Kleinanzeigen: effektiv und günstig

Hauptmenü

 

Sie möchten den PESTER LLOYD unterstützen?

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 27 - 2011  GESELLSCHAFT 04.07.2011

 

Die Republik der Bürger

Bürgerproteste und neue Opposition in Ungarn - Teil 3

Der dritte und letzte Teil unserer kleinen Serie befasst sich weder mit einer neuen Partei, noch einer Protestbewegung, sondern bewußt mit Bürgern, die sich für andere Bürger einsetzen, unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist. Die Ungarischen Vereinigung für Bürgerrechte TÁSZ ist bereits seit 1994 aktiv. Wir sprechen mit Eszter Jovánovics, Leiterin des dortigen Roma-Programms über den alltäglichen Kampf um Rechtsgleichheit für Ungarns größte Minderheit als Hilfe zur Selbsthilfe und als eine Grundbedingung für den Kampf gegen die soziale Verelendung.

Teil 1 über neue Protestbewegungen - Teil 2 über die Partei LMP

Gyöngyöspata im März 2011. Selbsternannte Ordnungshüter übernehmen die Amtsgewalt, nötigen Einwohner, die Polizei schaut zu. Die Geschichte hat eine Geschichte...

Das sichtbare Versagen der ungarischen Exekutive bei den Vorfällen in Gyöngyöspata, ihre abwartende, kalkulierende Haltung, danach die stümperhafte Anlassgesetzgebung und die tiefe Kluft zwischen Wort und Tat, werfen ein Licht auf einen der tiefsten, teuersten und potentiell gefährlichsten Konflikte in der ungarischen Gesellschaft: die Verwahrlosung und Ausgrenzung der größten ethnischen Minderheit in Ungarn. Konflikte, die freilich schon viel früher entstanden waren, eigentlich seit Jahrhunderten latent sind, in den letzten Jahren aber einen Zuwachs politischer Sprengkraft und Instrumentalisierungen erfuhren.

Eszter Jovánovics setzt statt auf politische Willenserklärungen, Kampf um Machtanteile oder eine allgemeine Protesthaltung auf konkrete Hilfe bei konkreten Problemstellungen, vor Ort und im Zusammenwirken mit den Betroffenen. Dabei wird nicht "gutmenschlich" die Mitverantwortung der Roma für ihr Schicksal in Kauf genommen, doch aber klargestellt, dass die Einforderung von bürgerlichen Pflichten nicht ohne die Gewährung von gleichen Rechten funktionieren wird. Über diesen Ansatz kommt man zwangsweise in eine Oppsotionshaltung, nicht nur zu dieser Regierung, sondern zu allen Kräften, die nachhaltige Lösungen bisher verhinderten oder durch Passivität beförderten. Zu der komplexen Problematik möchten wir Ihnen die gesammelten Artikel auf dieser Themen-Seite nahe legen, um ein vertieftes Verständnis für das Problemfeld zu erhalten.

Eszter Jovánovics ist studierte Juristin, kommt von der ELTE in Budapest, hat sich an der Universität von Nanterre in Paris weitergebildet und beschäftigte sich dort wie hier mit Migrations- und Asylfragen. Nach dem klassischen Einstieg in ein Anwaltsbüro entdeckte sie alsbald ihr wirkliches Berufungsfeld, die Menschenrechte, vor anderthalb Jahren begann sie für TÁST zu arbeiten.

Wie schätzen Sie die Lage der Roma-Minderheit heute in Ungarn ein?

“Um diese Problematik zu erklären, muss man unbedingt einen Blick in die Vergangenheit werfen. Nach Schätzungen leben heutzutage in Ungarn ungefähr 700.000 bis 800.000 Roma, was zirka 7-8% der ganzen Bevölkerung entspricht. Etwa ein Drittel davon lebt in echter, tiefer Armut innerhalb abgetrennter Kolonien (Ghettos) auf dem Land und in Budapest. Die schlimmsten Lebensbedingungen finden wir im nordöstlichen Komitat Borsod vor, generell die ärmste Region in Ungarn.

Vor 1989 war die größte Mehrheit der Roma zumindest in Beschäftigung, sogar 90% der Roma-Männer hatte eine Arbeit. Nach der Wende und der damit verbunden Krise in der Schwerindustrie veränderte sich diese Situation dramatisch. Da die Roma zumeist in diese Industrien beschäftigt waren, verloren sie massenhaft ihre Arbeitsstellen. Über die letzten zwanzig Jahre, wurde diese Situation immer schlimmer, so dass jetzt die Arbeitslosenquote unter Roma extrem hoch ist, nach einigen Schätzungen liegt sie zwischen 70 und 80% unter bei den Männern und sogar 90% bei den Frauen.

