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(c) Pester Lloyd / 47 - 2012   GESELLSCHAFT 24.11.2012

 

Auf gepackten Koffern

Immer mehr junge Ungarn verlassen ihr Land

Es sind die Besten, die gehen und sie werden immer mehr: qualifizierte Facharbeiter, Akademiker, Ärzte, aber vor allem junge Absolventen und zunehmend auch Studienanfänger. Die meisten gehen gegen ihren Willen, werden regelrecht vertrieben von fehlenden Arbeitsplätzen, prekärer Beschäftigung und Perspektivlosigkeit. Folgen der Wirtschaftskrise, verstärkt von einer ideologisch festgefahrenen und zynischen Regierung, der ihre "neue Generation" nicht einmal die Wahrheit wert ist, sondern die sie am liebsten einsperren möchte.

Erbe, Eurokrise und Hausgemachtes

 

Die deutsche Statsitik weist einen Anstieg ungarischer Einwanderer im ersten Halbjahr 2012 von 46% gegenüber dem Vorjahreszeitraum aus. 25.415 Ungarn haben in den ersten sechs Monaten Ungarn offiziell Richtung Németország verlassen. Schon 2011 betrug der Anstieg gegenüber 2010 33%, insgesamt über 41.000 Personen. Zwischen 1996 und 2006 suchten im Schnitt pro Jahr zwischen 16.000 und 18.000 Ungarn ihr Glück in Deutschland, seit 2007 ging es schubweise nach oben, aber nie so stark wie in den letzten zwei Jahren. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei nur ein kleiner Katalysator dieses Trends gewesen.

Zuzug aus Ungarn nach Deutschland, zum Vergrößern Grafik (index.hu) anklicken.

Dass die Auswanderungswelle sich beschleunigt, hat für Ungarn ähnliche Gründe wie für Spanier und Portugiesen (+53%) und erst Recht die Griechen (+78%). Der Arbeitsmarkt bietet nicht genügend Arbeit und schon gar keine ausreichend bezahlte Arbeit, gleichzeitig verschärfte sich durch Überschuldung und Sozialabbau die Einkommenslage dramatisch. Da die Nachfrage vor allem nach Facharbeitern in Deutschland, aber auch Österreich und Großbritannien zeitgleich anstieg, ohne dass den Ungarn im eigenen Land eine Perspektive dräut, ließ letztlich die Dämme brechen, analysieren Sozilogen und Volkswirte und verweisen auf eine Mischung aus Krisenfolgen, disproportionaler Entwicklung in Europa und hausgemachten Malaisen.

Der Zuzug nach Deutschland aus den 2004 beigetretenen Ländern, also z.B. Polen, Tschechien, Slowakei, Baltikum, erhöhte sich im Schnitt um 20% (Ungarn inbegriffen, die Zuwanderung insgesamt um 15%), das ist ein Hinweis darauf, dass es Länder in Osteuropa gibt, die sowohl mit der Krise als auch mit ihren Menschen anders umgehen.

Prekäre Arbeitsverhältnisse als Standard und keine Besserung in Sicht

In einem Jahr verlor die ungarische Wirtschaft netto fast 40.000 Arbeitsplätze und "Beschäftigung" wird überwiegend in unterbezahlten, gesamtwirtschaftlich aber sehr teuren kommunalen Beschäftigungsprogrammen geboten, die nur der Statisik helfen. Während investitionswillige Großkonzerne mit Sonderkonditionen gelockt werden und auch tatsächlich neue Arbeitsplätze schaffen, verlieren monatlich Hunderte ihre Jobs bei in den Bankrott rutschenden Unternehmen, die jetzt erst die Zeche der Krise zahlen, nachdem die letzten Reserven aufgebraucht wurden. Viele von denen, z.B. Malév, Dunaferr, Cerbona, Hey-Ho oder Gyulai Hús, um nur promintentere Beispiele zu nennen, hatten eine staatliche Vergangenheit und seit der oft zweifelhaft gemanagten Privatisierung nie eine echte Chance auf einen turn around.

Umfangreiche Hintergrundberichte und Fakten zu den hier genannten Themenbereichen finden Sie über unsere Stichwortsuche, z.B.: Einkommen, Arbeitsmarkt, Flat tax, Mittelstand, Armut, Hochschulreform, EU-Gelder etc.

 

Am ärgsten sind jedoch Klein- und Mittelbetriebe dran, sie leiden am Investitionsstau, der Konsumangst und der Kreditklemme gleichermaßen und haben - trotz großspuriger Versprechen und Pläne - kaum eine Chance nachhaltige Förderungen oder konstante Aufträge zu erhalten, die latente Vetternwirtschaft tut ihr übriges. Mit den Banken hat sich die Orbán-Regierung vollkommen überworfen, mit der Abschöpfung durch Sondersteuern und Forex-Umtauschmodelle (die übrigens auch wieder nur einer bestimmten Klientel dienten) hat man es einfach übertrieben. Als Antwort igeln sich die Banken ein, fahren das Kreditgeschäft bei KMU auf gefühlt 0 zurück, ziehen ihr Kapital an und gestern drohte die österreichsiche Raiffeisen wieder mit dem totalen Rückzug.

