(c) Pester Lloyd / 39 - 2011 WIRTSCHAFT 29.09.2011
Tosende Büffelherden
Rutscht Ungarn 2012 wieder in die Rezession?
Ziemlich überraschend, doch dann auch wieder nicht, korrigierte das "oppositionelle" Institut GKI die BIP-Prognose für Ungarn 2012 auf -1%, das Land könnte also wieder
in eine Rezession fallen. Dabei wollte die Regierung heute den Haushalt 2012 festzurren und erfand dabei noch schnell eine Weltneuheit, die erste mehrstufige
Flat Tax. Doch Spaß beiseite: die Heilungsversuche der Regierung an einem System, das schon bei seiner Einführung krank war, sind dilletantisch.
Die Absenkung der BIP-Wachstumsprognose für Ungarn 2011 durch das "linksliberale"
Wirtschaftsforschungsinstitut GKI auf +1,5% folgt noch dem allgemeinen Trend, die Aussichten sind bescheiden genug geworden, selbst bei dem vorlautesten aller
Nationalwirtschaftsminister. Doch die Vorhersage, dass das Land 2012 womöglich mit einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung um 1% zu rechnen hat, stellt gerade jetzt, wo
das neue Budget in Sack und Tüten gebracht werden soll, einen echten Tiefschlag dar.
Investitionen um 2,5% gesunken, statt 6,9% gestiegen
Immerhin müssen sich auch die "Experten" einmal fragen lassen, wie es kommt, dass man
- in gleichem Hause - noch am 1. Spetember von einem BIP-Wachstum von 1,5-2% für 2012 ausging und nun, binnen drei Wochen, ins Minus drehte, was immerhin eine
Differenz von ca. 4 Mrd. EUR an Wirtschaftsleistung bedeutet. Nun gibt es immer mehr vernünftige Menschen, die den Wahnsinn, Wohlstand und Existenz einer Volkswirtschaft an
immerwährendes Wachstum zu koppeln als das entlarven was es ist, ein in den Abgrund führender Irrtum. Das nutzt nur leider Ungarn heute und auch im kommenden Jahr
wenig, solange die Staatsausgaben immer noch auf dem Wachstumsirrglauben aufgebaut sind.
Doch zurück zu unseren "Experten". Sie wären ja keine solchen, hätten sie nicht für ihre
Irrungen von gestern heute eine plausible Erklärung. GKI-Chef András Vértes hält vor allem die Investitionsprognosen der Regierung und der sonstigen bisherigen Rechnungen für
vollkommen überzogen (gemeint hier Investitionen von Industrie, Landwirtschaft, Handwerk, öffentlicher Hand insgesamt, nicht nur die ausländischen). Während die
Regierung in diesem Jahr von einem Plus an Investitionen von fast 7 Prozent ausging, errechneten Fachleute bisher einen Rückgang von 2,5% und das trotz der Aufrüstung durch
die vielen internationalen Investoren und den “Neuen Széchenyi Plan”.
Preisfrage: Kreditklemme oder Forintschwemme?
Obwohl sich das "globale und europäische, ökonomische Klima" verdüstert, fährt "Ungarn
eine unberechenbare und populistische Wirtschaftspolitik", die "Investoren vertreibt", zog der GKI-Mann vom Leder, so als hätte es vor dem 1. September diese Politik nicht
gegeben. Vértes fürchtet vor allem, dass das Kreditablösegesetz zu einer extremen Kreditklemme führen wird. Der Chor der westlichen Rating- und Analysekasperl singt das gleiche Lied.
Andere "Experten" erwarten - zumindest für eine Weile - genau das Gegenteil, da einige
Banken-Player darauf spekulieren werden, über die Vergabe von Forintkrediten für die Ablöse von Forex-Darlehen an Marktanteile zu gelangen. GKI rechnet mit Verlusten der
Banken von insgesamt 860 Mio. EUR (die Zahlen hierzu schwanken von 200 Mio. EUR bis 4 Mrd. EUR). Also maximal ärgerlich, aber unnütz allemal und unsozial ohnehin.
