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(c) Pester Lloyd / 03 - 2013   GESELLSCHAFT 16.01.2013

 

Ego te absolvo...

Das offizielle Ungarn stellt sich hinter Hassprediger Bayer

Regierungspartei Fidesz wie die Regierung zeigen sich nicht geneigt, die publizistische Hassrede Zsolt Bayers zu verurteilen, im Gegenteil, die Kritiker fahren eine "Hasskampagne", die "Verbrecher ermutigt"... Die Justiz sieht keine Handhabe gegen Bayer und bezieht sich auf alte Präzedenzfälle, obwohl längst neue Gesetze vorliegen. Über den "jüdischen" Umweg gibt es eine leise Hoffnung, dass offener, verbaler Rassismus zukünftig geahndet werden könnte. Doch das Zeugnis für Regierung und Land ist verheerend...

Am deutlichsten wird dieser Kurs durch den Rückzieher des Vizepremiers und Justizministers Tibor Navracsics. Der hatte in einem Fernsehinterview zwei Tage nach Veröffentlichung der rassistischen Kolumne (unter diesem Text finden Sie alle Beiträge zum Thema chronologisch geordnet) noch erklärt, dass "solche Meinungen im Fidesz keinen Platz haben". Diese Worte wurden auch auf der offiziellen Regierungswebseite wiedergegeben, aber bezeichnenderweise nur in der englischen Version.

Am Dienstag entschuldigte sich der Vizepremier bei Bayer quasi, in dem er dessen nachfolgende Rechtfertigung lobte, dort habe Bayer "viele Dinge richtig angesprochen" und "bewiesen, dass er in der Lage ist, das Romaproblem ohne die Anwendung provokativer Worte zu diskutieren". Navracsics weiter: "Ich kenne Zsolt Bayer und kann mir nicht vorstellen, dass er ernsthaft denkt, was er am Samstag geschrieben hat." Bayer verneinte in dem zweiten Artikel jede Ambition, zum Mord o.ä. aufgerufen zu haben, er meinte nur, "dass jeder Zigeuner, der nicht in der Lage ist, sich an die Regeln zu halten, aus der Gesellschaft ausgeschlossen gehört....".

Kritiker machen gemeinsame Sache mit den Verbrechern...

Die Regierung beließ es bei einer vom Thema ablenkenden Law-and-order Mitteilung hinsichtlich der anlassgebenden Messerstecherei in Szigethalom, wiewohl sich niemand der Kritiker gegen "eine strikte Verfolgung von Straftätern, egal welcher ethnischen" oder sonstigen Herkunft, ausgesprochen hatte. Die Partei Fidesz betrieb über ihre Sprecherin Gabriella Selmeczi (Foto) von Anfang an eine Art Schuldumkehr-PR, in dem man denjenigen, die gegen Bayer protestieren, vorwirft, "gemeinsame Sache mit den Verbrechern" zu machen. Gleichmeinendes stand auch auf einem Transparent der Fidesz-Zentrale, das dort anlässlich einer Protestdemo am Sonntag angebracht wurde. , Alles weitere, so die Fidesz-Sprecherin sei eine Privatangelegenheit des Autoren, schließlich herrsche in Ungarn Meinungsfreiheit!. Ein Parteiausschlussverfahren war nie ernsthaft erwogen worden.

Den Höhepunkt bot die Propagandistin des Fidesz am Sonntag als sie in einer Erklärung aus Anlass der Demo wörtlich verlangte: "Die Linke solle ihre Hasskampagne einstellen!" und sich gefälligst um die "brutalen Verbrechen" kümmern. Stattdessen "ermutige" sie ebensolche noch zu ihrem Tun.  Journalisten wie Bayer indes teilten, ebenso wie die Bürger in den Gegenden wo "diese Kriminalität zunimmt" (Anspielung auf Jobbiks "Zigeunerkriminalität") lediglich "die Sorge und die Wut". Einbezogen in die Ansage Selmeczis, die übrigens bei fidesz.hu veröffentlicht, also offizielle Parteilinie (Vorsitzender: Orbán) ist, wurde auch der amerikanische Wahlberater Ron Werber, der von der MSZP in Dienst genommen wurde und - so die Regierung - eine Hasskampagne nach Ungarn bringt. Dessen Name tauchte auch auf o.g. Transparent auf, worin man in Vorbereitung auf einen hässlichen Wahlkampf schon einmal die Art von antisemitischer Anspielung sehen kann, die uns auch auf den Pro-Regierungsdemonstrationen immer wieder begegnete.

