(c) Pester Lloyd / 08 - 2011 KULTUR
21.02.2011
Turiner Pferd & Budapester Angsthase
Béla Tarr kritisiert ungarische Regierung und distanziert sich dann von sich selbst
Der ungarische Filmkünstler Béla Tarr sorgte bei der Berlinale für viel Furore. Ein wenig mit seinem neuen und vielleicht letzten Film "Das Turiner Pferd", für den er
den "Silbernen Bären" bekam, doch viel mehr mit einem Interview mit dem Berliner "Tagesspiegel", in dem er mit der Regierung Orbán in der Heimat hart ins Gericht
ging. In Ungarn sind ihm deshalb die Kollegen böse, der Kulturminister sowieso. Was folgt? Tarr zieht den Schwanz ein und distanziert sich von der Wahrheit. Eine Lektion.
Unter der Überschrift "Die Regierung muss weg. Nicht ich" lesen wir im renommierten
Berliner "Tagesspiegel" u.a. solche Sätze wie "Ich bin ein freier Mann. Aber leider nicht
mehr aus einem freien Land. Ungarn war die letzten 20 Jahre frei, das war beglückend, aber jetzt ist das wieder vorüber." In diesem Ton geht es eine Weile fort, es sind
künstlerische Übertreibungen einer durchaus traurigen Realität, die auch und vor allem den Kulturbetrieb Ungarns betreffen und in der Feststellung eines "Kulturkampfes" münden. Die
Regierung hasst die Intellekutellen, weil sie liberal und daher oppositionell sind, heißt es weiter aus dem Munde von Béla Tarr.
Kritik an der Regierung heißt Beleidigung des Ungarntums
Die Regierung hasst die Intellektuellen tatsächlich, doch Kritik daran ist in Ungarn derzeit
gar nicht gern gesehen, meist dauert es nur ein paar Stunden, bis die rechten Blogger und die regierungsnahen Medien auf die "Nestbeschmutzer" einschlagen, oft in Form einer
kampagnisierten magyarischen Abwehrschlacht, die kein Mittel der Propaganda bis hin zur Diffamierung auslässt. Dies traf bereits regelmäßig die Schriftsteller György Konrád und
György Dalós, Imre Kertész sowieso, auch den Pianisten András Schiff, die Dirigenten Iván und Ádám Fischer, Nationaltheaterintendant Róbert Alföldi, die "linken" Philosophen Ágnes
Heller und Kollegen sowie etliche im Westen namenlose Künstler und Intellektuelle, die unter liberalen, d.h. un-ungarischen Generalverdacht gestellt werden.
Sie werden als fettgefressene Maden im Speck des abgewählten sozialliberalen Systems
dargestellt, die in ihrer ganzen Undankbarkeit nichts besseres zu tun haben als im Ausland bei jeder Gelegenheit gegen das Ungarntum und seine von Gott gewollten Verteidiger zu
hetzen, um es einmal im ungefähren Duktus des in solchen Foren gängigen Gesprächsniveaus wiederzugeben. Sogar Premier Orbán brachte ja schon diese primitive
Art der Diskussion ins europäische Parlament als er behauptete, die Kritik am Mediengesetz
sei ein "Angriff auf das ungarische Volk", um später in der Heimat zu melden: "den wir erfolgreich zurückgeschlagen haben."
Tagesspiegel: keinen Anlass das Interview zu korrigieren
Auch Tarr hat sich also "benommen", statt der Heimat zu danken, nahm er, der ohnehin
für die Masse unverständliche, doch auch aus ungarischen Steuermitteln geförderte Filme dreht, den Silbernen Bären wortlos entgegen und "erbricht" sich sodann noch in einem
dieser Ungarn gegenüber ahnungslosen Westmedien. Am Sonntag schon soll, so berichtet es uns die offiziöse Nachrichtenagentur MTI, Béla Tarr, sein Interview widerrufen haben,
allerdings mit sehr eigenartigen Worten.
