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(c) Pester Lloyd / 50 - 2012   BILDUNG 13.12.2012

 

Zwischen Kampf und Flucht

Studenten und Schüler in Ungarn ringen um ihre Zukunft - Analyse und Kommentar

Die Hochschulreform und der Umgang mit den von ihr Betroffenen, ist ein weiteres Kapitel im immer dicker werdenden Buch "Der entmündigte Bürger" (ungarische Fassung): ein vorhandener Misstand wird nicht korrigiert, sondern der betroffene Sektor durch Leistungsabbau "beseitigt" oder der ideologischen Zielstellung der Machthaber unterworfen. Die Betroffenen, Studenten, Lehrkräfte und Gymnasiasten wollen das nicht kampflos hinnehmen, sie wollen über ihre Zukunft mitentscheiden.

Fortlaufende Updates zu den Entwicklungen

Die Entmündigung und Entrechtung der Bürger erlebte Ungarn bereits bei der "großen Steuerreform", dem Arbeitsrecht, den privaten Rentenbeiträgen, den kommunalen Beschäftigungsprogrammen und dieses Vorgehen, den Bürger als Statisten zu behandeln, zieht sich durch alle legislativen und exekutiven Maßnahmen dieser Regierung, bis hin zur Entstehung und "Verwaltung" der neuen Verfassung. Er zieht sich aber auch durch die gesamte Nachwendezeit, heute erleben wir den "Untertanenstaat" nur in vollendeter Blüte, doch der Samen dafür wurde schon viel früher gelegt und war und ist nicht an die offiziellen politischen Ausrichtungen der jeweils Regierenden gebunden.

Protestmarsch in Budapest am Mittwochabend, rund 5000 Teilnehmer

Live-Ticker zu den Protesten und Ereignissen am Mittwoch
Live-Ticker zu den Ereignissen am Montag und Dienstag
Mehr zur Hochschulreform mit weiteren Links zum Thema

 

Nun also das Hochschulwesen. Dass auch auf diesem Sektor die ständestaatliche Ausrichtung der Orbán-Regierung die Oberhand gewinnen würde, war schon länger absehbar, die zuständige Staatssekretärin machte nie einen Hehl aus ihrer Abneigung für "unnütze" Studiengänge, postulierte die Anpassung des Studiums an die "nationalwirtschaftlichen Bedürfnisse", drohte allen Einrichtungen "die am Markt nicht bestehen können" mit Schließung, entmachtete die Rektoren, hebelte die Hochschulautonomie hinsichtlich Finanzen, Personalpolitik und Verwaltung aus und bekam somit auch Durchgriff auf die Lehrinhalte.

Zurück in den Agrarstaat?

Auch der Abbau von staatlich finanzierten Studienplätzen ist nicht erst seit diesem Jahr ein Thema, bereits im vorherigen Studienjahr wurden sie von rund 50.000 auf 30.000, nun nochmal auf knapp über 10.000 reduziert. Angehoben wurde dagegen massiv die Zahl der "teilfinanzierten" Studienplätze (über 40.000), was zu nichts anderem als zur flächendeckenden Einführung von für ungarische Verhältnisse horrenden Studiengebühren führt. Diese schließen einen Großteil junger Leute aufgrund ihrer materiellen Lage und der ihrer Familien ganz von höherer Bildung aus, denn die angebotenen Studienkredite können nur zurückgezahlt werden, wenn es für die Absolventen adäquat bezahlte Jobs gäbe. Die gibt es aber nicht. Doch die Logik der Nationalkonservativen ist nicht, mehr Anreize für solche Jobs zu schaffen, die Logik besteht darin, die Zahl der Hochqualifizierten zu verringern. Zurück in den Agrarstaat?

