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(c) Pester Lloyd / 17 - 2013   GESELLSCHAFT 23.04.2013

 

Lex hungarica

Schutzmechanismus für Grundwerte: Ungarn als Katalysator der Demokratie in Europa

Die Regierungen der Niederlande, Dänemarks, Finnlands und Deutschlands haben eine Initiative gestartet, die der EU wirksamere Instrumente zum Schutz der Grundwerte an die Hand geben soll. Damit reagiert man auf das Phänomen, dass es in der EU Mitgliedsländer gibt, die sich ungestraft von Demokratie und Rechtsstaat entfernen. Zwischen detailgebundenen Vertragsverletzungsverfahren und der "Atombombe" Artikel-7-Verfahren fehlte ein wirksamer Mechanismus für Grundwerte. Wie kann dieser funktionieren?

 

Laut dem deutschen Außenminister, Guido Westerwelle, begrüßten beim informellen Treffen der EU-Außenminister am Montag in Luxemburg, Dreiviertel der Mitgliedsländer den Plan, der vorsieht, die in Artikel 2 der EU-Verträge von Lissabon niedergelegten Grundwerte unter permanente Beobachtung zu stellen und Verstöße dagegen sanktionierbar zu machen. "Wenn wir uns wegen Fischerei oder Finanzen streiten können, dann sollten wir uns in einer Wertegemeinschaft auch wegen Grundwerten streiten können", erläuterte der niederländische Außenminister Frans Timmermans die Intention.

Ungarn: Es geht nicht um Ungarn

Die ungarische Regierung begrüßte die Idee eines "neuen Mechanismus`" und ist sich natürlich darüber im Klaren, dass ihr Verhalten ein ganz wesentlicher Geburtshelfer dieser Initiative gewesen ist. Entsprechend entschieden leugnete Außenminister János Martonyi, dass Ungarn im Zusammenhang mit der Vorstellung des Plans überhaupt erwähnt wurde und "es wäre ein Fehler einen Zusammenhang zwischen dieser Diskussion und der ungarischen Politik herzustellen". Westerwelle habe schließlich klar gemacht, dass der Mechanismus nicht "gegen ein spezielles Land gerichtet" sei.

Dass aber Politik auch für etwas gemacht werden kann, nicht nur gegen etwas, kommt den Pawlowschen Hunden aus Budapest nicht in den Sinn. Wenn aber Ungarn auf diese Weise zum Katalysator für eine Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft wird, hätte die Regierung Orbán am Ende doch noch etwas für die Gemeinschaft geleistet, wenn auch anders, als er sich das vorgestellt hatte. Dass die Initiative eine Lex hungarica darstellt, steht außer Frage.

Es geht nicht um schöne Worte, sondern um die gelebte Praxis

Westerwelle sprach vor der Parlamentsabstimmung über die umstrittene Verfassungsänderung in Ungarn durchaus sehr deutlich darüber, worum es ihm geht: "Es geht hier nicht nur um Verfassungen und Rechte, die auf dem Papier stehen, sondern sie müssen in der Praxis auch gelebt werden". Denn "Wir sind in Europa eine Wertegemeinschaft. Und das muss sich auch nach innen in der Verfasstheit der Länder zeigen." In Ungarn besteht genau das Problem, mit dem Orbán so erfolgreich taktieren kann: er gab seinem Land zwar im Wortlaut eine demokratisch klingende Verfassung, nutzt sie aber in der Praxis - durch entsprechende Ergänzungen und Weiterungen sowie die Gleichschaltung der Verfassungsorgane - als Instrument der Einschränkung von Demokratie und Rechtsstaat sowie als Vehikel für die Zementierung seiner Macht und der Manipulation der Tagespolitik auch bei wechselnden Mehrheiten. Damit, ob es den Donau-Propagandisten nun passt oder nicht, ist Ungarn erster Kandidat für den neuen Mechanismus.

Ein Mechanismus gegen Orbáns, Pontas und Berlusconis...

Denn der Plan der Außenminister zielt auf die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Praktiken, beim Praxistest aber dürfte Orbán
auf einem halben Dutzend Themengebieten durchfallen. Schon allein auf die eigentlich alles entscheidende Frage, ob durch freie Wahlen auch ein Machtwechsel (nicht zu verwechseln mit Regierungswechsel) herbeigeführt werden kann, ist durch die heutige Verfasstheit von Grundgesetz und Institutionen nicht mehr klar positiv zu beantworten. Doch Ungarn war keineswegs der einzige Stichwortgeber, auch die Aktionen von Premier Ponta in Rumänien spielten eine Rolle, der ebenfalls wie eine Furie durch die Verfassungsordnung seines Landes tobte. Auch ein Berlusconi, der sich die gesetzlichen Verjährungsfristen passend zu seinen Taten beschließen lässt, hätte es bei Existenz einer Grundwerte-Taskforce künftig zumindest schwerer.