Die Agentur zitiert ihn: "Ich hatte keine andere Wahl als mich selbst von dem am Samstag
veröffentlichten Interview zu distanzieren". "Was geschrieben wurde, ist nicht mein Stil, in
dieser Art debattiere ich nicht." Auf Anfrage des Pester Lloyd, sagte uns der zuständige
Redakteur des "Tagesspiegel", dass man "keinen Anlass" habe, "das Interview zu
korrigieren." Leider wollte man uns in Berlin aber auch nicht sagen, ob es sich um ein elektronisch aufgezeichnetes Wortinterview handelte. "Béla Tarrs Kommentar dazu
gegenüber den ungarischen Medien spricht für sich." heißt es weiter. Leider tut er das nicht. Daher einige Hintergründe:
Ein Staatssekretär veröffentlicht ein "vertrauliches" Telefonat oder Typisch Künstler?
Was ihm womöglich keine andere Wahl als diesen
eigenartigen Widerruf ließ, erklärt MTI indirekt. Kulturstaatssekretär Géza Szöcs, jener Poet aus Siebenbürgen, der als Zentralbeauftragter für die
Schaffung einer nationalen Staatskultur berufen wurde und schon mehr als einmal als Kulturzerstörer hervortrat, sagte im ungarischen Fernsehen, beim
regierungsnahen Hír TV, dass er Tarr telefonisch zum Großen Preis der Jury der Berlinale gratulierte und
dieser ihm daraufhin "im Vertrauen" versichert habe, dass dieser die Kommentare, die in dem Interview wiedergegeben worden sind, gar nicht gemacht habe.
Im Gegenteil, die Zeitung habe ihm "das direkte Gegenteil von dem zugeschrieben, was er
gesagt habe", gab ihn Szöcs wider, er wisse aber nicht, ob er eine Gegendarstellung verlangen wird oder nicht. "Das hat Tarr geschockt, nunja in Berlin herrscht ohnehin eine
hysterische Athmosphäre", fügte Szöcs hinzu (klar, schwuler Bürgermeister und lauter Kommis an der Macht, was will man da schon erwarten?) "Es stimmt nicht, dass
ungarische, liberale Intellektuelle in Ungarn Existenzängste haben", sagte Staatssekretär Szöcs weiter, so als wäre er selbst einer.
Vieles ist möglich, - dass Tarr gar nicht widerrufen hat und Szöcs nur foppte, dass dieser
wiederum einfach behauptete, dass Tarr widerruft, im Kulturkampf ist schließlich alles erlaubt und in Ungarn heute auch alles denkbar. Der Sender ATV bemühte sich - bisher
erfolglos - um “eine elektronische Version” des Interviews, wofür auch wir dankbar wären. Die wahrscheinlichste aller Varianten: Tarr bekam kalte Füße, zwar kündigte er in Berlin
an, das "Turiner Pferd" werde sein letzter Film sein, doch man weiß ja nie, vielleicht wird der "Budapester Angsthase" sein allerletzter. Typisch Künstler?
Die Vereinigung der Filmschaffenden schwenkt auf Regierungslinie
Der ganze "Fall" löste großes mediales Echo in Ungarn aus und wird als "Skandal"
beschrieben. Auch die Fachverbände meldeten sich, die Vereinigung der Ungarischen Filmschaffenden (MPSZ) schwenkte sogleich auf Regierungslinie, denn sie hängt ja mehr
denn je an deren Tropf. Sie gratulierten Tarr zum Preis, "verlangen" aber von Tarr, dass er
bei jedem internationalen Forum verdeutlicht, dass er "nur seine ganz persönliche Meinung gesagt hat", mit der man im übrigen ganz und gar nicht einverstanden sei. Und dann
rechnet man ihm vor, dass es "sehr unglücklich sei, solche Worte aus dem Munde eines Regisseurs" zu hören, "der gerade maßgebliche Unterstützung vom ungarischen Staat" für
seine Filmprojekte bekommen hat, meinte der MPSZ-Chef Gábor Kalomista, der eigentlich die Interessen Tarrs, nicht der ungarischen Regierung verteidigen sollte. Wenn jedoch die
Förderung durch den Staat, die Kritik an selbigem unterbinden soll, wie die Logik Kalomistas nahelegt, dann hatte Tarr mit seinen Äußerungen wohl doch recht, dann sind
wir wieder in der Kádárzeit?!
