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(c) Pester Lloyd / 34 - 2012   POLITIK 20.08.2012

 

Wahlkampfpläne des Hauptbuchhalters

Ex-Premier rechnet Chancen für Machtwechsel in Ungarn durch

Für seine Analyse nimmt der Think tank des Ex-Wirtschaftsprüfers und Ex-Premiers Bajnai in buchalterischer Genauigkeit die 106 unter dem neuen Wahlgesetz geformten Wahlkreise unter die Lupe. Ergebnis: Selbst bei optimaler Kooperation der demokratischen Opposition ist ein Machtwechsel 2014 unwahrscheinlich. Viel eher schon besteht die reale Gefahr, dass die neofaschistische Jobbik die meisten Direktmandate einheimst. Die Effekte von Wählerregistrierung und Stimmen der Auslandsungarn bleiben große Unbekannte.

Tut er es sich nochmal an? Ex-Premier Bajnai spielt sicher mit dem Gedanken einer Kandidatur gegen Orbán, doch die offene Zusage fehlt genauso wie eine Plattform, die ihn trägt.

In unserem aktuellen Beitrag über den Zustand der politischen Opposition in Ungarn erwähnten wir die Zurückhaltung von Ex-Premier Gordon Bajnai, der zwar regelmäßig fundierte Kritik am Orbán-Staat übt, sich selbst aber ob eines Comebacks bedeckt hält. Dessen Politstiftung "Heimat und Fortschritt" hat jetzt eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass sich die Bajnai-Gruppe ziemlich genaue Gedanken macht, wie die Macht in Ungarn zu erorbern sei.

Festungen, Swinging states und Kannibalenkreise

 

Für seine Analyse nimmt der Think tank des Ex-Wirtschaftsprüfers und Ex-Premiers Bajnai in buchalterischer Genauigkeit die 106 unter dem neuen Wahlgesetz geformten Wahlkreise unter die Lupe: 28 Bezirke werden demnach als uneinnehmbare Festung der Regierungspartei eingestuft, 16 als für die linke Opposition eroberbare, in weiteren 6 städtischen Kreisen sieht Bajnai die Chance auf eine relative Mehrheit nichtrechter Kandidaten. Diese relative Mehrheit genügt ja hinfort für die Erlangung des Direktmandates, die etwas mehr als die Hälfte aller 200 (+/- 10 Ausgleichsmandate, - einige für Ethnienvertreter reservierte) Mandate ausmachen sollen.

In immerhin schon 15 Wahlkreisen sieht das Bajnai-Institut die neofaschistische Jobbik vor Fidesz, in weiteren 14 kämpfen ausschließlich die Nationalkonservativen und die Neonazis um das Mandat. 11 Kreise sieht man als "tripolar", wo sich Fidesz und Jobbik bei gleichzeitiger Einigkeit der linken Opposition kannibalisieren könnten. 16 Wahlkreise sieht die Studie als "Swing States", die, je nach Kandidaten und beherrschenden Themen sowohl nach links oder nach Rechts ausschlagen könnten.

Neofaschisten könnten von Erststimmensieger werden

Bei einem entsprechend zugespitzten Wahlkampf, weiterer Verelendung der Bevölkerung und noch dem einen oder anderen persönlichen Ausrutscher oder einem Anlass mit ethnisch aufgeladenem Hintergrund während der Wahlkampagne, könnte also ein worst case heraufbeschwört werden, der bis zu 40 der 106 Wahlkreise in die Hände von Neofaschisten gibt. Wenn auch die linke Opposition ihre Möglichkeiten voll ausschöpft, hieße das die relative Mandatsmehrheit für Jobbik bei den Direktmandaten.

Entscheidend für das Gesamtergebnis würde dabei das Verhalten der Wähler hinsichtlich der Zweitstimme sein. Möglich, dass viele einem besonnders "starken Mann" in ihrer Kommune die Stimme geben, aber landesweit lieber auf die "moderatere" Autokratie der Orbán-Partei setzen, die so ihre Mehrheit retten könnte, auch wenn sie hinsichtlich der Direktmandate eigentlich "abgewählt" wäre. Und so ist es im neuen System letztlich auch mit 23% der Zweitstimmen (derzeitiges Umfrageergebnis für Jobbik) oder sogar weniger möglich, die Mehrheit der Direktmandate zu erringen, was auch die Ergebnisse der Wahlumfragen in ein aussageblasseres Licht taucht.