Das Problem ist, dass in den Dörfern, in denen sie leben, es objektiv keine Chance auf eine Anstellung außerhalb des öffentlichen Dienstes, also den Kommunen gibt. Hinzu kommt, dass die Ausbildungssituation die meisten zu keiner qualifizierten Tätigkeit befähigt. Dieses Problem wird strukturell in die nächsten Generationen getragen, da rund ein Drittel der Romakinder ethnisch separierte Schulen besuchen müssen, Klassen also, die nur aus Roma bestehen, ein weiteres Drittel von ihnen wird in Schulen für Kinder mit Behinderungen geschickt, obwohl sie gar keine Behinderten sind, aber so klassifiziert werden. In diesen segregierten Schulen ist die Qualität der Ausbildung sehr niedrig, die Zukunftschancen stehen so praktisch schon vom ersten Schultag an bei Null."

Wieso hat sich die Situation aber gerade in den letzten Jahren so verschärft?

"Mit der Verschlechterung der allgemeinen Lage durch die Wirtschaftskrise ist hier in der ungarischen Gesellschaft eine Art Sündenbock-Mechanismus gewachsen. Dieses Gefühl wurde durch den Einfluss der Rechtextremen noch befeuert, doch muss man leider zugeben, dass diese Haltung nicht nur für diese politische Denkrichtung, sondern weit verbreitet in der ganzen ungarischen Gesellschaft ist. Erhebungen sprechen von 78% der Bevölkerung, die irgendeine Form von Abneigung gegenüber den Roma artikulieren. Es herrscht der Konsens, dass die Roma nicht nur für ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Probleme, sondern auch für die der Mehrheit verantwortlich sind, sie praktisch Teil der Wirtschaftskrise sind, was natürlich Quatsch ist.“

„Diese Abneigung steigert sich, dass neben der Arbeitslosigkeit auch die sichtbar schlechten Lebensbedingungen bestimmte Klischees befördern, hinzu kommt die der Armut geschuldete Kriminalität. Sie wird nicht der Armut sondern der Ethnie angerechnet. Weiterhin hat das jüngere Ungarn keine große Tradition bezüglich der Aufnahme ausländischer Einwanderer oder ethnischer Minderheiten. Vor der Wende gab es gar keine inwanderung, die meisten Roma lebten schon hier, hatten aber Arbeit, alle anderen auch, deswegen störten sie niemanden. Auf der anderen Seite waren sie schon damals in eigenen Wohnbezirken angesiedelt und so von der Mehrheit abgetrennt, wenn auch nicht so extrem wie heute.

 

Und die Gründung der Partei Jobbik 2003 tat ihr übriges zur heutigen Stimmung?

"Ja, Schwerpunkt ihrer Politik ist blanker, knallharter Antiziganismus. Sie setzen ihre rassistische Ideologie ein, um auf Wählerfang zu gehen. Damit haben sie einigen Erfolg. Im Jahr 2007 gründeten einige Jobbik-Mitglieder die Magyar Gárda, eine paramilitärische Organisation, die durch die Dörfer und durch Roma-Viertel marschierten, wo sie hasserfüllte Slogans gegen Roma schrien. Die waren wirklich erschrocken, und die Regierung hat nicht wirklich etwas dagegen getan, bis das Gericht die Ungarischen Garde auflöste. (Es folgte dann eine rassistisch motivierte Mordserie mit sechs Todesopfern, Anm.) Allerdings gab es Nachfolger von dieser Organisation, die diese Aktivitäten für die "Gewährleistung der Sicherheit" fortgesetzt haben und immer noch fortsetzen.

Die Vorgänge in Gyöngöspata stellte dann eine neue und geplante Taktik dar. Von einem Tag auf den anderen haben sich die Rechtsextremisten das Recht angemaßt, die öffentliche Sicherheit allein zu gewährleisten, mit dem Hinweis darauf, dass der Staat dies nicht könne bzw. mache. Die "Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“ ("Szebb Jövöért" - Bessere Zukunft - war übringes der Wahlspruch der faschistischen Pfeilkreuzler und ist es auch der heutigen Neonazis, Anm.) ist eine Nachfolgeorganisationen der Ungarischen Garde, die eng mit Jobbik verbunden ist. Zusammen mit Angehörigen anderer paramilitärischer Gruppen ("Véderö", dt. Schutzmacht, "Betyársereg", Räuberschaft, in Anspielung auf alte Mythen, Anm.), führte man im März und April die Aktionen und Aufmärsche in Gyöngyöspata und Hajdúhadház durch.”

