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(c) Pester Lloyd / 47 - 2012   WIRTSCHAFT 22.11.2012

 

Rabattwahnsinn

Wie lichtet man den Tarifdschungel der Ungarischen Staatsbahn?

Noch immer gibt es 38 verschiedene Rabatte auf die Ticketpreise der MÁV, bisher haben weder Politik noch Bahnmanager stichhaltige Vorschläge zur Vereinfachung. Die vom Staatshaushalt geforderten Einsparungen von 20 Milliarden Forint (ca. 70 Mio. EUR) für 2013 stehen noch in weiter Ferne, das Planziel von 16 Mrd. Einsparungen für dieses Jahr konnte man ohnehin schon als unerreichbar ad acta legen. Manche meinen, sogar eine komplette Freifahrt käme das Land billiger.

33%, 90%, 50%, sogar 67,5% vom Fahrpreis, teilweise handschriftlich geändert. Etwas ältere Vorortbahn-Tickets der MÁV. Heute kommen sie aus dem Computer, das Chaos bleibt aber das gleiche.

Die MÁV transportierte, nach eigenen Messungen, im Vorjahr 144 Millionen Passagiere, nur rund 37% davon zahlten den vollen Fahrpreis, 30 Millionen fuhren gänzlich frei (überwiegend Rentner), weitere 60 Millionen kamen in den Genuss von Rabatten für Studierende oder Behinderte oder Familienrabatte oder sonstige Nachlässe. Die Gesamtumsätze aus dem Ticketverkauf + die staatlichen Subventionen für Ticketrabatte berechnet die MÁV mit 220 Milliarden Forint (780 Mio. EUR), wobei fast die Hälfte davon als Subvention aus der Staatskasse gekommen ist.

Man konstatiert, dass eine Einsparung von 20 Milliarden Forint nur mit "massiven" Streichungen bei den Rabatten für Rentner, Studenten und Invaliden erreichbar ist. Es gibt auf der anderen Seite aber auch Experten, die vorrechneten, dass die gesamte Infrastruktur für den Ticketverkauf, interne Abrechnung und Fahrkartenkontrolle, abzüglich der staatlichen Zuschüsse genauso viel kostet, wie die Umsätze aus selbigem erbringen, weshalb es das Land auch nicht teurer käme, einfach die Freifahrt für alle auszurufen und dafür den Wahnsinnsapparat einzusparen....

 

30 der 38 Rabatte sollen gestrichen werden - aber welche?

Der (wahrscheinlich) zuständige Staatssekretär aus dem Entwicklungsministerium wies einen ersten Arbeitsentwurf des MÁV-Managements mit den Worten zurück, dass, wenn man alle Zuschüsse für Studenten, Rentner und Invaliden beibehalten will, man die Zielsumme niemals erreichen wird. 30 der 38 Rabattvarianten sollen, so ein noch nicht offizielles Dokument aus dem Entwicklungsministerium, ab kommendem Jahr gestrichen werden. Dabei scheint es zwischen Ministierum und Bahnmanagement chaotisch hin und her zu gehen, denn nach Auskunft von Mitarbeitern der für den Personenverkehr zuständigen MÁV-Start liegen seit Monaten konkrete Änderungsvorschläge auf dem Tisch, die das Ministerium noch nicht einmal gelesen habe...

Rabatte nicht nach Alter, sondern nach Bedürftigkeit und für Vielfahrer

Ein anderer (wahrscheinlich auch) zuständiger Staatssekretär schlug jetzt vor, nur noch die Freifahrt für Menschen über 65 und unter 6 Jahren zu gestatten und einen einheitlichen Nachlass für kinderreiche Familien und Behinderte zuzulassen. Derzeit gibt es mit 20, 33, 50 und 90% Nachlass derer vier, zusätzlich noch verschiedene Ermäßigungen z.B. auch auf internationalen Strecken, die auch Touristen zugänglich sind, mit etwas Glück kommt man so als nicht so schlecht situierter Westeuropäer zu einem 13 EUR-Ticket von Budapest nach Wien. Übrigens genießen alle EU-Bürger ab 65 Jahren in Ungarn Freifahrt in Bahn, Öffis und Überlandbussen, weil die Freifahrt nur für die eigenen oder in Ungarn gemeldeten Rentner eine in der Gemeinschaft nicht statthafte Schikane wäre.

Viel Spaß bei Jung und Alt bereiten auch die Ticket-Automaten, hier ein internetgestützter, an den Bahnhöfen. Übrigens ein internationales Phänomen. Es ist egal, ob Sie einen Bahnfahrschein in Bukarest oder eine Metrokarte in Lissabon erstehen wollen, ihnen wird überall die unauflösliche Dialektik zwischen Mensch und Maschine im Detail aufgezeigt. Aber Hauptsache, “die EU redet nicht überall hinein”...

