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(c) Pester Lloyd / 01 - 2013   POLITIK 03.01.2013

 

2013: Das Jahr zum Abgewöhnen

Ungarn am Scheideweg: eine kleine "Neujahrsansprache" des Pester Lloyd

Einem Ungarn ein frohes, neues Jahr zu wünschen, grenzt seit Jahren an offenen Sarkasmus. Für 2013 gilt das mehr denn je. Wünschen wir uns lieber, dass es schnell und schadensarm vorübergehen möge, wenn man es schon nicht überspringen kann. 2014 muss sich herausstellen, ob der aufrechte Gang auf den eigenen Beinen von den Bürgern als Möglichkeit wieder in Betracht gezogen wird oder ob man sich dauerhaft gesenkten Hauptes den Gängelketten der großen Manipulatoren auszuliefern gedenkt. Freiheit oder Stockholm-Syndrom, das ist hier die Frage.

Anfang des Jahres wurde eine 350-Mann-starke Parlamentsgarde vereidigt und eingekleidet, sie löst das bisherige Wachregiment ab und untersteht nicht mehr der Armee, sondern dem Parlamentspräsidenten. Sie ist bewaffnet. Was “Kövérs Privatarmee” mit einem Budget das ungefähr so hoch ist, wie die staatlichen Zuschüsse für Krebstherapien verringert wurden, eigentlich machen soll ist, außer dem Schutz der Stephanskrone und als Fotomotiv für Touristen herzuhalten, noch nicht so klar.

Ein Urteil des Verfassungsgerichtes und keine Folgen

In Ungarn begann die Fastenzeit in diesem Jahr schon vor dem Ende der Faschingssaison, dabei ist das Land schon halb verhungert. Denn eine sehr dünne Juristensuppe wurde dem Volk wieder einmal als rechtsstaatliches Festmahl verkauft. Die meisten ungarischen Medien, auch westliche sowie Fachkommentatoren sahen im zwischen den Jahren ergangenen Urteil des Verfassungsgerichtes, das einige Übergangsregelungen der Verfassung samt der Wählerregistrierung aufhob, einhellig ein Momentum des Rechtsstaates, der also funktioniere. So weit ist es schon gekommen, dass ein paar formaljuristische Vorbehalte als lebendige Demokratie verkauft werden müssen.

Das Gericht bemängelte, kurz gefasst, nicht viel mehr, als dass die zur Aufnahme vorgesehenen Regelungen wegen ihrer Wichtigkeit nicht im Anhang, sondern im Haupttext der Verfassung erscheinen müssten. Bis dahin sind diese Regelungen außer Kraft. Die Richter gaben der Regierung also den Hinweis, dass sie ihr übliches Vorgehen, alles, was nicht verfassungskonform ist, zum Teil der Verfassung zu machen, damit es nicht beanstandet werden kann, bitte konsequent umzusetzen hat, wegen der juristischen Formschönheit und der Ordnungsliebe der allerhöchsten Robenträger.

Orbán: "Mit dem Verfassungsgericht gibt es keine Konflikte". Klar. Wieso auch?

Wer ein bisschen nüchtern blieb, erkannte schnell, dass es sich auch bei diesem Spruch, wie schon jenen zu Mediengesetz, Richterzwangspensionierung oder der gesetzlichen Kriminalisierung der Obdachlosen nur um eine weitere Fußnote eines letzten, sozusagen republikanischen Widerstandsnestes handelt, das umstandslos überwunden werden kann. Was die Beschneidung der Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtes um Finanzfragen, die Aufstockung mit Fidesz-Richtern oder die neue Verfassung selbst als Arbeitsgrundlage nicht zu Stande brachten, wird der Zahn der Zeit erledigen. Bis Ende 2014 werden noch vier Richter die Altersgrenze von 70 Jahren überklettern, mit den Nachrückern sind dann auch in diesem Gremium die Kräfteverhältnisse orbanisiert. Mit dem KDNP-Politdinosaurier Salamon hat man kürzlich schon einen ersten "Glaubenswächter" aus der christlichen Talibanfraktion der Regierungsparteien nominiert, weitere werden folgen.

 

Bis dahin wird bei jedem Widerwort die Verfassung geändert, notfalls schreibt man auch die wöchentlichen Lottozahlen oder das Wetter ins Grundgesetz, die wichtigsten Steuersätze stehen ja bereits drinnen, neben dem lieben Gott und der Krone. Die gelassene Anmerkung Orbáns, "mit dem Verfassungsgericht gibt es keine Konflikte" ist in diesem Sinne und in keinem anderen zu verstehen. Orbán hat mit nichts und niemandem Konflikte, denn er hat ja sich.

Für weitere Hintergründe über die Entwicklungen aus Ungarn empfehlen wir den Jahresrückblick 2012

Verfassungsauftrag: Regierungswechsel ohne Machtwechsel

Die ungarische Verfassung, die nun seit einem Jahr in Kraft ist, hat die Hauptaufgabe, der heutigen Regierungspartei auch nach einem Machtwechsel die Macht zu sichern, den Nachfolgern also möglichst alle wesentlichen Gestaltungsfelder mit 2/3-Steinen zu pflastern und das Volk zum Statisten zu degradieren. Und es bleiben dem Fidesz noch fast eineinhalb Jahre Zeit, auch die letzten Lücken zu schließen. Daraus ergibt sich, dass ein Regierungwechsel, so er 2014 erfolgen sollte, was als unwahrscheinlich gelten kann, längst noch keinen Macht- oder Politikwechsel ermöglicht, woraus die Opposition den nicht ganz unlogischen Schluss zieht, dass eine neue Verfassung her muss, sobald die Mehrheiten das möglich machen.