Neues Wählerpotential für Fidesz nur Rechtsaußen

Die Vermutung, dass hinter dieser Taktik der Reinwaschung und Schuldumkehr der Regierungschef und persönliche Freund Bayers, Orbán persönlich steht, wird auch durch den Umstand erhärtet, dass der für die "Romafragen" zuständige Minister Balog, der zumindest verbal stets eine Lanze gegen Diskriminierungen aller Art brach, bis heute zum Thema nicht ein einziges Wort verlor. Er hat damit den Rest seiner Glaubwürdigkeit verspielt, davor tat er dies schon durch wiederholte Lügen über die angeblich nicht vorhandene Diskriminierung von Roma in Ungarn.

Orbán, heute das weltliche wie geistliche Oberhaupt des Landes, hat seinem Freund die Absolution erteilt, wohinter jedoch nicht in erster Linie die Nähe der beiden steht, sondern das Kalkül, dass Ressentiments gegen die Roma auch in Ungarn massenkompatibel sind und wahltaktisch ein sensibles Terrain darstellen, fürchtet man doch, das Fidesz durch ein zu emphatisches Auftreten gegenüber der größten und sozial problematischsten Minderheit, Stimmen an die neofaschistische Partei Jobbik verlieren könnte.

Die Regierungspolitik ist von Anfang an darauf ausgerichtet gewesen, durch Bedienung der Jobbik-Themenfelder (mit den "Kommunalen Beschäftigungsprogrammen" auch mit weitreichenden praktischen Auswirkungen bis hin zur direkten Kooperation mit Jobbik-geführten Gemeinden) deren Anhänger herüberzuziehen, da man durch die eigene, streng ständisch-nationalistische Politik und die gescheiterte Wirtschaftspolitik kaum hoffen darf, im Lager der Mitte oder dem riesigen Reservoir der Nichtwähler bedeutende Stimmenzuwächse zu erreichen.

Bayer ganz Links beim ersten Friedensmarsch unter dem Motto “Wir werden keine Kolonie!”, ganz rechts Gábor Széles, Regionaloligarch, Eigner von Videoton und Ikarus sowie mehreren regierungsfreundlichen bis rechtsradikalen Medien, darunter die “Magyar Hírlap”.

"Friedensmarsch"-Aktivist als Unantastbarer?

Bayer ist jedoch nicht nur Fidesz-Mitgründer, gut vernetztes Parteimitglied, Kolumnist und Orbán-Freund, sondern auch Initiator der so genannten "Friedensmärsche", einer halboffiziellen Pro-Orbán-Kampagne, bei denen Bayer als Bannerträger der Regierung gegen "fremde Mächte" und eine "Kolonialisierung" in erster Reihe auftritt, was ihm landesweite Bekanntheit brachte. Er ist damit eine tragende Figur der Partei, auch wenn Orbán-Verteidiger ihn stets kleinreden wollen, und dazu die geringe Auflage der “Magyar Hírlap” heranziehen. Stellt man dieses PR-Schwert und Schild nun als untragbaren Rassisten hin, diskreditierte das, so die naheliegenden Überlegungen der Fidesz-Strategen, die ganze Bewegung. Nun hat man als Ergebnis, dass offen zur Schau gestellter Rassismus in Ungarn salon- und politikfähig geworden ist, womit Regierung und "Staatspartei" die inhumane Geisteswelt Bayers indirekt mittragen. Dies scheint dieser Regierung im Lichte ihres populistischen Kalküls jedoch das kleinere Übel zu sein.

Juristen beziehen sich trotz neuer Gesetze auf alte Urteile

Aus dem Archiv des Pester Lloyd

Zigeunerstempeln
- eine Debatte

Brepohl vs. Barsóny, 1910

Brepohl. ... Die Geschichte lehrt, daß bei Zigeunern harte Bedrückungen und Maßregelen von unmenschlicher Strenge keinen Wert hatten.... / Barsóny: ...Die Wanderzigeuner, diese gefährlichen, unverbesserlichen Feinde alles Bestehenden, die obendrein ein absolut wertloses Menschenmaterial darstellen, sollen wir mit Handschuhen anfassen...

