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(c) Pester Lloyd / 07 - 2012      GESELLSCHAFT 17.02.2012

 

Zwischenlager Ungarn

Weggesperrt: Über die Situation von Asylbewerbern in und aus Ungarn

Deutsche Behörden wälzen Asylfälle gerne auf Ungarn ab, ganz legal, nach Dublin II. Dabei kann das Land eigentlich kaum noch als sicherer Drittstaat gelten, wie die Zustände im Asylwesen und die Einschätzung über Herkunftsländer belegen. Europa hat prinzipiell Probleme im Umgang mit Asylsuchenden, in Ungarn, das schon mit sich selbst überfordert ist, treten sie umso krasser zu Tage. Hier werden nicht einmal die eigenen Bürger als solche anerkannt.

Unter großen Protesten wurden letzte Woche vier syrische Flüchtlinge aus München nach Budapest abgeschoben. Bayern versteckt sich dabei hinter der Dublin-II-Verordnung. In diesem Fall tragen prinzipiell die Staaten an den Außengrenzen die alleinige Verantwortung, weil die Binnenstaaten sich aus dieser stehlen. Ist Ungarn noch ein "sicherer Drittstaat"? Menschenverachtender Umgang mit Asylsuchenden ist nicht nur hier ein Problem, doch hat es sich unter der Orbán-Regierung weiter verschärft, wobei man die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite weiß.

Ein Aufgegriffener “Illegaler” in einer Polizeistation an der ungarisch-rumänischen Grenze.

Ungarn attestierte Syrien noch bis vor kurzem quasi die EU-Reife

Problematisch an dem Fall der vier Syrer war vor allem die realitätsleugnende Einschätzung aus Budapest: „dass die Arabische Republik Syrien als ein sicheres Herkunftsland betrachtet werden kann, wo der Abzuschiebende weder aus Gründen der Herkunft, Religion, Nationalität, gesellschaftlicher Zugehörigkeit oder wegen seiner politischen Meinung der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt ist.“ Diese Ansage, quasi der EU-Reife, gilt bis heute, lediglich die direkte Abschiebung wurde "ausgesetzt", nicht wegen des Kugel- sondern des Proteshagels. Pro Asyl berichtet von letzten Abschiebungen bis 11. Januar, also bereits mitten in den offenen Bürgerkrieg hinein. Zynischerweise rühmte sich das deutsche Außenministerium damit, seit April 2011 keine direkten „Rückführungen“ mehr nach Syrien durchgeführt zu haben. Das erledigen ja zum Glück die Staaten an den Außengrenzen. Eine Klage vor dem Münchner Verwaltungsgericht wurde abgelehnt, denn inzwischen sei in Ungarn doch die Erkenntnis gereift, dass Syrien unter den jetzigen Umständen nicht mehr als „sicherer Drittstaat“ deklariert werden könne.

Hinter Schloss und Riegel: Misshandlungen, Haft von Minderjährigen

Nach der Rückführung Ende letzter Woche sitzen die vier Asylsuchenden nun in der nordungarischen Provinz in einem Flüchtlingslager in Balassagyarmat fest, Dank der Gnade der "Aussetzung" der noch vor kurzem angewandten Praxis. Nach Einschätzungen der Referentin für Flüchtlingspolitik der Grünen-Fraktion des Deutschen Bundestages, Jutta Graf, sind die Bedingungen in dem Lager vergleichsweise erträglich. Sie spielt damit auf die verehrenden Zustände des ungarischen Asylregimes an, das bereits mehrmals von dem Helsinki-Komitee kritisiert wurde.

Der Grund für die merkliche Verschärfung des Systems ist eine Ende Dezember 2010 verabschiedet Gesetzesnovelle, die die Rechte sowohl von Migranten als auch von Asylbewerbern erheblich einschränkt. „Irregulär“ eingereiste Asylsuchende werden, entgegen der Genfer Flüchtlingskonvention, sofort inhaftiert und können nun, bis zu 12 Monate dort verbleiben, unabhängig vom Asylbegehren. Besonders dramatisch zeigt sich die Lage bei den „Dublin-Rückkehrern“, denen der gängigen Praxis zufolge unmittelbar bei der Überstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid ausgestellt wird, der wiederum für die meisten eine Inhaftierung mit anschließender Abschiebung bedeutet.

