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(c) Pester Lloyd / 18 - 2012     GESELLSCHAFT 02.05.2012

 

Jeder tanzt für sich allein

Rituale und Plagiate: Impressionen vom 1. Mai in Ungarn

Die Mehrheit der Ungarn nützten den 1. Mai für Familienausflüge, das Angrillen auf der Dacia, zur Erholung. Parteien und politische Gruppen demonstrierten - jeder auf seine Weise - ihre Uneinigkeit und den Hass im Lande. Es gab Demonstrationen von Links und Ultrarechts, es wurden Europafahnen geschwenkt und verbrannt, eine neue Partei gegründet, 200 chinesische Investoren durchs Land geführt. Die Regierung verteidigte wieder die Nation gegen "internationale Attacken". Thema Nr. 1 waren jedoch die Plagiatsanschuldigen und die Verteidigungsreden von Ex-Premier Gyurcsány. Ein Rundgang.

“Arbeit, Brot und Lebensunterhalt” fordern übersichtliche Mengen an Gewerkschaftern

Gewerkschafter und Sozialdemokraten über Kreuz

Die Lage der Arbeiter in Ungarn ist heute wieder dergestalt, dass man Millionen Menschen auf den Straßen demonstrieren sehen sollte. Doch kaum einer der "Betroffenen" mochte den schönen Tag politischer Aktion widmen, die doch nur verpufft, viel lieber will man im Privaten feiern, jeden Anlass nützend, den Alltag zu vergessen. Bei der Art politischer Vertretung, die derzeit angeboten wird, kann man die Weisheit des Proletariats nur loben, wenn damit auch niemandem geholfen sein mag.

Gerade einige Tausend Menschen fanden sich beim traditionellen Aufmarsch der Gewerkschaften Richtung Stadtwäldchen ein. Noch viel weniger, ein paar Hundert vielleicht, Sozialdemokraten liefen in einer extra Kolonne und kamen sich - was irgendwie sehr passend war - mitten auf dem Weg mit den Gewerkschaften in die Quere. Die MSZP hatte, wie immer, im Stadtwäldchen eine Bühne aufgebaut und einige Stände. Etwas abseits davon ließen sich auch die Kommunisten und die LMP nieder. Es gab das übliche Gemenge aus Reden, Musik, Würstchen und Bier, das man als Mai-Tradition bezeichnet, was aber nicht viel mehr als ein erkaltetes Ritual geworden ist.

Vertreibt die Räuber, das ist unsere Heimat... Bühne beim “Nationalen Maifest”

Große Familiensause bei den Neofaschisten

Gleich für mehrere Tage lud die neofaschistische Partei Jobbik auf die Hajógyari, eine Donauinsel zu den "Nationalen Maifeiern". Die gruselige Sause hat sich die Partei einiges kosten lassen, neun "Szenebands" traten auf, es gab ein großes Festzelt, Hüpfburgen für die lieben Kleinen, Ritter und Reiterspiele sowie diverse Informations- und Verkaufsstände. Zu kaufen gab es jede Menge an revisionistischer und antisemitischer "Literatur", natürlich auch alle mögliche Großungarn-Devotionalien und „nationale Spezialitäten“ wie "Das Bier der Ungarn" und Lángos in Form von Großungarn (ok, das war eine Phantasie von uns), auch der bekannte Pálinká-Hersteller Rézangyal war präsent, vielleicht sollten sich diverse Importeure solcher "Geister" einmal prüfen, ob es nicht Alternativen gibt.

Gesammelte Hassfiguren der Rechten: vom derzeitigen Regierungschef, den Ex-Präsidenten, Roma, schwul-linke-Theaterleiter, jüdische Schriftsteller etc. Stimmts, zu denen gehörst Du nicht, fragt das Plakat. Komm lieber zu uns...

Ohnehin ist festzustellen, dass im Umfeld der Jobbik eine nationale "Industrie" zu entstehen scheint, bei der nicht wenige "normal" wirkende Unternehmen mitmachen. Aber das ist ein anderes Thema. Wirklich erschreckend erschien bei unserem Augenschein die Normalität mit der menschenverachtender Hass als Familienfest betrieben wird und kein Hahn dagegen kräht.