Amtskollegen Westerwelle und Martonyi, hier bei einem früheren Treffen. Was zeigt Guido dem János auf dem Handy, den neuen Bußgeldkatalog für Verstöße gegen Grundwerte?

Kommission bremst: ein Katalog messbarer Kriterien muss her

Justizkommissarin Reding, auch eine deutliche Kritikerin der Orbán-Regierung, hält sich mit ihrer Begeisterung für die Initiative jedoch zurück. Denn die Herren Minister haben natürlich gut reden, doch umsetzen muss die EU-Kommission die ihr angetragene Arbeit und einen glaubhaften und wirksamen "Mechanismus" in Gang setzen. Doch Vertragsverletzungsverfahren, ja überhaupt ein Monitoring, kann die Kommission nur an konkret messbaren Kriterien vornehmen, die sowohl politisch als notfalls auch gerichtlich Bestand haben. Mit einem unguten Gefühl, Ahnungen oder Eindrücken ist es dann nicht mehr getan. Reding verwies erstmal auf die Europawahlen im Mai 2014, in deren Folge auch die Kommission neu zu besetzen ist und auch darauf, dass - im Unterschied zur Ansicht von Westerwelle - für eine "permanente Beobachtung der Grundwerte" in den Mitgliedsstaaten doch eine Änderung an den Europäischen Verträgen notwendig sein würde. Der Rat der Außenminister bat nun die Kommission erstmal um die Erarbeitung einer Grundlage.

Für wen Artikel 2 zu viel ist, sollte gehen

Schaut man sich den Grundwerteartikel 2 der Lissabonner Verträge an, dürfte in vielen Ländern einiger Korrekturbedarf bestehen. Und genau darin besteht auch die Wichtigkeit und die Notwendigkeit dieser Initiative, dass man über das Wichtige redet, sich über die Grundlagen einig wird und bleibt und ihre Anwendung garantiert. Stellt sich heraus, dass ein Mitgliedsland mit dem in Artikel 2 definierten Minimum nicht klar kommt, hat es in Europa nichts verloren: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet."

Greenpeace-Aktion von 2010. Ungarn war der Anlass,
doch der neue Grundrechtsmechanismus dreht sich wahrlich nicht nur um Ungarn.

Allmählicher Paradigmenwechsel der Gemeinschaft?

Einfach ist dieser Plan in der Praxis nicht umzusetzen, auch wenn seine Wichtigkeit kaum überschätzt werden kann, wie wir - gerade im Zusammenhang mit der Politik der Orbán-Regierung - in dieser Zeitung immer wieder eindringlich Seiten betont haben. Timmermans machte mit seinem Fischerei-Vergleich klar, dass in der Gemeinschaft etwas mit den Prioritäten nicht stimmt: eine Armee kämpft für den Binnenmarkt, doch für die Verteidigung der Grundwerte, also die Grundlagen der Gemeinschaft sind nur ein paar Herolde engagiert. Und Westerwelle machte mit seinem geforderten Praxisnachweis indirekt deutlich, dass die Legitimation von Regierungen und Politik in einer wirklichen Demokratie nicht nur an Prozentzahlen der Zustimmung zu messen ist, sondern vor allem daran, ob und wie sie ihren Bürgern Schutz und Möglichkeiten gewährt, sie also ihren Job macht.

Parlament einbeziehen!

Die jetzige Initiative würde die Grundwerte zumindest einmal auf die gleiche Stufe mit den Binnenmarktregeln etc. stellen. Mehr ist wohl im Moment nicht realistisch, aber es wäre ein Riesenschritt vorwärts, vor allem auch, weil die Bewertung der Grundwerte und die Ahndung ihrer Einschränkung
der Gnade der Regierungschefs, also selbst Überwachungsobjekten, die mitunter mit dem Missetäter solidarisieren, endlich entzogen wäre und einer professionellen Bewertung unterläge, die mit einem Monitoring durch das EU-Parlament unterstützt und demokratisch abgesichert gehört.

Dieser allmähliche Paradigmenwechsel wird zukünftig nämlich entscheidend sein für die Existenz der Gemeinschaft. Denn die Frage, ob die allgemeinen Rechte der Menschen für die partikularen Interessen einzelner Gruppen und Interessensphären beschnitten oder geopfert werden dürfen, wie es heute noch regelmäßig geschieht, wird dann anders beantwortet werden müssen. Und diese Frage reicht weit über Ungarn und Rumänien hinaus.

m.s.

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