THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 45 - 2013   POLITIK   05.11.2013

 

Napoleons für Arme

Vom denkwürdigen Besuch des Präsidenten des EU-Sozialkomitees in Ungarn

Wie toll Ungarn aus der Krise gekommen sei, erklärte der ungarische Premier Orbán gestern dem Franzosen Henri Malosse, Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialkomitees, dessen Besuch in Budapest das Hofprotokoll als willkommene Projektionsfläche für Regierungs-PR nutzte. Der desorientierte EESC-Präsident, offenbar fasziniert vom starken Orbán, ließ sich von den Ungarn zu einer absurden Show verführen. Und noch etwas: in wenigen Monaten schon soll Ungarn Deutschland überholen.

Henri Malosse mit Viktor Orbán. Fotos: Hofbildstelle (MTI)

Blindes Vertrauen zu den "Fakten"

Malosse scheint schon ein bisschen ein Orbán-Fan zu sein. Widerstandlos ließ er sich als Alibi-Püppchen herumreichen. Die Zahlen, die der kleine Franzose über Ungarn angibt, sind immerhin schon genauso falsch, wie die der Regierung: die Angaben über Ungarn auf der Webseite des EESC besagen, die Regierung Orbán hätte die Staatsschuldenquote seit 2011 von 81 auf heute 77% gesenkt, dabei leigt sie heute bei 79,3% und das auch nur Dank Einmaleffekten, die zukünftig teuer zurückschlagen werden. Noch im Sommer
verzeichnete Ungarn einen effektiven Rekordschuldenstand, laut Eurostat. Er ist nicht so hoch wie in Griechenland, das ist heute schon ein Erfolg! Auch die aktuelle Arbeitslosenrate, immerhin um 2 Punkte auf unter 10 gesunken, nimmt Malosse für bare Münze. Das sind schonmal vertrauenerweckende Pfeiler für die "Brücke zwischen der EU und der organisierten Bürgergesellschaft", wie die Selbstbetiteltung der EESC, einer EU-Unterorganisation, lautet, erst recht im Angesicht des Zustands der ungarischen Bürgergesellschaft...

Henri Malosse mit Finanz- und Wirtschaftminister Mihály Varga.

Roma, Arbeitslose, Unterschicht? Lieber Fototermine mit dem Hofprotokoll.

Malosse stimmt in einem, seinem Besuch vorauseilenden Statement, "Finding new ways out of the crisis", eine regelrechte Lobeshymne über die "Instrumente außerhalb der Werkzeugkiste" an, die Ungarn angeblich "aus der Krise führte" und "Jobs gesichert" hätte. Zu den 3-4 Millionen unter und an der Armutsgrenze hören wir vom "Sozialkomitee"-Präsidenten der EU nichts, von der Problematik der Roma, über die von  Verfassung für vogelfrei erklärten Obdachlosen, der Kastration der Zivilgesellschaft, dem Abbau von Grund- und Kontrollrechten, der Hegemonie der verfassungsmäßigen Instanzen auch nicht. Dafür den neoliberalen Stehsatz, dass eine "wiederhergestellte Wirtschaft" den "Europäern am meisten dient". Überhaupt nebelt Malosse auf “seiner” Webseite wuchtig und inflationär mit Begriffen wie Solidarität und Werten herum. Sucht man dann nach selbigen konkreter, wird die Luft dünn. Das kennen wir auch von Fidesz-Parteitagen.

Malosse trifft und traf bei seinem dreitägigen Budapest-Trip (bis Mittwoch) auch Superminister Balog, Wirtschaftsminister Varga, EU-Staatssekretärin Györi und Oppositionsführer Mesterházy. Von Treffen mit Arbeitern, Angestellten, Arbeitslosen und sonstigen "Gewinnern" der Orbán-Regierung ist nichts bekannt, auch nicht von Zusammenkünften mit NGO´s, denn der Mann, der Europa bürgerfreundlicher und menschennaher, wörtlich: sozialer machen soll und für die Kooperation mit der Zivilgesellschaft zuständig ist, hatte vor lauter Hofprotokoll dafür gar keine Zeit.