Ein Kind mit einem “88”-T-Shirt, in der Neonaziszene der Code für H.H. (Heil Hitler, 8. Buchstabe im Alphabet)

So wie anderswo ein Feuerwerk, beschließt bei den Jobbiks regelmäßig das Ritual des Fahenmordes die Feste. Kürzlich noch verbrannten Jobbik-Abgeordnete (davon auch einer des EU-Parlamentes) auf offener Bühne eine EU-Flagge, diesmal entfernte man - symbolisch zum 8. Jahrestages des EU-Beitritts Ungarns - die EU-Flagge vom Haus der Abgeordneten. Die beiden Parlamentarier, Elöd Novak und Levente Murányi, gleichzeitig Jobbik-Vorstandsmitglieder und schon länger als verhaltensauffällig bekannt, verlangten dazu ein Referendum über bzw. den sofortigen Austritt aus der EU, die "unserem Land nichts Gutes bringt." und drohten wieder mit der baldigen Machtübernahme durch ihre Partei.

Orbán ist der einzige, der wirklich was tut

Premier Orbán nutzte den Tag der Arbeit um Arbeitsplätze zu schaffen, denn nichts Dringlicheres, außer vielleicht ein paar Milliarden zum Schuldenzahlen, braucht Ungarn derzeit. Er beschäftigte sich mit dem chinesischen Vizepremier, der an der Spitze einer 200köpfigen Wirtschaftsdelegation durch das Karpatenbecken streifte, auf der Suche nach lohnenden Investitionsprojekten.
Beitrag dazu hier.

Tag der nationalen Selbstverteidigung

Der Rest der Regierung beschäftigte sich wiederum mit nationaler Selbstverteidigung. Orbáns Stellvertreter und Minister für Justiz und den Öffentlichen Dienst hielt bereits am Sonntag eine Ansprache im Radio, in der er nochmal den
ungarischen "Sieg" in Brüssel feierte. "Die großangelegte Transformation der ungarischen Institutionen hat einigen Streit verursacht, doch all die angedrohten Strafen der EU gegen Ungarn lösen sich in Nebel auf...", so die Kernaussage. Er bedauerte, dass man wohl nicht "alle Änderungen, zu denen wir von den Wählern authorisiert worden sind" bis zur nächsten Wahl 2014 umsetzen können wird, doch das Kabinett werde weiter vorangehen und wird lieber zu schnell und dafür fehlerhaft arbeiten als auch nur einen Lebensbereich auszulassen und dadurch vielleicht Wähler zu enttäuschen (sinngemäß).

 

Die "Attacken gegen Ungarn" seitens der EU sieht Navracsics als "Stellvertreterkrieg". Da Brüssel nichts wirksames gegen die Euro-Krise einfällt, suchte man sich "irgendjemanden", dummerweise ausgerechnet Ungarn, auf den man einschlagen konnte. Das "neue ungarische Gesellschaftsmodell" bot dafür eine dankbare Vorlage. Navracsics log ungeniert, als er erklärte, die "Kommission folgte sämtlichen ungarischen Argumenten hinsichtlich des Zentralbankgesetzes (bis dahin stimmts, Anm.), dem Datenschutz sowie der Justizreform." Vor Gericht gingen lediglich "zwei technische Fragen".

Neusprech gab es auch wieder hinsichtlich zweier internationaler Einmischungen beim Mediengesetz. Sowohl der Europäische Rat als auch das amerikanische Politikinstitut Freedom House erneuerten und vertieften ihre Kritik an den parteinahen Strukturen und mehr oder weniger unkontrollierbaren Machtbefugnissen der Medienbehörde sowie der offenbaren Gleichschaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Während die Kritik des Rates Anlass für erneute Verfahren der Kommission geben könnte, stufte Freedom House Ungarns Medien von "frei" auf "teilweise frei" herunter, womit sich das Land auf einem Level mit Bulgarien und am Ende der europäische Skala bewegt.