Schlechte Aussichten für Normalbürger

Insgesamt hat diese Regierung bisher rund 500 Mio. EUR (186 Mrd. Forint) aus dem System der höheren Bildung abgezogen, behauptet aber, dass durch ihr "neues System" sogar mehr junge Leute studieren könnten. Könnten. Sehr wohl. Die 2008 eingeführten Studiengebühren bedeuten - in  einem ziemlich komplexen bis wirren System - bisher eine jährliche Belastung für die Studenten von 370 bis 1500 EUR im Jahr für staatliche Unis und Hochschulen, wobei der Grundbetrag von 370 EUR, der 10% der Ausbildungskosten repräsentieren soll, je nach Hochschule, Studienjahr und Leistung auf bis zu 50% ansteigen kann. Diese 50%, also über 1500 EUR / Jahr wären ab nächstem Studienjahr dann sozusagen der Standard. Wer sich das nicht leisten kann und das ist die absolute Mehrheit, darf entscheiden: Ausland, Facharbeiterlehre, Kredit samt Bleibezwang. Keine schönen Aussichten.

Demo in Kecskemét

Regierung will einen beliebig steuerbaren Apparat, eine Kaderschmiede

Sämtliche bisher getroffenen Maßnahmen ließen durchklingen, dass man in der universitären Bildung einen störenden Hort liberalen Zeitgeistes sieht. Netzwerke, die es zu durchschlagen und sich anzueignen gilt. Ziel ist nach außen der Aufbau eines bedarfsorientierten höheren Bildungssektors zum Nutzen des Landes. Doch das Wunschziel - und genau diesem dienen die nun angesetzten "Reformen" - ist der Umbau der Hochschulbildung zu einem zentralisierten, steuerbaren, elitären Apparat, der als Kaderschmiede für gehorsamen Nachwuchs für den öffentlichen Dienst und die Belieferung "national strategisch bedeutsamer" Industriezweige mit entsprechendem Personal funktionieren soll. Nichts könnte weiter von der Idee einer Uni-versität entfernt sein. Sehr viel Geld hingegen fand man für eine Universität des öffentlichen Dienstes, eine reine Kaderschmiede, in der Finanzbeamte und Polizisten trainiert und auf Linie gebracht werden. In Hab-Acht-Stellung wurde der ersten Jahrgang im Parlament von Orbán persönlich eingeschworen. Sie bekommen dafür einen chicen neuen Campus, mit Wellnessbereich.

Zynische Kommentare, statt Mitbestimmung

Niemand zweifelt an, dass das ungarische System der höheren Bildung überholt, schwerfällig und teilweise aufgebläht ist, nicht einmal die Studenten und Lehrkräfte zweifeln das an. Was man jetzt erlebt, ist jedoch ein gezielter Kahlschlag, motiviert mit einer Mischung aus Bildungsfeindlichkeit, sozialer Gewissenlosigkeit und Standesedünkel, Kurzsichtigkeit und einer himmelschreienden Dreistigkeit, mit der man über die Realität und das Recht der Studierenden hinweggeht, über ihre Zukunft mitzuentscheiden. Die von Parlamentspräsident Kövér, Premier Orbán, seinem Regierungssprecher Giro-Szász oder "Superminister" Balog, erst recht von Staatssekretärin Hoffman aufgezeichneten Statements zeugen von Ignoranz und dem Unwillen zu jeglicher Kooperation. Wenn darin nicht direkt gelogen wird, wird zumindest immer nur eine Seite der Medaille erwähnt, was nebenbei auch eine Beleidigung der Intelligenz der Studenten darstellt.

Mittwochabend am Kossuth Platz vor dem Parlament

Es sind nicht Parteien, die protestieren, es sind die Betroffenen

Viele Studierende, aber auch ihre Lehrkräfte, wollen das nicht mehr hinnehmen. Die Proteste der vergangenen Tage weisen einen Qualitätsunterschied zu den bisherigen Reaktionen auf die tiefen Lebenseinschnitte durch die Regierungspolitik auf: es sind keine Oppositionsparteien oder -bewegungen, die versuchen, das Volk darüber aufzukären und davon zu überzeugen, dass die Politik falsch und ihr Protest notwendig ist. Es sind diesmal die Betroffenen selbst, die als erste reagieren und ein lautstarkes "Wir lassen das nicht zu!" riefen.

