denn diese Kriegsflüchtlinge, vermutlich alle aus Syrien, sind sozusagen an Dublin-III erstickt. Natürlich auch an der Gier der zwei bulgarischen und zwei ungarischen Schlepper, die bereits verhaftet wurden sowie ihrer, vermutlich in Serbien und der Türkei sitzenden Hintermänner. Doch die hätten ohne die EU-Anarchie in der Flüchtlingsfrage keine Geschäftsgrundlage.

Um dem Zwangsaufenthalt in Ungarn zu entgehen, versuchten die Verzweifelten es illegal in den Westen - weil es legal kaum mehr geht -, so wie 99% der in Ungarn Ankommenden vor und nach ihnen. Seit die deutschen und österreichischen Behörden den Druck auf Ungarn erhöhten und sogar eigene Beamte und Technik enstandten, seine Grenze dicht zu machen und auch die Weiterreise einzuschränken, seit die Rückschiebungen nach Dublin sich verzehnfachten, seit Ungarn den illegalen Grenzübertritt als Straftat mit bis zu vier Jahren Haft bedroht, seit dem drängte man die Kriegsflüchtlinge noch weiter in den Untergrund, Tragödien im LkW, die nur die Landversion des Massensterbens auf dem Mittelmeer nachstellen, sind daher nur folgerichtig.

Zugespitzt: Die europäischen Regierungen und somit die EU haben den Tod dieser Menschen grob fahrlässig bis proaktiv mit befördert, weil sich die Gemeinschaft weigerte, das Scheitern des für einen Massenansturm ungeeigneten Dublin-Vertragwerkes einzugestehen und neue, klare Regeln aufzustellen, wie die Aufnahme von Kriegsflüchtlinge geregelt werden kann, wie sie zu verteilen und zu behandeln sind. Um das zu Erreichen, müsste sich jedoch erst einmal die Erkenntnis durchsetzen, dass Kriegsflüchtlinge - aber auch "Wirtschaftsflüchtlinge" nicht durch Mauern, Zäune und Militär aufzuhalten sein werden, dass es ohne solidarische Aktionen mit Ländern wie der Türkei, dem Libanon und den anderen Hauptlastenträgern der Flüchtlingswelle, nicht gehen wird und auch nicht ohne die Bereitschaft der Mitgliedsländer, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen eine neue Lebensperspektive zu bieten, nachdem ihnen ihr Leben in der Heimat zerbombt und vom Terror zu Nichte gemacht wurde.

Ungarn schiebt die durch Untätigkeit entstandene Schuld des Westens gen Süden weiter. Orbán, der, zusammen mit seiner kleptokratischen Blut-und-Boden-Mafia eine völlig entmenschlichte Flüchtlingspolitk fährt, die mehr Chaos und Elend stiftet als wenn er gar keine Maßnahmen ergreifen würde, baut einen Grenzzaun, der nichts bringt, weil die Menschen entweder drüber- oder drunterklettern - wer wird sich schon nach monatelangen Strapazen und dem Krieg in der Heimat von ein paar Drahtrollen aufhalten lassen? - oder über andere Routen ausweichen werden. Dafür bebläst er die Medien fast täglich mit neuen martialischen Kampfansagen gegen die "Fremden". Doch all das richtet sich eigentlich nur nach innen. Der kleine Gernegroß muss Stärke demonstrieren, die inszenierte, forcierte Katastrophe bietet ihm dankbare Anlässe, von seinen Raubzügen und seiner Demokratie-Demolierung abzulenken.

Wie geht es in Ungarn weiter? Ungarns Kanzler kündigte am Donnerstag an, dass die am 31. August provisorisch fertig gestellten Zaun eingesetzten, zu "Grenzjägern" umgruppierten tausenden Polizisten demnächst von Schlagstock und Tränengas Gebrauch machen sollen, um den Grenzübertritt zu verhindern. Alle, die es dennoch schaffen, kommen, so der Fidesz-Mann Gergely Gulyás am Freitag, in ein riesiges Auffanglager direkt an der Grenze, wo zunächst ihr Status geklärt werden soll, bevor über Weiterreise, Unterbringung oder Abschiebung entschieden wird. Der Plan: in Schnellverfahren und Sammeltransporten soll es dann zurück nach Serbien gehen, der Rest bleibt im Lager "konzentriert", bis er freiwillig verschwindet oder wandert wegen "illegalen Grenzübertritts" im Gefängnis, geht es nach Fidesz, für Jahre...

