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(c) Pester Lloyd / 47 - 2011  NACHRICHTEN 21.11.2011

 

Verbotene Menschen

Bürger protestieren gegen die Kriminalisierung von Obdachlosen in Ungarn

Einige Hundert Demonstranten versammelten sich am Freitag vor dem Parlament in Budapest, zu einem Schweigeprotest gegen das neue Gesetz, das Obdachlose zu Kriminellen stempelt. Sie protestieren aber auch gegen eine inhumane, kalt kalkulierende Politik, gegen die Gleichschaltung des Menschen und die Anmaßungen der Mächtigen. Vielleicht wäre eher Zeit zu schreien?

“Wir bekennen uns dazu, dass die Grundlage menschlichen Daseins die Menschenwürde ist.” - “Wir bekennen uns zum Gebot der Hilfe für die Notleidenden und Armen.”

- Aus der Präambel der neuen Verfassung für Ungarn, die am 1.1.2012 in Kraft treten wird.

“Unterkunft statt Gefängnis!”, so die zentrale Kritik der Demonstranten am Freitag, die sich unter selbigem Motto nun auch auf Facebook organisieren. Die pauschale Kriminalisierung von Obdachlosen, ihre Instrumentalisierung als Marketinggegenstände einer populistischen Law-and-Order-Politik, die “beim Volk” mutmaßlich gut ankommt, ist der Hauptgrund ihres Protestes. Hilfe wird durch Strafe ersetzt. Was bei den Zigeunern nun zu klappen scheint, warum sollte es nicht auch bei den Pennern gehn? Der Applaus der “Mehrheit” dürfte gewiss sein.

In der “Obdachlosenproblematik” hatte sich vor allem der Bezirksbürgermeister des VIII. Bezirks, Máté Kocsis, hervorgetan, der durch ein Referendum den “Missbrauch öffentlicher Plätze” beenden wollte und für einen “sauberen Bezirk” warb. Seine “Volksabstimmung” scheiterte, trotz enormer Werbekampagne, an mangelnder Beteiligung. Zumindest ein Hinweis darauf, dass die Mehrheit der Menschen vielleicht doch andere Probleme als drängender betrachtet, wenn man schon kein Mitgefühl mehr unterstellen soll.

Zum Lohn für den menschenverachtenden Einsatz, ernannte ihn Premier Orbán zum “Sonderbevollmächtigten für Obdachlosenfragen”. Nun konnte er das, was er für seinen Bezirk plante, gleich landesweit umsetzen. Ab 1. Dezember wird mit einem neuen Gesetz “aufgeräumt”, Obdachlosigkeit geradezu verboten.

Wer binnen sechs Monaten zum zweiten Mal bei der “sachfremden Nutzung öffentlicher Plätze” ertappt wird, muss mit einer Geldstrafe von bis zu 150.000 Forint rechnen und erhält außerdem ein Strafverfahren verabreicht. Kann er die Buße nicht begleichen: Ersatzhaft. Verweigert ein Obdachloser die Einweisung in ein Asyl: Zwangsvorführung, Verhaftung. Gibt es nicht genug Asyle? Ausnüchterungszellen der Polizei machen es auch. Strafe soll es erst geben, wenn es genug Unterkünfte gibt. Wann das der Fall ist, was genug und was ausreichend ist, bestimmt die Exekutive. Wer sonst. Wo kämen wir sonst hin?

Obdachlosigkeit sucht man sich nicht einfach aus

Dabei ist gar nicht in Abrede zu stellen, dass es auch Obdachlose gibt, die Hilfe verweigern, was von den Befürwortern der Hau-Drauf-Methoden immer ganz besonders betont wird. Es gibt tatsächlich ein Problem und ein Mangel an Lösungen. Daher “müsse” der Staat hier durchgreifen. Anfang Oktober schon, erfroren zwei Obdachlose in Budapest, ausgeplündert von ihren “Kollegen”. “Wer Obdachlosigkeit nicht als ein Polizeiproblem erkennt, hat es nicht verstanden.” diktierte uns da der Oberbürgermeister in die Blöcke. Er war es, der, kaum im Amt, im vorigen Advent die Fußgängerunterführungen “säuberte”. Er hatte ein Jahr Zeit, für genügend Asyle, alternative Wohnmodelle zu sorgen (denn es gibt sie ja, die guten Beispiele). Die Optik war ihm wohl erstmal wichtiger. Frohe Weihnachten auch, Herr OB!