Die Nutznießer der Freifahrt und der höchsten Rabattstufen müssten, so der Politiker, jedoch demnächst auch damit rechnen, nicht immer in den Hauptbelastungszeiten zum Rabattpreis fahren zu können und mitunter auf weniger frequentierte Züge und Strecken ausweichen. Studenten sollen Fahrkostenzuschüsse über das Studentenkreditsystem erhalten (also am Ende selber zahlen). Auch diese Vorschläge klingen in Summe alles andere als ausgereift.

Die Bahncard könnte man als soziale Abfederung einsetzen

Ein Bahncard-System wie in Deutschland oder Österreich (Vorteilscard) gibt es in Ungarn zwar auch, wird aber wegen der vielen anderen Rabattmöglichkeiten kaum genutzt und von der Bahn selbst auch so gut wie nicht beworben. Experten mahnen dieses jedoch als bewährtes Modell vor allem für Vielfahrer an, das in Abrechnung wie Umsatzprognose verlässlich und leicht umzusetzen ist. Die Vergabe einer Bahncard (mit darauf gespeichertem, sozial gestaffeltem Rabatt), z.B. als Benefiz für niedrige Einkommen oder Mindestrentner, wäre dabei eine zusätzliche Option den allgemeinen Rabatt zu umgehen und sowohl den Bedürftigen und den Vielfahrern entgegen zu kommen, ohne dabei Gemeinschaftsrecht zu verletzen.

Praktischer wäre es freilich gleich, wenn es EU-weit ein einheitliches Bahncard-System gäbe (mit dann automatisierten Ausgleichszahlungen unter den Bahnen) womöglich sogar mit einem einheitlichen System von Fahrkartenautomaten. Aber die Bürger wollen angeblich ja keine “alles beherrschende” EU, obwohl sie die gedeckelten Roaming-Tarife und einheitliche Ladegeräte bei Handys auch protestfrei entgegennahmen...

Ein Thema für sich: der internationale Ticketverkauf in Budapest. Hat man Glück ist es leer und die Dame am Schalter gut gelaunt. Hat man Pech - und meistens hat man das - ist es die Hölle. Warum die internationalen Tickets, im Gegensatz zu den nationalen, (zum Teil) noch immer handschriftlich mit dazwischengelegtem Kohlepapier ausgefüllt werden, ist ein weitere Mysterium des ungarischen Bahnwesens...

Bahnsanierung in Ungarn auch für EU und IWF ein Thema

Die Sanierung der Finanzen des öffentlichen Verkehrs, nicht nur bei den MÁV-Tickets, sondern der Staatsbahn insgesamt und dem öffentlichen Nahverkehr (BKV, Volán), ist nicht nur eine Erfordernis der inneren Sparsamkeit, sondern auch eine Forderung im Rahmen des Defizitverfahrens der EU. Auch im Forderungskatalog des IWF stehen staatliche Einsparungen beim öffentlichen Verkehr als strukturelle Vorbedingung für weitere Gespräche über einen Hilfs- bzw- Sicherheitskredit.

 

2013 müssen insgesamt rund 60 Mrd. Forint (213 Mio. EUR) gespart werden und zwar dauerhaft, was Experten bei den bisherigen "Bemühungen" für nicht gegeben sehen. Derzeit machen Schulden von MÁV und BKV allein schon 1,5% des BIP aus (sie zählen jedoch nicht offiziell zu den Staatsschulden), sie überschreiten bald allein die Maastricht-Kriterien. Beide waren über Jahrzehnte die Beute von Plünderern, auch solchen mit Beamtenverträgen und politischen Mandaten.

Doch eigentlich bräuchte es zur Genesung dieses öffentlichen Wirtschaftszweiges zunächst genau den umgekehrten Weg: massive Investitionen bei gleichzeitigen Umstrukturierungen und vor allem Professionalisierungen, um die hochdefizitären Unternehmen zukunftsfähig zu machen. Sparen kann man erst, wenn der Laden läuft. Ein Thema, das aber aus politischen wie finanziellen Gründen sowie wegen umverteilenden Interessen immer wieder auf die lange Bank geschoben wurde.

Teurer wird der öffentliche Verkehr für die Bürger ohnehin, da sie am Ende sowieso die Zeche zahlen, ob nun über Tickets oder höhere Steuern, hätten sie auch einen Anspruch auf eine kompetente und konsequente Führung "ihrer" Bahn, stattdessen bekommen die Ungarn seit Jahren ein Klein-Klein, eine Art Verschiebebahnhof geboten, bei dem die Gelder einfach immer weiter versickern.

Mehr zum Thema, hier noch aus den Zeiten der Vorgänger, hat sich aber kaum etwas getan:
Defizit auf Rädern - Feb. 2010
Bahn und Nahverkehr in Ungarn als Modellanstalten des gesellschaftlichen Verfalls
http://www.pesterlloyd.net/2010_05/05bahnbkv/05bahnbkv.html

red.

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