Henri Malosse mit Zoltán Balog “Human Ressources”-Minister

Was ihr wollt: Industrie-, Agrar- oder Reiternation

Orbán stellte sich neben Malosse, einen der wenigen Menschen in der Welt, die von Natur aus kleiner sind als er selbst: "Vor 2-3 Jahren musste die Regierung ihren Plan aufgeben, zum Finanzzentrum der Region zu werden", daher "müssen wir zum Produktionszentrum Europas" werden, so Orbán und die "Reindustrialisierung vorantreiben". Zwischenzeitlich hieß es allerdings auch schon, dass sich Ungarn wieder als "Agrarland" und "Reiternation" positionieren sollte, wo nämlich seine wahren Traditionen und Stärken liegen. Aber wenn Malosse Industriefan ist, dann eben Industrie: Ungarn steht derzeit "auf dem dritten oder vierten Platz" in Europa, was den Anteil der Industrieproduktion am BIP betrifft: "binnen einem Jahr oder 18 Monaten", will man "Tschechien und Deutschland hinter sich lassen". - Und morgen die ganze Welt?

Kennt Malosse eigentlich das neue Arbeitsrecht?

Die Regierung Orbán versucht mit sog. "strategischen Kooperationsvereinbarungen" großen Investoren den Schritt nach Ungarn bzw. den Ausbau ihres hiesigen Engagements zu versüßen. Vor allem
das neue Arbeitsrecht, das für viele Experten ein Rückfall ins 19. Jh. darstellt, ist - neben gesenkten Unternehmenssteuern - jedoch die wichtigste Basis für diese "Reindustrialisierung". Die ausländischen Unternehmen, ganz vorn dabei auch die Deutschen, nehmen diese Art der "Kooperation" gerne und vollkommen unkritisch an. Der kruze Draht zur Macht der Kapitalbringer ist nur ein Aspekt der neuen Untertanengesellschaft. Ob Malosse die neue "Sozialpartnerschaft" in Ungarn studiert hat? Dann hätte er eine Antwort auf die von ihm auf seiner Webseite gestellte Frage: Wo ist die europäische Solidarität?! In Budapest findet er sie eher nicht.

Auch sonst war der Besuch des zwischen Überforderung und Napoleon für Arme (noch so eine Ähnlichkeit mit seinem Gastgeber!) wirkenden Präsidenten jener EU-Seitenorganisation, die angeblich die "Zivilgesellschaft" repräsentieren und einen Dialog zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften, Verbraucherverbänden etc.  zum Nutzen aller Bürger befördern soll, eine dankbare Auflagefläche für die Selbstdarstellung der Regierung. Sie ließ ausrichten, dass sich der Gast "ein Bild über die Erfolge Ungarns beim Kampf gegen die Krise" gemacht habe und er diese "freudig anerkannt" habe. Dazu zählt z.B., dass Ungarn die Arbeitslosigkeit "im Unterschied zu vielen anderen Ländern deutlich senken konnte" und diese nun "unter 10%" liege.
Hier mehr zu dieser Traumzahl.

Zum Glück spielt Ideologie in Budapest so gar keine Rolle mehr!

Henri Malosse, den das Budapester Protokoll von einem ministeriellen Fototermin zum nächsten schubste, was der Herr offensichtlich sehr genoss, soll gesagt haben, dass er die "innovativen Schritte, die Ungarn zur Erhohlung aus der Krise unternommen" habe, "gern persönlich studieren" wollte und "sehr erfreut" über das Krisenmanagement sei. Denn ohnehin brauche Europa ein "menschlicheres und pragmatischeres Gesicht". Welches davon er in Budapest vorfand, sagte er nicht. "Brüssel ist technokratisch und setzt zu sehr auf Ideologien, während Lobbyisten zu viel Einfluss haben", sagte er allen Ernstes weiter. Zum Glück spielt Ideologie in Budapest so gar keine Rolle mehr!

Was bitte, hat die EESC eigentlich vor?

 

Er stimme mit Orbán darin überein, dass man "die Mittelschicht" stärker fördern müsse, ihre Steuerbasis verringern sollte. In Ungarn zahlen dafür die Geringverdiener, die in ziviliserten Ländern einen Steuerfreibetrag erhalten, um überleben zu können, die Differenz in die Staatskasse. So hole Ungarn "seine Rückstände auf", sagte Henri Malosse. Da staunt der Leser. Was treibt diese ominöse EESC eigentlich und welche Rolle spielt Malosse? Vielleicht kann der EESC-Vizepräsident, der deutsche EX-IG-Metaller Hans-Joachim Wilsms, die Frage unseren Lesern so beantworten, dass wir alle sie auch verstehen? Anscheinend gibt es in der EU bereitere Interpretationsspielräume des "Sozialen".

Orbán schloss sein Gespräch mit seinem neuen Kumpel launig: die Beziehungen seines Landes mit der EU seien ja im wesentlichen "konfliktfrei", auch wenn seine Regierung (schnappend auflachend) "nicht gerade Mainstream" ist, doch: "Was heute nicht Mainstream ist, kann es ja morgen schon sein." Wir fürchten auch.

red. / ms.

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