Straßburg verurteilte Ungarn bereits

Rückkehrer, die bereits einen Antrag in Ungarn gestellt hatten, können ihr Verfahren nicht weiter fortsetzen und müssen einen sogenannten Folgenantrag stellen, der aber keine aufschiebende Wirkung bezüglich der drohenden Abschiebung hat. Im schlimmsten Fall werden Asylsuchende abgeschoben, ohne das ihr Antrag in Ungarn oder einem anderen EU-Staat, inhaltlich geprüft wurde. Neben schlechten Haftbedingungen, die zum Teil an Bananenrepubliken erinnern, gibt es Berichte über Misshandlungen oder die Inhaftierung von Minderjährigen, da das Alter bei mangelnden Unterlagen "geschätzt" wird, was weiten Spielraum zulässt. Der Einsatz von Psychopharmaka, Schläge und mangelhafte Gesundheistversorgung sind dokumentiert. Auch die nicht inhaftierten „Dublin-Rückkehrer" erhalten keine angemessene Unterkunft, da sie als Folgeantragsteller behandelt werden und von den Leistungen ausgeschlossen sind, die Asylsuchende im Normalfall zu erkannt bekommen.

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilte Ungarn wegen dieser systematischen Mängel bereits mehrmals. Im letzten Fall musste Ungarn eine Zahlung von je 10.000 Euro Schadensersatz an zwei Asylbewerber aus der Elfenbeinküste leisten, da diese über 5 Monate willkürlich inhaftiert wurden. Einen Präzedenzfall könnte nun ein Urteil von Mitte Januar dieses Jahres schaffen, dass eine „Asyl-Rückschiebung“ eines Sudanesen von Österreich nach Ungarn unterbindet. Der Anwalt des Betroffenen betonte unterdessen, dass der Asylsuchende keines Falls zurück nach Ungarn wolle, wo er bereits mehrere Monate in einem Auffanglager festgehalten wurde.

In Österreich wird Menschenverachtung charmant verpackt

Auch in Österreich ist der Umgang mit Asylsuchenden, dort falsch "Asylwerber" genannt, rüde bis menschenverachtend. Anstatt Inhaftierung gibt es eine "Anwesenheitspflicht" bei der Erstaufnahme, wie überhaupt das ungarische Nachbarland die Dinge viel charmanter zu lösen pflegt. Was in Deutschland schlicht als Abschiebezentrum bezeichnet wird, weil es nichts anderes ist, umschreibt man in Wien als "Kompetenzzentrum für aufenthaltsbeendene Maßnahmen". Die sehen dann auch schon einmal so aus, dass Familien mit Kleinkindern in aller Hergottsfrühe durch ein Polizeisonderkommando aus dem Bett gerissen werden oder sich Polizisten den minderjährigen "Schübling" während des Unterrichts aus einer Schulklasse greifen.

In Österreich regen viele Menschen besonders jene Fälle auf, bei denen längst über Jahre integrierte Zuwanderer aus ihrem Leben und Gemeinden gerissen werden, Kinder, für die das Gastland zur Heimat wurde, leiden für die langsame Bearbeitung der Anträge und das Schicksal ihrer Eltern mit. Pardon ist selten vorgesehen und ein reiner Gnadenakt einer meist eiskalten Bürokratie und zynischer Innenminister. Am Rand sammeln Rechtspopulisten wie FPÖ-Chef Strache das politische Kleingeld ein, sekundiert vom Anti-Ausländer- und Anti-EU-Hetzblatt Kronenzeitung als Sprachrohr der Stammtische.

Jenseits grundsätzlicher Fragen und Bürgerängste ist Humanismus möglich

Katastrophale Zustände im Asylwesen gibt es also in vielen, fast allen EU-Ländern, man denke nur an die Lager in Griechenland, die Umstände in Italien oder Frankreich. Dabei wird häufig ignoriert, dass Asylanten erstmal keine Straftäter sind, sondern aus einer meist nicht selbst verschuldeten existentiellen Notlage heraus (ob politisch oder wirtschaftlich), ein System nutzen, das sich unsere Länder selbst geschaffen haben. Indem man den Flüchtlingen das Arbeitsrecht verweigert, schneiden sich die Länder ins eigene Fleisch, einer Kriminalisierung wird damit sogar Vorschub geleistet. Diese Punkte sollten, jenseits der komplexen Debatte, wieviel Asyl und unter welchen Umständen sinnvoll und verträglich ist, als Teil der Grundrechtepolitik der EU vereinheitlicht, vermenschlicht werden, wie hart man in der Sache auch immer bleiben will oder muss, um den Zustrom aus den Hinterhöfen unseres Wohlstands in Grenzen zu halten. Die Ängste vieler Menschen in Europa müssen eine humanistische Grundeinstellung nicht ausschließen.