Studentenvertretungen, Lehrergewerkschaften und die Rektorenkonferenz sind sich in den wesentlichen Kritikpunkten einig und fordern Mitbestimmung. Dass es diese gegeben habe, behauptet Regierungschef Orbán. Dass das eine glatte Lüge ist, sagen die Studierendenvertreter und erinnern daran, dass es die heutige Regierungspartei Fidesz war, die 2008 ein Referendum gegen Studiengebühren angestrengt hat, "um allen jungen Ungarn einen gerechten Zugang zu höherer Bildung" zu verschaffen, die man als "Investition in die Zukunft" pries. Doch damals, so wissen sie es heute, ging es dem Fidesz nicht um die Studenten, sondern nur gegen die MSZP.

“Wir wollen unsere Zukunft verteidigen”

Auf der gestrigen Demo sprachen wir mit Studenten und Lehrern, wollten ihre Motive und Argumente hören. Selten waren die Standpunkte so klar und einhellig: Die Bildungsreform insgesamt empfinden die  meisten als eine herbe Enttäuschung über diese Regierung, war sie doch mit ganz anderen Versprechen angetreten: „Dieser Regierung sollte man gar nichts mehr glauben“, „Versprechungen, die sie damals gemacht haben, mit denen sie uns damals ein unbeschwertes Studieren ungeachtet finanzieller Mittel garantieren wollten, halten sie heute schon nicht mehr ein.“ „Die Regierung will uns dazu zwingen, nach dem Studium für einen fixen Zeitraum im Land weiterzuarbeiten und droht ansonsten mit finanziellen `Sanktionen`" (gemeint die vertragliche Androhung, dass man alle Studienkosten (nicht nur Gebühren) selbst tragen muss, wenn man nicht das Doppelte der Studienzeit anschließend arbeitsmäßig in Ungarn verbringt, Anm.)

"Damit bewirken sie doch nur, dass immer mehr gar nicht erst ihr Studium hier in Ungarn beginnen, sondern gleich ins Ausland gehen.“ Viele orientieren sich bereits in Richtung Nachbarländer, wie der Slowakei, Österreich aber auch Deutschland ist als mögliches Ziel für die jungen, ungarischen Studenten auf dem Radar: „Selbst, wenn es dort auch nicht ist, was die Lebenserhaltungskosten angeht, zahlt man dort in jedem Fall weniger Studiengebühren. Nebenbei kann man ja auch noch jobben gehen, für besseres Geld als hier.“ „Es kann doch nicht sein, dass der Staat an so elementaren Stellen wie der Bildung die Gelder kürzt, um sie in andere Bereiche, die weitaus weniger bedeutsam sind, zu stecken. Mit solchen Maßnahmen macht sich Ungarn doch lächerlich“. Doch werden die Proteste etwas bringen? „Selbst, wenn die Regierung nicht umschwenken wird und die Reformen gänzlich durchkommen werden, was wir nicht hoffen, wollen wir doch sicher gehen, dass man uns in Zukunft nicht mehr ignoriert. Wir wollen Druck aufbauen und unser Recht auf Bildung und eine Zukunft verteidigen. Entscheidungen sollen in Zukunft nicht mehr über unsere Köpfe hinweg gefällt werden, man soll uns nicht länger ignorieren.“

“Ich hatte einen Traum: ein Diplom.” - Protest am Leőwey-Klára-Gymnasium in Pécs am Donnerstagmorgen

Nur ein Strohfeuer?

Ob die Proteste der letzten Tage nur ein Strohfeuer waren, das die Regierung einfach aussitzen kann? Am Donnerstagmorgen erreichen uns bereits Meldungen von weiteren Aktionen, ein Sitzstreik an einem Pécser Gymnasium (siehe Foto), Protestversammlungen in Veszprém, Sopron und in anderen Städten. Auch an anderen Gymnasien und den sonst politisch eher inaktiven technischen Hochschulen regt sich diesmal Protest. Auch vor das Parlament wollen die Studenten wieder ziehen. Für die kommende Woche haben die Vertretungen der Studierenden, der Lehrkräfte sowie der Hochschulleitungen die konstituierende Sitzung eines Nationalen Bildungsforums angekündigt. Kampflos wollen sie jedenfalls nicht aufgeben: "Wir lassen das nicht zu!" - die Anti-IWF-Parole haben sie geentert und umgedeutet. Diesmal macht sie Sinn. Denn es geht ja nicht "nur" um Studienplätze, sondern generell um die Frage, in welchem Land wir leben wollen.

red. / m.b. / cs.sz. / m.s.

 

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