Unsere Zeitung hat ausführlich über die Ereignisse in Gyöngyöspata berichtet. Gibt es vielleicht noch unbekannte Aspekte dazu?

“Vielleicht wissen die Leser schon, dass der Selbstmord eines älteren Einwohners des Dorfes als Vorwand benutzt wurde, um die Aufmärsche der rechtsextremen Gruppen zu begründen. Nach Darstellung der Extremisten hat sich der alte Mann das Leben genommen, weil eine Romafamilie neben sein Haus ziehen wollte. Das ist eine ziemlich schwache Motivation für einen Sebstmord, oder nicht? Erstens konnte nie bewiesen werden, dass die Familie tatsächlich dorthin ziehen wollte und zweitens wissen wir heute, dass der alte Mann wirklich gute Beziehungen mit den Roma im Dorf hatte."

Wie schätzen Sie die Reaktion der Regierung bzw. des Staates ein?

"Während der Hass-Eskalation in den ersten März-Wochen war der Staat völlig inaktiv, eigentlich nicht vorhanden. Als die nationale Polizei dann geschickt wurde, verbesserte sich die Situation nur leicht. Da die lokalen Polizisten mit den Milizen sympathisierten, hatten sie bis dahin nichts gegen sie getan. Eine andere wichtige Episode war der Angriff auf eine Romafamilie am 16. April, als deren Haus mit mehreren Steinen beworfen wurde. Die Polizei startete eine Untersuchung auf der Grundlage von gewöhnlichem Verbrechen, aber wir von TÁSZ begannen parallel ein Strafverfahren gegen sie auf der Grundlage von Straftaten aus Hass gegen eine ethnische Minderheit, wie sie auch im Strafgesetzbuch vorhanden sind, von den Ermittlern bis dato in solchen Fällen aber nicht als Grundlage angewendet worden sind. Tatsache ist dabei auch, dass die oben genannten Zahlen zur Abneigung gegenüber den Roma auch für Polizisten und Richter gelten, eigentlich für jedermann. Außerdem ist die Infiltration durch die extreme Rechte in der Polizei ein großes Problem.“

Diskriminieren die Behörden also auch?

„Was in der Regel in unseren Arbeitsbereichen in Borsod und Heves zu erkennen ist, ist eine strukturierte Diskriminierung der Roma durch die Behörden, die mit dazu beiträgt, dass die Roma aus ihrem Elendskreislauf nicht entkommen können. Diskriminierungen sind in diesen Gebieten nicht nur in Einzelfällen manifestiert, sondern man kann sie auch anhand von Statistiken erkennen. So hat eine kürzlich durchgeführte Umfrage gezeigt, dass Personen mit einem "romatypischen" Erscheinungsbild 3-mal häufiger von der Polizei nach dem Personalausweis gefragt werden, als jemand, der nicht wie ein Roma aussieht.

Was kann TÁSZ gegen diese Zustände ausrichten, wie helft ihr mit Eurem Programm?

“Unser Programm ist vor allem deshalb relativ einzigartig, weil wir direkt vor Ort im Geschehen arbeiten. Drei Kollegen gehen regelmäßig zweimal pro Woche auf in die Komitate Heves und Borsod, wo wir in zwölf Siedlungen rechtliche Unterstützungsstationen aufgesetzt haben. Wir fanden Roma-Aktivisten, die repräsentativ für ihre Gemeinde sind und schenkten ihnen Computer, Drucker, Scanner, Web-Kameras. Jeden Tag können Menschen aus der Roma-Gemeinschaft in diese Häuser gehen und mit unseren Rechtsanwälten über Skype über ihre rechtlichen Probleme sprechen. Einer unserer Mitarbeiter besucht sie jede Woche und organisiert Treffen, wo sie über ihre alltäglichen Probleme reden können. Dann bringt der Kollege die diskutierte Problematik hier zu TÁSZ zurück und wir versuchen mögliche Lösungen zu finden.