An der Situation ändert auch nichts ein sündteueres "Arbeitsplatzschutzprogramm" (300 Mrd. Steuerforint, ca. 1,1 Mrd. EUR bzw. 1% des BIP), das den Arbeitgebern lediglich die ihr zugeführten Arbeitskräfte (junge Mütter, über 55jährige, Berufseinsteiger etc.) billig hält, aber eben weder Aufträge und schon gar kein Kapital, geschweige denn ausreichend bezahlte Jobs schafft. Es wurde jetzt in einer hektischen Aktion um Wissenschaftler erweitert, in dem man den Arbeitgebern die Anteile an den Sozialabgaben erlässt, wenn sie Graduierte oder Forschungsassistenten (bis zu einer gewissen Gehaltsobergrenze) einstellen. Die dabei entgehenden Einnahmen rechnet sich die Regierung auf ihre "Forschungsinvestitionen" an und sagt: schaut, wir stehen besser da, als der Schnitt der EU.

Und so geht das hier seit Jahr und Tag: die Ärztegehälter wurden teilweise angehoben, finanziert durch Einführung einer Steuer auf "ungesunde" Lebensmittel, die Ärzte gehen trotzdem. Die überfällige Anhebung von Lehrergehältern wurde aus "budgetären Gründen" verschoben, kommt sie, dann nur für jene, die sich dem neuen "Karrieremodell" der Regierung unterwerfen, d.h. sich regelmäßig auf Linie bringen lassen und Lehrpläne durchsetzen, die zukünftig am besten verhindern, dass die jungen Leute gehen wollen - oder können.

 

In Ungarn ist das notwendige Minimum nicht mehr gegeben

In Ungarn wurden alle Zutaten für eine explosive Mischung zusammengebraut. Zur Not kam das Elend: prekäre Arbeitsverhältnisse als Standard, massiv sinkende Realeinkommen, steigende Lebenshaltungskosten, Überschuldung, zusammen mit einer unsteten Politik, die jede Woche neue Gemeinheiten im Steuer- und Abgabenwesen verkündet. Dazu kommt ein als immer allmächtiger erkannter Staatsapparat, der sich klar ständisch positioniert und damit einhergehend seinen Bürgern das Gefühl gibt, sein Schicksal immer weniger selber steuern und sich auch immer weniger selbst verteidigen zu können. Alles Tendenzen, die in ganz Europa zu beobachten sind und die eigentliche Zerreißprobe der Zukunft für den Kontinent bedeuten, bei denen Ungarn aber ein unrühmliche Vorreiterrolle einnimmt.

Die Proklamation von Verteidigungskriegen, äußeren Feinden und einem nationalen Erwachen sind nur Nebelgranten, die bei den meisten längst nicht mehr zünden. Die fehlende Aussicht auf Besserung in absehbarer Zeit treibt immer mehr Menschen in Länder, die Jobs mit einem akzeptablen Auskommen und ein haöbwegs berechenbares Lebensumfeld bieten. Viel mehr braucht der Mensch nicht, um sich sein Glück zu bauen, aber dies ist auch das notwendige Minimum dazu.

Studenten protestieren für ihre Ausbildungs- und Lebensbedingungen, “Von der Opposition gesteuert” ist die Antwort der Ministerin.

Leinenzwang für Studenten beschleunigt brain drain

Genau kann niemand seriös den Anteil der Orbán-Regierung an der jetzigen Auswanderungswelle quantifizieren, aber es muss Gründe geben, warum der Zuwachs in Deutschland aus Ungarn in den letzten beiden Jahren doppelt so hoch ist wie der aus Polen oder Tschechien, die immerhin direkt benachbart sind.

Die Regierung rühmt sich ihrer "unorthodoxen Maßnahmen", denen bald ganz Europa nachfolgen wird: die Flat tax ist dabei das strukturell am gründlichsten wirkende Instrument: keiner von denen, die jetzt gehen, hat von ihr profitiert. Politisch anmaßender Höhepunkt ist der gesetzliche "Bleibezwang", der Absolventen unter Androhung des finanziellen Ruins im Lande halten soll, mit der Folge: die Jungen gehen nun schon vor dem Studium. Wer bleibt, darf seinen Studentenkredit mit Nebenjobs abstottern, denn die Zahl der staatlich finanzierten Studienplätze wurde gleichzeitig mit der Zwangsmaßnahme um rund 40% reduziert. Sogar der EU ist der "Leinenzwang" ein Verfahren wert, verstößt er doch gegen eines der Grundrechte der Gemeinschaft.

Ein Exodus wie vor Hundert Jahren?