ZUM BEITRAG

Dass der Fall nicht justitiabel sei, erklärte vor wenigen Tagen der Budapester Oberstaatsanwalt nach entsprechenden Stellungnahmen zweier Bezirksstaatsanwälte, die sich mit Anzeigen gegen Bayer wegen "Volksverhetzung", jur. Aufhetzung zur Gewalt gegen Minderheiten, auseinandersetzten. Anhand der geübten Rechtspraxis, man griff hier auf Fälle bis 1992 zurück, sei dieser Straftatbestand nur gegeben, wenn die Äußerungen eine situationsbezogene, unmittelbare, greifbare Gefährdung hervorrufen. Chefermittler Keresztes erweiterte sogar noch, dass die "gängigen Sprüche" der Gerichte bis hinauf zum Verfassungsgericht dahin lauten, dass Hassrede "direkt und konkret" in "Aktion münden" müsse. Kurz: es muss erst etwas geschehen. Das stellt das Gesetz natürlich außerhalb jeder Wirkung, denn ist etwas geschehen handelt es sich bereits um andere Paragrafen.

Was Répassy nicht erwähnte und was auch die Justizvertreter zumindest offiziell nicht behandelten, ist, dass es zudem auch eine neue Verfassung gibt, die den Schutz der Würde des Menschen allgemein sowie den der Minderheiten im speziellen in der Präambel sowie in einschlägigen Artikeln in Verfassungsrang hebt und somit zum  Staatsziel erklärt. Die Frage stellt sich erneut, welchen Wert eine "Verfassungsschutz" hat, wenn er keine Anwendung findet. Auch das Mediengesetz enthielte Anhaltspunkte, die auch den Herausgeber (der übrigens mittlerweile alle zunächst geübte Distanzierung mit Hinweis auf die linkslinke Verschwörung wieder aufhob) treffen könnten. Die Einforderung dieser Regeln bedeutete jedoch seitens des Beschwerdeführers eine Anerkennung des gesamten Machwerkes und ist daher für rechtsstaatlich Gesinnte abzulehnen, zumal es keine Medien- sonder eine Strafsache ist.

Umweg über "Jerusalem"

Die Argumentation der Justiz ist bei Bayer übrigens die gleiche, wie bei dem Skandal um Jobbik-Mann Gyöngyösi im Parlament, als dieser die Regierung aufforderte, alle Juden im Parlament und der Regierung aufzulisten. Auch die Ermittlungen gegen ihn wurden dieser Tage eingestellt.

 

Anders als bei Bayer und den Roma, bemühte sich die Regierung im Falle Gyöngyösi den Betroffenen gegenüber zumindest um eine Erklärung. Am Dienstag sprach der Justizstaatssekretär Répassy bei der Dachvereinigung der jüdischen Verbände in Ungarn, EMIH, vor, und stellte dar, dass die Auslegung der Gesetze durch die Staatsanwaltschaft nicht im Sinne der Gesetzgeber gewesen sei. Répassy verwies auf die seit 1. Juli 2012 in Kraft getretenen Verschärfungen bei "Hassrede gegen eine Gemeinschaft" etc., dieses wurde am 17.12. 2012 nochmals um "Angriffe auf die bürgerlichen Rechte einer Gemeinschaft" erweitert. Man werde nun sowohl das Straf- wie das Zivilrecht und auch die Verfassung nochmals durchforsten, ob es weitere gesetzliche Schärfungen geben müsse.

Das ist, sozusagen mit einem Umweg über Jerusalem vielleicht ein leiser Hinweis darauf, dass die Bayers des Landes sich zukünftig doch in Acht nehmen und es zumindest nicht übertreiben sollten. So könnte die Regierung ohne "Gesichtsverlust" zukünftige Ausrutscher verhindern oder von der "unabhängigen" Justiz zumindest ahnden lassen. Ein schwacher Trost und ein schändliches Zeugnis dieser Regierung bleibt der Vorgang allemal.

Alle Beiträge zur Affäre Bayer auf einen Blick:

Ego te absolvo... - Das offizielle Ungarn stellt sich hinter Hassprediger Bayer - 16.1.

Gyucsány-Partei organisiert erste Demo gegen Hassprediger in Ungarn 14.1.

Roma-Vertreter sagt Treffen ab, Staatsanwalt sieht keine Hetze,
Fidesz setzt Parlamentsausschuss wg. Kriminalität an, Protest aus D
- 11.1.

Der Freund schweigt - Relativierungen und halbherzige Distanzierung, Reaktion von Bayer,
Anruf vom Roma-Landesrat, Aufforderung von Ex-Premier Bajnai an Orbán
9.1.

Inoffizielle Distanzierung von Vize-Premier Navracsics, Entsetzen bei Opposition,
Flashmob, erste Anzeigen
- 8.1.

Was Bayer schrieb: Orbán-Freund fordert "Endlösung" der "Zigeunerfrage" in Ungarn - 7.1.

red. / m.s.

 

 

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