Auch Tarrs Verleiher fällt ihm in den Rücken
Auch der Chef des ungarischen Filmverleihers der Tarr-Filme, MOKÉP, bei dem auch der
Preisträgerfilm "Das Turiner Pferd" laufen soll, Balázs Gulyás, findet, dass in dem Interview
"falsche Anschuldigungen" stehen. Tarr beschädigt mit seinen Äußerungen nicht nur sich selbst, sondern die ganze ungarische Filmindustrie. Das stimmt insofern, dass sich Leute
wie Gulyás offenbar nie auf einen Kulturkampf einlassen, sondern sich immer gleich auf die Seite der Sieger geschlagen haben. MOKÉP wäre weg vom Markt, wenn das Ministerium das wollte.
Stirb langsam: Hollywoodproduzent soll die ungarische Filmförderung umstrukturieren
Diese Filmindustrie - und das dürfte ein wenig Licht in das ganze obige Palaver und die
halbherzige Distanzierung Tarrs bringen - wird derzeit völlig neu organisiert. Der amerikanische Hollywood-Produzent "mit ungarischen Wurzeln", Andrew G. Vajna, der so
gehaltvolle Streifen wie Rambo, Terminator oder - passenderweise - Stirb langsam, Teil 3, herausgebracht hat, bekam von der Regierung den Auftrag, den sozialistischen Sumpf der
Filmförderungen, in dem lt. Regierungsprecherin Nagy Milliarden an Forint für sinnlose Promotions und Buffets versickert sind, neu zu ordnen und nach den "richtigen"
Förderprioritäten und -strukturen zu suchen.
Nach welchen Kriterien und unter welcher Aufsicht diese Neuordnung stattfindet, dazu
fragen Sie am besten Herrn Géza Szöcs. Wer sich jetzt nicht freundlich genug verhält und den Ruf Ungarns in den Schmutz zieht, weil er, wenn auch völlig übertrieben, die Wahrheit
sagt, so wie es Künstler eben tun, der schneidet nicht nur sich selbst zukünftig von der Förderung ab, sondern auch die Kollegen in seinem Umfeld. Das sollte die Lehre sein. Sie
scheint angekommen.
M.S.
Zur Neuordnung der Filmindustrie und Förderpolitik:
Ungarische Regierung versucht Filmbranche zu beruhigen - 15.02.11 http://www.pesterlloyd.net/2011_07/07filmfoerderung/07filmfoerderung.html
Hollywood-Produzent soll Filmförderung in Ungarn neu regeln - 18.01.11 http://www.pesterlloyd.net/2011_03/03vajnafilm/03vajnafilm.html
“Blacklist” Kulturpolitik:
Ausbau des Museums der Schönen Künste gestoppt - 09.02.11 http://www.pesterlloyd.net/2011_06/06ausbauSzepmu/06ausbauszepmu.html
Vize-Staatssekretär für Kultur tritt zurück - 20.01.11 http://www.pesterlloyd.net/2011_03/03kalnoki/03kalnoki.html
Budapester Dissonanzen - 17.12.10
Die ungarische Kulturpolitik hat zwei Gesichter: das hässliche zeigte sich wieder in Budapest http://www.pesterlloyd.net/2010_50/50BpDissonanzen/50bpdissonanzen.html
Hilferuf aus dem OFF - 24.11.10
Die unabhängigen Theater in Ungarn fürchten um ihre Existenz http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47offtheater/47offtheater.html
Nationaltheater - 22.11.10 Ungarn vs. Rumänien: eine Tragikkomödie in vier Akten
http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47nationaltheater/47nationaltheater.html
Köpferollen an der Oper - 25.10.10
Die Leitung der Ungarischen Staatsoper Budapest wurde gefeuert http://www.pesterlloyd.net/2010_43/431staatsoper/431staatsoper.html
Teuflische Mächte - Sep 2010
Saisoneröffnung und Zensur an der Ungarischen Staatsoper http://www.pesterlloyd.net/2010_36/36operbudapest/36operbudapest.html
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