Einige Analysten sprechen bereits von einem sich ankündigenden Exodus wie zu Ende des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahrhunderts als wellenartig verarmte Massen vor allem nach Amerika strömten, am Ende wurden es 1,4 Millionen allein vom Gebiet des alten Königreichs Ungarn. Auch die Situation der DDR unmittelbar vor 1961 wird als historische Referenz herangezogen. Heute sind London, Wien, Stuttgart, München und Berlin die bevorzugten Ziele, London, scherzte der britische Botschafter in Budapest unlängst, ist schon zur fünftgrößten ungarischen Stadt geworden...

Sprunghafter Anstieg seit Ende 2010

Dass die Welle nicht so schnell abebben wird, zeigen Umfragen darüber, wer alles auf gepackten Koffern sitzt. So möchten z.B. mehr als ein Drittel der Absolventen der Technischen Universität Budapest nach ihrem Abschluss im Ausland arbeiten. Das ergab eine nicht repräsentative Umfrage für Telenor Magyarország. Online-Statistiker haben herausgefunden, dass in Gänze 13.41% aller arbeitsfähigen Ungarn, also jeder Siebente bereits aktiv nach einem Job im Ausland suchen, das Institut Tárki spricht sogar von jedem Fünften Erwachsenen und jedem Zweiten unter 30. 60% der auf dem Absprung Sitzenden haben einen Hochschulabschluss, die Mehrheit davon in den Bereichen IT und angrenzenden Bereichen. Der ansteigende Trend wird von den Analytikern seit Herbst 2010 gemessen, also ein halbes Jahr nach Antritt der Orbán-Regierung und erreichte seinen Höhepunkt zunächst im Januar 2012, verblieb dann auf hohem Niveau. Als Basis für die Modelle dienen übrigens die Auswertung von Anfragen beim Suchdienst Google, die gewichtet und verglichen werden, um bestimmte Trends herauszulesen.

Hat seit der Wende bis 2005 rund 1% der Bevölkerung das Land verlassen, hat sich der Anteil seit 2010 auf 2% verdoppelt, 180.000 Ungarn sind seitdem aus ökonomischen Gründen ausgewandert. Die Regierung reagiert "gelassen" darauf, offizielle Statments verkünden ziemlich hilflos, dass "unsere Wirtschaftspolitik dafür sorgen wird, dass unsere Menschen bald wieder in die Heimat zurückkehren werden", so das Wirtschaftsministerium. Orbán ermutigte kürzlich junge Leute, "ruhig eine Zeit im Ausland Erfahrungen zu sammeln", mahnte aber, dass sie dann bitte auch zurückkehren mögen, "um ihrem Land zu dienen". Viel mehr hat er nicht zu bieten. Für Patriotismus aber konnte sich noch keiner etwas kaufen, meisten zahlte man dabei eher drauf.

Der jungen Generation gönnte man nicht einmal die Wahrheit

Dabei hätten viele ein Einsehen, dass nicht einmal das politische Wunderkind Orbán, auch angesichts der internationalen Begleitumstände, das Land in zwei Jahren retten kann. Doch wie erklärt man einem Absolventen, dass für seinen Einstiegsjob der Mindestlohn außer Kraft gesetzt werden soll, während Besserverdiener durch die Flat tax ohne jede Zusatzleistung Geld geschenkt bekommen? Zuerst war "von einer Million neuer Arbeitsplätzen in zehn Jahren" die Rede, kürzlich dann von "Vollbeschäftigung in wenigen Jahren". Wenigstens die Wahrheit hätte die junge Generation verdient gehabt. Sie zieht nun ihre eigenen Schlüsse und stimmt mit den Füßen ab.

 

Wo ist das Problem: Spaß haben kann man doch auch in Ungarn...

Für Aufsehen und bitteren Spott sorgte ein Filmchen, das die Regierung für nicht wenig Geld unter dem Motto "Die neue Generation - jeder wird gebraucht" in Auftrag gab und das im Fernsehen und in Kinos gezeigt wird. Dort sehen wir einen jungen Mann in trendigem Outfit im Taxi zum Airport brausen, in der Absicht das Land zu verlassen. Seine Fahrt führt ihn vorbei an angesagten locations wo ihm glücklich feiernde Bekannte zuwinken, auf seinem iphone bekommt er rührende Nachrichten von seinen Freunden übermittelt und blättert in Erinnerungen; Wasserski fahren, entspannt in der Sonne abhängen, clubbing, mit dem Segelflugzeug durch die Lüfte brausen... Schau, das geht doch alles auch hier, so die Massage. Kurz vor Abflug überlegt er sich´s dann natürlich nochmal und bleibt.

Die Regierung hat in ihrem YouTube-Kanal die Kommentarfunktion dazu wohlweislich abgeschaltet. Auf einer anderen Seite stand es zuletzt 29:344. Die Zielgruppe konnte aus dem Film immerhin lernen, dass die Regierung wirklich nicht die leiseste Ahnung von der Lebenswirklichkeit oder gar den Problemen junger ungarischer Menschen hat. Wer sich bisher noch nicht sicher war, dieser fahrlässig bis zynische Film konnte ihn letztlich ganz vertreiben...

cs.sz. / red.

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