Dazu werden in der kommenden Woche zwei, am Dienstag und Freitag, außerordentliche Parlamentssitzungen geben, wo, so Gulyás, wahrscheinlich auch der "Notstand" ausgerufen wird, was den Einsatz der Armee im Inland und gegen Zivilisten ermöglichen soll. Das "Sicherheitskabinett", von Orbán mit maritalischen Worten einberufen, hat bereits die entsprechenden Pläne ausgearbeitet, alles geheim freilich, aber absehbar. Lázár sprach bereits von Schnellverfahren und von " Anpassung der gesetzlichen Möglichkeiten für die Errichtung von Transitzonen", übersetzt: Internierungslager. Konkret geht es dabei um einen 60 Meter breiten Sperrstreifen parallel zum Grenzzaun, eine Art politischer Karantäne-Zone, in denen Polizei und Militärs, unbeobachtet von “Gutmenschen” schalten und walten können, wie es beliebt. Nun wird auch Lázárs Ankündigung von einem zweiten Grenzzaun verständlich. Er ist außerdem überzeugt, dass es weder verfassungsrechtliche Bedenken für einen Militäreinsatz im Inneren gibt, noch eine Änderung der Verfassung notwendig würde. Die daraus entstehende Spirale kann man sich zu Ende denken.

Die Beziehungen mit den Nachbarn sind seit Orbáns Hegemonialbestrebungen im Karpatenbecken ohnehin schon unterkühlt, nationalistische und revanchistische Politik, aber auch diverse Korruptionsskandale kühlten sie weiter ab, einen Tiefpunkt erreichen sie aber jetzt mit dem Zaunbau. Die Bulgaren, Mazedonier und Serben ließen die Flüchtlingsmassen ungehindert ziehen, so der Vorwurf aus Ungarn. Dieses sei mit dem Ansturm nicht nur überfordert, nein, er "gefährde die ungarische Zivilisation", heißt es bei der Regierungspartei. Wenn man nichts unternähme, würden "in diesem Jahr 300.000 Menschen Westeuropa erreichen". Allein am Wochenende werden bis zu 10.000 Flüchtlinge in Südungarn erwartet. Doch was sollen die Balkanländern sonst tun als die Menschen gehen lassen. Sie so behandeln wie die Ungarn oder die Deutschen und sie in die Illegalität drängen bis sie in Kleinbussen ersticken?

Lázár hat mit seinen Worten vom Donnerstag völlig Recht (haben wir das geschrieben?), als er sagte: "Ungarn ist teilweise verärgert über den Umstand, dass trotz vieler Versuche, die EU keinerlei Hilfe (bis auf Geld, Anm.) zur Sicherung der Schengengrenze leistet." Außenminister Szijjártó beklagt, dass sich von den Ankommenden nur 10% registrieren lassen, 90% sofort weiterziehen und sich dabei "immer aggressiver" zeigten. Wer Wind sät...

 

Ungarn sollte jetzt einmal tun, wofür es seit Jahren so scharf und meist zu recht kritisiert wurde: nur an sich selbst denken. Das heißt: Lasst die Flüchtlinge durch, gebt Ihnen Wasser und etwas zu Essen und eine Karte gen Westen und ein Bahnticket. So und nur so, kann man die EU zu einer gemeinsamen, geregelten Flüchtlingspolitik zwingen, zu unumgänglichen Quoten und Regularien, die den Bedürfnissen der Herkunfts- und Zielländer halbwegs gerecht werden. Es ist nämlich ein absoluter - unter der Käseglocke des Kalten Krieges geborener - Irrglaube, dass Völkerwanderungen, aus welchen Gründen auch immer, der Geschichte anhören, sie sind, im Gegenteil, der Normalzustand. Es ist ebenso ein Irrglaube, dass Völkerwanderungen per se etwas Negatives sein müssen, dass alles so bleiben könne wie es war. Es ist ebenso ein Irrglaube, dass der Anteil der islamistischen Deppen und Kriminellen unter den Flüchtlingen höher sei als der Anteil rassistischer Deppen und gewaltbereiter Krimineller in unseren Ländern.

Ungarn tut sich und Europa keinen Gefallen damit, das Flüchtlingsproblem von seinem Premier auf derart abartige Weise instrumentalisieren zu lassen. Seine Menschenverachtung hat er schon seinem eigenen Volk zur Genüge angedeihen lassen, er soll sich nicht noch an Kriegsflüchtlingen austoben dürfen. Viele Freiwillige in Ungarn, aber auch anderswo, demonstrieren, dass viele Europäer besser, menschlicher sind als ihre Regierungen. An Ungarns Grenze steht daher nicht allein das Schicksal traumatisierter Flüchtlinge auf dem Spiel, sondern auch der Rest Humanität, den Europa ausmacht.

red. / m.s.


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