Unser Hauptziel ist es aber eigentlich, ihnen die Fähigkeiten zu geben, ihre eigenen Interessen zu vertreten und ihre Rechte durchsetzen zu können. Dazu müssen sie jedoch erst mal wissen was für Rechte sie überhaupt haben. Dazu muss man das mangelnde Vertrauen in die Behörden bedenken. Wenn sie dreimal nacheinander zur Polizei gehen, um sich zu beschweren oder etwas anzuzeigen und die Polizei tut nichts, dann werden sie nicht das vierte Mal gehen. Meistens haben sie nicht einmal das Geld, um die Dörfer zu erreichen, wo sich die Polizeistationen befinden. Wir versuchen daher zunächst einzelne Repräsentanten auszubilden, mit dem Auftrag, diese Kenntnisse an die Gemeinschaft zu übertragen."

Damit hilft man zwar konkret, aber doch sehr wenigen?

"Deshalb fördern wir weiterhin strategische Gerichtsverfahren. Wir haben bezahlte Rechtsanwälte, die verschiedene Fälle analysieren. Daraus wählen wir solche für den Gang vor Gericht, von denen wir glauben, dass sie allgemeine Verbesserung für die ganze Volksgruppe bringen. Weiterhin unterstützen und organisieren wir auch andere Maßnahmen, an denen wir nicht unbedingt direkt beteiligt sind, das kann von Spendenaktionen bis hin zu Kulturveranstaltungen reichen.“

Inwiefern sind die Selbstverwaltung der Minderheiten für die Situation mitverantwortlich?

"Das Problem ist, dass das ganze System der Selbstverwaltung nicht funktioniert. Sie haben keine Mittel, keine Pflichten und keine Rechte, es gibt praktisch keine Minderheiten-Vertretung, die diesen Namen verdient."

Gibt es positive Beispiele?

“Ich muss darüber nachdenken...(sie schweigt eine halbe Minute…) Nein, nicht wirklich. Zum Beispiel gibt es diese „Chance für Kinder“ Stiftung, die sich mit Gerichtsverfahren gegen die Segregation im Schulbereich wehrt. Sie gewannen auch schon eine Reihe von Prozessen, aber es blieb ohne Folgen. Die Stiftung kann die Verfahren führen, sie dürfen Verfahren gewinnen, aber dann können sie leider nicht viel für die Durchsetzung der rechtskräftigen Urteile tun.“

Was kann man gegen diese amtliche und menschliche Abneigung unternehmen?

“Wir sind fest davon überzeugt, wenn Menschen aus Budapest, selbst rassistisch eingestellte Leute nach Borsod gehen würden und das tägliche Leben dieser Menschen betrachten könnten, so würden ihre Vorurteile zumindest wackeln. Genau deshalb betreiben wir unser Video-Programm. Ziel ist es, Interviews mit diesen Menschen zu führen, da sie sonst keine Chance haben, in den Medien wahrheitsgetreu aufzutreten. Die Videos kann man bei uns im Internet anschauen. Hätten wir ausreichende Mittel zur Verfügung, möchten wir auch Workshops für  Nicht-Roma beginnen. Die Vermittlung von Kenntnissen - auf beiden Seiten - ist der erste Schlüssel für eine Veränderung der Situation.”

Wer aus TÁSZ und Amnesty International betätigt sich in Ungarn noch auf diesem Feld?

“Es gibt, wie gesagt, die "Chance für Kinder"-Stiftung, weiter das "European Roma Rights Center", auch das ungarische "Helsinki-Komitee". Das Problem ist aber, dass sie kaum vor Ort tätig werden. Amnesty engagiert sich stark für den Schutz der Roma, aber sie haben nicht genügend Leute, um regelmäßig in die Roma-Dörfer zu gehen. Doch ohne Verbindungen mit den Gemeinden, sind Veränderungen fast unmöglich."

Wie sehen Sie die Zukunft, immerhin war die EU-Romastrategie ein häufig betontes Thema der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft....

„Ich habe keine echte Hoffnung bei dieser Regierung und wenig in die EU-Strategie. Nur wirklicher, internationaler Druck könnte die Regierung vielleicht in eine bessere Richtung lenken."

Haben Sie Verbündete in politischen Parteien?

“TÁSZ arbeitet völlig unabhängig von jeder Partei, wir wollen auch keine Finanzierungen von dort. Manchmal machen wir ihnen Vorschläge, wie Gesetze geändert werden könnten, aber einen echten Kanal ins Parlament haben wir nicht. Ich denke, es ist auch sehr wichtig für Menschenrechts-Organisationen von der Politik unabhängig zu bleiben. Vielleicht ist es das den westlichen Ländern nicht so akut, aber in unserem Land ist diese Distanz einfach erforderlich.”

Stefano Solaro

Sie möchten den PESTER LLOYD unterstützen?

LESERPOST & GÄSTEBUCH

 


 

 

 

IMPRESSUM