Vorschläge an demokratische Opposition für 2014 unrealistisch

Die einhundertseitige Studie schlägt drei verschiedene Szenarien vor, die der demokratischen Opposition die höchsten Chancen auf ein bestmögliches Ergebnis einräumen würden: 1. von vornherein überall gemeinsame Kandidaten aufstellen, 2. den jeweils aussichtstreichsten Kandidaten aufstellen, während die anderen zu seinen Gunsten verzichten 3. eine gemeinsame Wahlplattform (Partei) gründen. Wie hier nachzulesen, können alle drei Varianten zumindest für 2014 als undurchführbar gelten. Selbst wenn der "best case" der Bajnai-Studie für die Linke einträte, hieße das noch immer Opposition, denn mit 22 gewonnenen Wahlkreisen von 106 und maximal 30% Zweitstimmen kann man in diesem Parlament nicht mehr viel anfangen, sind doch die meisten Gesetze, einschließlich der großen Demokratiesünden längst über eine 2/3-Mehrheit verriegelt worden.

Gleichmäßige, landesweite Unterstützung unabdingbar

Abschließend weisen die Autoren der Studie, dabei federführend der ehemalige Kabinettschef von Bajnai, daraufhin, dass ein Machtwechsel nur für eine Partei möglich ist, die gleichmäßig über das ganze Land verteilt Zustimmung erntet, was ja durchaus im demokratischen Sinne ist, für die Stärkung der fast immer zunächst im urbanen Raum entstehenden Bewegungen jedoch eine besondere Hürde darstellt. Eine Partei, die nur in Budapest und einigen Regionen (gemeint hier die MSZP und die LMP) eine hohe Zustimmung haben, werden die derzeitige Regierung nicht ablösen können, wobei sich LMP und MSZP vor allem im urbanen Raum sozusagen gegenseitig im Wege stehen, wie der Sieg des Fidesz im eigentlich mehrheitlich links-liberal gesinnten Budapest im Oktober 2010 verdeutlichte.

Nominierungshürden, Gerrymandering, Auslandsungarn und Wählrregistrierung
als X-Faktoren

Außerdem bedarf es schon bei der Nominierung der Kandidaten einer recht breiten Unterstützung, die Verdopplung der geforderten Unterstützerunterschriften und die verkürzte Zeit dafür, sind eine klare Behinderung kleinerer Parteien im neuen Wahlrecht. (Links dazu am Ende des Textes) Die Studie geht indirekt auch auf den Vorwurf des "Gerrymandering" im neuen Wahlrecht ein, wo durch die Neuziehung der Grenzen von Wahlkreisen Hochburgen der Opposition entschärft werden könnten. Man kommt zu dem Schluss, dass diese Problematik relativ schwer eingrenzbar ist, da die vermeintlichen Hochburgen der "Sozialisten" ohnehin alle in den letzten Wahlen gefallen sind, also auch noch unter dem alten System.

Der Faktor Wahlrecht für Auslandsungarn wurde ebenfalls nur am Rande berücksichtigt, Fidesz rechnet mit 80% der abgegebenen Stimmen in den "besetzten Gebieten", was der Partei Dank des großzügig verschenkten Passes ein zusätzliches Wählerrerservoir einer mittleren Großstadt schenken soll. Andere Beobachter rechnen da nicht so optimistisch. Auslandsungarn werden, nach jetziger Planung, nur eine Zweitstimme für die Parteilisten haben, was im übrigen verfassungswidrig und gegen den Grundsatz freier, gleicher und allgemeiner Wahlen der EU-Grundrechtecharta verstößt. Ganz abgesehen davon, ist es - zumindest aus Sicht der Regierenden Rumäniens und der Slowakei - auch ein Eingriff in die Souveränität ihrer Staaten und eine Attacke auf die "Loyalität der Staatsbürger" gegenüber dem Staat, in dem sie leben.

Effekte der Wählerregistrierung noch unbekannt

Eine weitere Unbekannte bleibt die von Fidesz angestrebte verpflichtende Wählerregistrierung.  Fidesz argumentiert, dass eine Eintragung ins Wählerregister einen bewussten politischen Schritt darstellt und die Wahlergebnisse so nicht durch "Unbeteiligte" verzerrt werden, denen das politische Schicksal des Landes einerlei sei. 70% der Ungarn sind jedoch dagegen, ihr als Staatsbürger erworbenes Wahlrecht nochmals durch eine zusätzliche Registrierung absichern zu müssen. Aber das interessiert die Anhänger der Regierungspartei genausowenig, wie der Umstand, dass bildungsferne Schichten noch weiter von der Politik entfernt werden.

Nachvollziehbarerweise unterstützen 82% der Anhänger der Regierungsparteien die Pflichtregistrierung, wie eine aktuelle Umfrage zeigt. Dass auch 66% der MSZP- sowie 74% der Jobbikanhänger die Registrierung gut finden, zeigt, dass die drei Parteien mit den besten landesweiten Struktur sich Vorteile von der Regelung erwarten.

Gordon Bajnai bei Opfern des Hochwassers von 2010 in Nordostungarn. Viele Ärmere, zumal die Roma würden ihn sicher wählen, doch werden sie sich auch die Mühe einer Wählerregistrierung machen?