Was 2012 passiert, brauchte uns GKI nicht extra an die Wand malen: die geringe
Investitionsrate bedeute ein Nachteil bei der Wettbewerbsfähigkeit, verbaut also auch die Zukunftsaussichten, weniger Steuereinnahmen durch geringere Produktion und
Wirtschaftsleistung, Einbrüche auf dem Arbeitsmarkt (die Arbeitlosenquote verharrt wie betoniert bei knapp 11%), dem Konsum sowieso. Die Kreditklemme, so sie kommt, hebelt
den Forint aus, zum einen müsste die Nationalbank den Zins senken, um Kredite für die Kunden attraktiv zu machen, was aber wiederum die Inflation, die bei rund 4% steht,
weiter befeuern würde. Zum anderen müsste sie ihn anheben, um ihn für Anleger attraktiv zu machen, tut sie das, verteuern sich Kredite für die kleinen Leute wieder...
Vorsicht: Haus-, Hof und Mainstreamanalysten
Zur "Analysten"-Szene in Ungarn ist zu wissen, dass sich diese - ganz ähnlich den
Meinungsforschungsinstituten - selten durch politische Unabhängigkeit auszeichnet. Entweder handelt es sich dabei um verlängerte Arme des neoliberalen, internationalen
Finanzmarktes, um regierungsfreundliche Haus- und Hofanalysten oder um heute selbständige, ehemalige Systemökonomen, die noch dem einen oder anderen in der
Zentralbank oder anderen Insitutionen nahe stehen. Einschätzungen aus diesen Häusern sind also stets mit einiger Vorsicht zu genießen, meist sind sie aus einer bestimmten
Interessensphäre lanciert, als nur kühl kalkuliert.
Perfektes Timing für die Hiobsbotschaft
Bei András Vértes, durchaus ein anerkannter Ökonom, Absolvent der Budapester
Wirtschaftsuniversität "Karl Marx", war Berater der Regierung Gyurcsány, ist die Familienzugehörigkeit klar, nichtsdestotrotz könnten seine Analysen zutreffen, das Timing
war jedenfalls perfekt, was die Sache für die Regierung wie das Volk doppelt bitter macht. Beschreibt doch hier jemand ganz richtig ein Werk der Zerstörung, dessen
systemische Ursache er als Vertreter der "internationalistischen Turbokapitalisten" mit befördert hat und das nun, Dank des ideologisch verblendeten Dilletantismus der
Nachfolger gänzlich aus dem Ruder zu laufen droht, weil man tatsächlich glaubt, mit einem selbstgebastelten Papierfähnchen eine tosende Büffelherde aufhalten zu können.
Das Volk ist erstmal abgetaucht
Das Gewürge um die Flat tax - nur ein Beispiel, die anderen finden Sie im dazugehörigen Ressort - erreichte heute wieder einen Höhepunkt, als die Regierung klarstellte, dass
Einkommen unter 202.000 Forint, die im kommenden Jahr immernoch schlechter abschneiden als unter dem alten System, durch Mehreinnahmen auf anderer Seite
(Verschiebung der schrittweisen Aufhebung des Superbruttos) kompensiert werden sollen. Das ist die erste "mehrstufige Flat tax" der Welt, spottet die Fachpresse, nur ungarischer
Erfindungsreichtum kann so etwas zu Stande bringen.
Heute sollten die Details des Haushaltsentwurfes 2012 vom Kabinett abgesegnet werden, vielmehr als beten kann man nicht mehr. Nimmt man die GKI-Zahlen, dürfte dieses
Budget genauso Makkulatur werden, wie die Budgets der ganz zu Recht untergegangenen "Gyurcsány-Bajnai"-Ära. Wie diesmal die Konsequenzen aussehen, ist noch nicht
abschätzbar, da sich das Volk, Träger aller Lasten, aus der Bewertung dieser für sie überkomplexen Welt vorerst verabschiedet hat und mit einfacher überschaubaren Angeboten Vorlieb nimmt.
J.S. / red. / ms.
Möchten Sie den PESTER LLOYD unterstützen?
|