Schon wieder ein totaler Neustart, schon wieder eine neue Verfassung?

Aus der Sicht von MSZP und Demokratischer Koalition, also den etablierten "linken" Funktionärsparteien, aber auch von Seiten der alternativen LMP sowie der neuen Plattform "Gemeinsam 2014" fehlt es dem ungarischen Grundgesetz, das ja bekanntlich nur durch eine einzige Fraktion - sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit - beschlossen wurde, an Legitimation durch den Souverän und es ist inhaltlich nicht darauf ausgerichtet, dem Land eine gesunde Lebensgrundlage zu geben. MSZP und DK, die Steigbügelhalter Orbáns also, formulieren bereits an einer Alternativverfassung, die dem Volk irgendwann zur Konsultation und zur Abstimmung vorgelegt werden soll.

Fädelt man die Sache über einen breiteren Konsens ein, könnte die Debatte darum zum zentralen Thema des Wahlkampfes werden, der eigentlich schon jetzt begonnen hat. Denn die Positionierungen der Opposition, die Fragen nach gemeinsamen Wahllisten und Allianzen sollten bis Frühjahr geklärt sein, wenn man das Wahlvolk mit einer verständlichen und tragfähigen Alternative hinter dem Ofen hervorlocken will.

Fatalismus als inoffizielle Staatsform

Dazu müsste die Opposition das verdrossene Volk jedoch erstmal von der Nützlichkeit einer erneuten "Kehrtwende" überzeugen, von denen das Land innerhalb einer Generation schon eine ganze Reihe erlebte, ohne dass sich für die Masse wirklich etwas getan hätte, das nach erstrebenswerter Perspektive aussah. 31% der Ungarn sind arm, weitere 40% kommen gerade so über die Runden, daran hat sich seit 20 Jahren nichts geändert, nur noch auswegloser ist es geworden. Die resignativste Ausformung des Fatalismus` ist daher ganz zu recht die inoffizelle Staatsform Ungarns und die Gewohnheit bleibt allemal stärker als es ein Wahlprogramm werden kann.

Bis sich also die Oppositionsparteien gefunden oder zerredet haben und die Frage beantwortet werden kann, ob für das Land im nächsten Jahr eine Hoffnung auf Rückkehr in die Realität besteht, dichtet die Regierung die Fugen ihres Wolkenkuckucksheimes ab und hofft dabei, dass die das Land umgebende Konjunktur die schwindelmachenden und erschwindelten Zahlengerüste des Budgets stehen lässt. Fallen sie zusammen, wird 2013 das Jahr der Entwöhnung, des sehr kalten Entzugs.

Operetten für Links und Rechts

Das Volk kämpft dabei, wie immer, um sein materielles Überleben und ist so sehr im Alltagskrieg gebunden, dass für politische Reflektion und längerfristige Denkansätze kaum Zeit und schon gar keine Kraft mehr bleibt. Zum Ausgleich für die Unbill, die eine "nationale Revolution" nunmal so mit sich bringt, wird Operette gespielt: gerade wurde die neue Parlamentsgarde ausstaffiert und vereidigt, Graf Bethlen, Horthys ständestaatlicher Vollstrecker als Ministerpräsident, bekommt ein Denkmal errichtet und die Nationale Kunstakademie hat uns 14 Nationale Kunstsalons angekündigt. Die drei Minister des Kabinetts, die ihre Lügen in Sätze mit mehr als zwei Kommas verpacken und fehlerfrei aussprechen können, werden im Ausland als "dialogbereit" und daher demokratisch einwandfrei gefeiert werden.

Das Schmierenstück "Ungarn/EU/IWF" geht ins dritte Jahr und ist immer noch für eine neue Folge gut, die Statisten dazu lassen sich leicht für einen "Friedensmarsch" zusammentreiben, wenn der Gegner so klar umrissen ist und nicht aus dem eigenen Hause stammt. Für die Regierungsgegner und die Zweifler werden die Studenten noch ein wenig für Unterhaltung sorgen, die Fidesz-Mauern werden sie nicht einrennen. Nazis werden marschieren, Menschen leiden. Ein paar Streiks und Demos werden dem Land den Anschein einer Demokratie auf die fahlen Wangen zaubern, während die letzten Reste selbiger aus den Institutionen gekehrt werden.

Freiheit oder Stockholm-Syndrom?

Einem Ungarn ein frohes, neues Jahr zu wünschen, grenzt schon seit Jahren an offenen Sarkasmus. Für 2013 gilt das mehr denn je. Wünschen wir uns lieber, dass es schnell und schadensarm vorübergehen möge, wenn man es schon nicht überspringen kann. 2014 muss sich herausstellen, ob der aufrechte Gang auf den eigenen Beinen von den Bürgern als Möglichkeit wieder in Betracht gezogen wird oder ob man sich weitergesenkten Hauptes den Gängelketten der großen Manipulatoren und Betrüger auszuliefern gedenkt.

Freiheit oder Stockholm-Syndrom, das ist hier die Frage. Diese Frage stellt sich schließlich nicht nur in Ungarn, dort wird sie nur gerade besonders schäbig und schrill illustriert. So wie Europa, steht auch Ungarn am Scheideweg. Doch während in anderen Ländern mehrere (auch mal falsch beschriftete) Pfade zur Auswahl stehen, sind es in Ungarn nur altbekannte Sackgassen und unberechenbare Wildnis.

Für weitere Hintergründe über die Entwicklungen aus Ungarn empfehlen wir den Jahresrückblick 2012

Marco Schicker

 

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