Der konservative Verfassungsrechtler und Ex-Präsident Sólyom nahm die Idee zum Anlass, in ungewohnt scharfen Worten die Orbán-Regierung als verfassungsfeindlich zu brandmarken, immerhin sei in der Verfassung das Volk und nicht der registrierte Wähler als Souverän benannt. Mehr dazu. Sólyom legte letzte Woche in einem Interview mit der regierungstreuen Zeitung Heti Válasz nochmals nach und bezichtigte die Orbán-Regierung, "die verfassungsmäßige Ordnung" in Ungarn "ruiniert" zu haben. Auch andere Länder der Region, wie Tschechien, die Slowakei oder Polen, bekämpften die Krise erfolgreich, ohne dabei ihre Verfassungstradition aufzugeben. Die "Erfolge", die die jetzige Regierung vorweisen könne, rechtfertigen in keiner Weise ihre Methoden, so Sóloym.

Bajnai zu brav für eine aussichtsreiche Kandidatur?

Tenor der Analyse aus dem Hause Bajnai ist, dass nur eine breite Mobilisierung der Nichtwähler, die unter den Wahlberechtigten seit mehr als einem Jahr die absolute Mehrheit stellen, was wohl überhaupt erst zu der Idee der Wählerregistrierung führte, verbunden mit einer relativen Einigkeit und einer deutlichen Formulierung von Polit- und Handlungsalternativen Chancen bietet, die Orbán-Regierung irgendwann auf demokratischem Wege loszuwerden.

Diese Erkenntnis ist nicht neu, es fehlt - neben alldem - auch Bajnais Bereitschaft, sich als Kompromisskandidat an die Spitze einer solchen Bewegung zu stellen. Wozu, fragt man sich, hat er sich sonst so viel Arbeit gemacht? Er gilt zwar als linksstehend, ist aber parteilos, seinem Think tank gehören jedoch auch MSZPler an. Könnte er sich von diesen lösen und eine Art "Bürgerpartei" gründen, würden ihm sicher viele folgen, die beim letzten Male aus Übermut oder Verzweiflung den Fidesz-Parolen erlagen, aber auch jene, denen die politische Existenz der MSZP / DK etc. so sinn- wie nutzlos erscheint, wie sie tatsächlich ist. LMP und die anderen könnten dieser Bewegung dann mit ihren jeweiligen Nuancen folgen, wahrscheinlich müssten sie es sogar.

 

Bajnais knapp einjährige Tätigkeit als Übergangspremier während der schlimmsten Zeit der Lehman-Krise wird auch über Blockgrenzen hinaus (natürlich abgesehen von den Fidesz-Giftspritzen für die alle, links von ihnen Landesverräter waren und sind) als fachlich sauber und im Rahmen des möglichen als solide beschrieben. Er war sozusagen ein Hauptbuchhalter auf dem Premierssessel, dessen Tätigkeit Ungarn die komplette Zahlungsunfähigkeit ersparte, wenn auch zum hohen Preis weiterer Kredite (erstes IWF-EU-Paket) und der erste Reformen auf den Weg brachte, die dem Land einen Ausweg weisen sollte, ohne dass es nach Oben und Unten zerrissen wird.

Außerdem sind Bajnai verbale und politische Radikalisierung fremd, immer wieder hat er versucht, die ungarische Politik auf den Weg der Rationalität zurück zu führen, was ihn menschlich ehrt, ihn aber als Wahlkämpfer im heutigen Ungarn eher behindern muss. Denn nicht nur hier in Ungarn besteht das Paradoxon an den Wahlurnen darin, dass sich die Mehrheit der Menschen nach Ruhe und Frieden sehnt, aber in der Wahlkabine dann doch meist dem lautesten und kriegerischsten Wahlkämpfer das Vertrauen "schenkt".

red. / ms.

Splitter zwischen Blöcken - Aug. 2012
Zustand der Opposition in Ungarn bleibt hoffnungslos
http://www.pesterlloyd.net/html/1233oppositionzustand.html

Präsidiale Kopfwäsche - Aug. 2012
Ungarn streitet über Wählerregistrierung - Ex-Präsident Sólyom warnt vor Grundrechtsverstoß
http://www.pesterlloyd.net/html/1232redesolyom.html

Gebrochene Wirbel
Ex-Premier übt scharfe Kritik an der Orbán-Regierung in Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/2012_02/02bajnai/02bajnai.html

Mogelpackung
Verzerrungen und Wähler 2. Klasse im neuen Wahlrecht für Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/html/1217wahlrecht.html

Frei nach Darwin
Neues Wahlrecht in Ungarn behindert kleine Parteien
http://www.pesterlloyd.net/2011_40/40wahlrecht/40wahlrecht.html

Außenpolitisches Minenfeld
Chancen und Risiken eines neuen Wahlrechts für Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/2011_16/16wahlrecht/16wahlrecht.html

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