Neusprech aus dem Wahrheitsministerium...

Die Antworten darauf, sowohl des Medienrates wie auch des Staatssekretariats für Regierungskommission (Wahrheitsministerium) waren so stereotyp wie typisch. Die Versatzstücke sind austauschbar, hohl und werden im politischen Budapest jeden Tag aufs Neue aufgeführt: alles "basiert auf Fehlinterpretationen", man sei "auf Linie mit EU-Recht", der Medienrat sieht sogar noch "die Chance" auf einen "objektiven und fehlerfreien Bericht", wenn die Ausländer sich endlich zu der vorgeschlagenen "technischen Kooperation" mit "kompetenten Mitarbeitern der Medienbehörde" bereit erklären würden. Regierungssprecherstaatssekretär Kovács nannte den Freedom House-Bericht "unbegründet und parteiisch". "Die US-Organisation hat es wieder mal nicht geschafft einen Bericht abzuliefern, der frei von politischer Wertung und Motivation ist." Er ist "Teil einer konzertierten Kampagne, die es sich zum Ziel macht Ungarn zu diskreditieren und außerdem ein Beispiel für Doppelstandards."

Die Pressemeute ist bald größer als die Anhängerschar: Ex-Premier Gyurcsány im Fokus

Rache für Schmitt - die nächste Balaton-Lügenarbeit von Gyurcsány?

Zentrales Thema der ungarischen Maifeierlichkeiten war jedoch der Plagiatsvorwurf gegen Ex-Premier und DK-Parteichef Ferenc Gyurcsány. In Kürze: seine Diplomarbeit an der Uni Pécs ist nicht auffindbar, deren Thema ist jedoch auffallend identisch mit einer Arbeit seines späteren Schwagers. Beide handeln vom Weinanbau am Nordbalaton. Der regierungsnahe Sender HírTV gibt sich als großer Aufdecker und versucht darzustellen, dass Gyurcsány die Arbeit nur deshalb nicht herausrücken mag, weil man ihn dann des Plagiats überführen könnte.

Im Unterschied zu den Aufdeckungen der Zeitschrift HVG, die Präsident Schmitt des Betruges überführten, legt Hír TV keine Beweise vor, sondern führt das Fehlen von Entlastungsmaterial als ausreichenden Beweis an. Der Angegriffene, berühmt geworden mit einer Rede (auch am Balaton gehalten), in der er zugab, das gesamte ungarische Volk über Jahre nach Strich und Faden belogen zu haben, verteidigte sich vor seinen Anhängern am 1. Mai erbost: Der Fidesz-Forschungsdirektor der Pécser Uni hat die Arbeit offenbar veschwinden lassen, damit er, Gyurcsány, sich gar nicht erst verteidigen kann. Es selbst hat sie nicht mehr, irgendwo zu Hause vermüllt, wie er zuvor angab.

Alles sei ohnehin nur eine politische Rufmordkampagne, um sich für den peinlichen Abgang von Ex-Präsident Schmitt zu rächen und ihn, Gyurcsány, "politisch zu ermorden". Doch Zombies sterben bekanntlich nicht, denn als solcher und als Fluch der demokratischen Opposition ist Gyurcsány im politischen Sinne seit April 2010 zu betrachten. Die immer sehr beflissene Fidesz-Sprecherin Selmeczi wünschte Gyurcsány in die ewigen Jagdgründe der Politik, die Nationenverteidiger von der KDNP und die Fidesz-FDJ Fidelitas schlossen sich der Forderung an. Die Sprecherin der DK-Partei meinte, die Regierung wolle ohnehin nur von den erneuten
Sparmaßnahmen und zusätzlichen Steuern im Széll 2.0 Plan ablenken und ausgerechnet ein Abgeordneter der Neofaschisten erinnerte daran, dass "jeder Politiker Glaubwürdigkeit demonstrieren muss." Es lebe der 1. Mai...

PK, red., Fotos: Philipp Karl (c) Pester Lloyd, MTI

 

 

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