Der Ombudsmann für Menschenrechte drückte es so aus: Obdachlosigkeit steht meist am Ende einer dramatischen sozialen Abwärtsspirale, sie ist aber fast nie gewähltes Schicksal, sondern Ergebnis von oft komplexen Umständen, in jedem Falle Teil eines tragischen Schicksals. Der Menschenrechtsbeauftragte will gegen das Gesetz klagen. Allerdings sollte er sich beeilen, denn auch das Ombudswesen und das Verfassungsgericht werden ab kommendem Jahr in ein “neues System” überführt. Ein kälteres. Seinen für Datenschutz zuständigen Kollegen hat man schon in die Wüste geschickt. Hat die Regierung kritisiert, der Naivling.

Nächstenliebe ist ein Recht, das die Regierung vergibt

Auf dem Foto: die Realität in Budapest. Ein Obdachlosenasyl der Malteser in Budapest am Ende der letzten Woche. Volles Haus. Wer hier keinen Platz mehr bekommt, wird bald Schwierigkeiten kriegen. Die städtischen Abkommen mit vielen Hilfsorganisationen, die teilweise seit zwei Jahrzehnten tätig waren, wurden im Frühjahr gekündigt. Ein "neues System" sollte an ihre Stelle. Ergebnis: weniger Plätze als im Vorjahr, denn auf das Know how vieler NGOs wurde mit dem Hinweis klammer Kassen und “mangelnder Effizienz” verzichtet. Die Regierung bevorzugt heute kirchliche Hilfsorganisationen, Nächstenliebe wird als Exklusivrecht vergeben. Die kommen kaum hinterher. Sogar eine harmlose vegetarische Suppenküche der bezopften Spinner von Hare Krishna, seit Jahren eine fixe Hilfsadresse in der Stadt, wurde von ihrem Standplatz verdrängt. Wer gut ist, bestimmen wir!

Ein Dichter und ein Schild - zwei Symbole

Attila József. Ein Dichter, jung gestorben, einer mit einem sozialen Gewissen und großem Geist, auch als “Dichter der Armen” verehrt. Sein Denkmal am Kossuth tér, neben dem Parlament, könnte bald abmontiert und umgelagert werden, wie das des Gründers der Ersten Republik, Graf Károlyi. Es ist kein Platz mehr für große Geister, Humanisten, nichtmal mehr für Zwischentöne, eine Vielfalt der Ideen, Dialog, Andersdenkende. Alles muss begradigt werden, umbenannt, alles “nationalen Interessen” dienen. Neue Herren schaffen sich neue Denkmäler. Christliche Werte gehören in die Verfassung, nicht auf die Straße! Auch gegen diese Anmaßungen protestierten die Menschen am Freitag, lasen Józsefs Gedichte, hielten Reden, schwiegen wieder, die halbe Nacht lang...

Eine Absperrung am Parlament in Budapest. Das “Betreten verboten”-Schild dort gibt es schon lange. Im Angesicht der jüngsten Ereignisse bekommt es eine klarere, eine erschreckende Bedeutung. Kommen wieder Zeiten, in denen bestimmte Menschen unerwünscht sind, verboten werden, für einen größeren Plan? Auch “damals” fing man bei den Schwächsten an. Was wird dagegen ein Schweigemarsch ausrichten? Vielleicht sollte man endlich wieder lauter werden...

ms. / Fotos: Pester Lloyd (Hannah Hecker, Christian-Zsolt Varga), MTI

 

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