Göyngöyspata ist nur ein Hot Spot und wurde zum Symbol für politische und auch amtliche Menschenverachtung. Unsere Reportage.

Ungarn ist mit sich selbst überfordert

Ungarn ist mit der wachsenden illegalen Zuwanderung, vor allem durch Schlepper und Menschenhändler (über Serbien, Rumänien) überfordert und auch weitgehend alleingelassen. Hinzu kommt, dass die neue Law-and-order-verliebte Regierung nicht lange fackelt und wenig Rücksicht auf Menschenrechte und andere Gutmenschenhobbys nimmt. Man darf dabei nicht vergessen, dass Ungarn nicht einmal alle eigenen Bürger als gleichwertig behandelt, was man am Umgang mit dem ärmsten Teil der rund 7% ausmachenden ungarischen Roma sehen muss, aber auch an der Kriminalisierung von Obdachlosen erkennt. Generell neigt sich Orbánistan mehr und mehr nach 1984 als ins 21. Jahrhundert, wie zuletzt eine Novelle des Strafgesetzbuches zeigt, in deren Schatten eine Haft für Asylanten nur als logische Anpassung an den Mainstream erscheint.

Die Zahl der Roma, die in Kanada um Asyl baten, hat sich seit dem vorletzten Jahr fast verdoppelt, genauer ist sie von 2.300 im Jahr 2010 auf 4.409 im Jahr 2011 angestiegen. Kein gutes Zeugnis für die “nationale Romastrategie”. Der kanadische Minister für Migration Jason Kenney ist fassungslos, dass das „demokratische Europa mehr Asylbewerber schickt als Afrika oder Asien.“ Bis zu 2000 Dollar Rückkehrprämie bietet man den "fahrenden Gesellen" nun an um sie wieder loszuwerden und droht Ungarn mit einer Verschärfung der Visumspflicht.

Juden, Araber, gar Slowaken! - Ungarns Angst vor Einwanderungswellen

Ungarn hat also mehr ein Problem mit sich selbst als ein Ausländerproblem. Die xenophobe Stimmung in dem wirklich nicht gerade überrannten Land ist enorm, die "Palästina-Taktik" der Rechtsradikalen, die Ungarns drohende Fremdbeherrschung propagieren und die stramm nationalistisch bis revanchsistische Politik der Nationalkonservativen hinterlassen Spuren, doch auch sonst war die Toleranz gegenüber "Fremdländern", wie sie hier heißen, nie sehr hoch.

Aktuelle Zahlen des Tárki-Institutes sagen aus, dass 58% der Befragten "glauben, dass Ungarn eine große Einwanderungswelle bevorsteht", die meisten denken, Chinesen werden ins Land spülen (immerhin neuer "strategischer Partner" der Regierung). 29% fürchten sich vor einer Einwanderungswelle größeren Ausmaßes von Juden bzw. Israelis, ein Viertel glaubt indes, die Araber werden kommen, wollen wir für unser Land nur hoffen, dass nicht beide Gruppen auf einmal anrücken. 19% sehen Afrikaner ins Lande drängen und 11% glauben an den worst case: Slowaken!

 

Trotz der oben geschilderten Zustände wünschen sich 35% strengere Einwanderungsgesetze, 63% finden es in Ordnung Einwanderer (wohlgemerkt nicht nur Asylsuchende) unter "strenger Aufsicht" zu behalten. Zudem wünschen sich fast zwei Drittel, dass Kriminalitätsstatistiken ethnisch aufgeschlüsselt werden. 55% glauben, dass ein Anwachsen der Zuwanderung die Terrorismusgefahr vergrößert, rund die Hälfte will keine Roma als Nachbarn, 43% keine Araber, Chinesen werden nur von einem Drittel abgelehnt. Eine andere Umfrage fand heraus, dass fast 90% aller Ungarn ein "Zigeunerproblem" haben. Eine Zahl, die für ganz Europa repräsentativ sein dürfte

Die begründete Angst der Bürger um die eigene Existenz als Ergebnis des Totalumbaus der Gesellschaft durch die aktuellen Machthaber, lässt, wie immer, als erste die Schwächsten der Gesellschaft unter die Räder dieses barbarischen Wechselspiels kommen, ob als Opfer staatlicher Gewalt oder als Sündenböcke für die manipulierte Volksmasse.

Antje Lehmann, red.

 

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