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(c) Pester Lloyd / 42 - 2016    WIRTSCHAFT     20.10.2016

Humankapital auf der Flucht: Ungarn reagiert planlos auf Fachkräftemangel

Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, wegen Unterbezahlung, falscher Ausbildungspolitik, ideologisch bedingter Realitätsverweigerung und Abwanderung, lässt die Regierung hektisch werden. Selbst die großen, privilegierten Investoren werden langsam unruhig und mahnen die Regierung. Die plant jetzt Abgabensenkungen gegen Lohnerhöhungen. Millionen sollen außerdem in Venture Capital gesteckt werden, eine einstellige Einkommenssteuer ist dafür vom Tisch. Ein wirkliches Konzept ist das nicht, denn dafür bräuchte es einen Systemwechsel.

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Die wachsende Panik der Wirtschaftslenker der Orbán-Regierung über die Unzufriedenheit ausländischer Investoren mit der Situation qualifizierter Arbeitskräfte schlägt sich nun auch in entsprechend hektischen Gesetzesinitiativen nieder. So sickerte jetzt ein internes Papier durch, das ab 2017 die Senkung der Sozialabgaben für Unternehmer zu Gunsten von Lohnerhöhungen der Arbeitnehmer vorsieht, um deren weitere Abwanderung zu verhindern.

Derzeit beträgt der Anteil der SV-Kosten am Lohn 27% (alles kommt in einen Sozialfonds und wird dort vom Staat freihändig zwischen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenkasse aufgeteilt), dieser soll schrittweise auf bis zu 20% gesenkt werden, wenn dafür im gleichen Maße der Lohn steigt. Experten halten diese direkte Kopplung für schwer kontrollierbar und gehen eher davon aus, dass sich Arbeitgeber die ersparten Beiträge einstecken werden. Grundsätzlich sieht man die Senkung der Arbeitskosten jedoch als positiv und überfällig an.

Doch die daraus resultierenden Mindereinnahmen für die Sozialversicherungen könnten zu einem Bumerang werden, schließlich hatte die Orbán-Regierung aus der Not heraus schon die privaten Rentenbeiträge in Höhe von 6% des BIP enteignet. Pro Prozentpunkt Lohnnebenkostensenkung spricht man von rund 100 Milliarden Forint (300 Mio. EUR) Mindereinnahmen für die Staatskasse. Daher wird es auch verständlich, dass die "einstellige Einkommenssteuer", die Strategen der Orbán-Regierung und der Premier selbst immer wieder als Bonbon für Mittel- und Großverdiener ansprachen, erstmal vom Tisch zu sein scheint. In dem geleakten Papier ist zu lesen, dass es "dafür zur Zeit keinen Spielraum" gibt.

Die obigen Maßnahmen sollen Teil eines "Wirtschaftlichen Anreizpaketes" werden, das die
desaströse Wettbewerbsfähigkeit (außerhalb der Ansiedlung produzierender Großkonzerne) des Landes verbessern helfen soll. Zu diesem Paket gehört auch eine Finanzspritze von 150 Mio. EUR (ein Drittel kommt von der EU) über einen staatlich finanzierten Venture-Capital-Fonds, der über die Budapester Börse abgewickelt werden soll und kleinen "innovativen" Unternehmen Kapital zuschanzen soll. Auch die Aktionäre solcher Unternehmen werden steuerlich begünstigt, in denen ihnen die Kapitalertragssteuer erspart bleibt, wenn sie die Aktien solcher geförderter Unternehmen länger als fünf Jahre halten. Kritiker sehen - aus Erfahrung klug - in dem System eher wieder eine Variante wie Günstlingsfirmen an billiges - öffentliches - Geld kommen können.

Bei einem Runden Tisch der Autoindustrie vor einigen Tagen beklagten selbst die besonders umsorgten Großinvestoren Audi und Daimler den Mangel an adäquaten Arbeitskräften für ihre Branche, - ein deutliches Warnzeichen an Orbán, der durch seine asoziale, ständestaatliche und bildungsfeindliche Politik seit 2010 fast
eine Million junger Leute in den Westen vertrieben hat und aus ideologischen Gründen lieber Hunderttausende in 1-Forint-Programmen den Wald fegen lässt als eine anständige Bildungs- und Qualifizierungspolitik zuzulassen.
 
Audi z.B. hat seit den Neunziger Jahren rund 8,5 Milliarden Euro in Ungarn investiert, Daimler bereits rund 2 Milliarden (inkl. der angekündigten Ausbauphase) seit vier Jahren. Erstere stellen nun aber fest, dass es "einige Gründe für Bedenken gibt", so der Chefmanager von Audi Hungária Peter Kössler. "Wenn wir an Humankapital (ja, in diesen Kreisen spricht man so über Menschen, Anm.) denken, sehen wir Probleme in der nötigen Menge als auch bei ausreichend geschulten Kollegen." zitiert ihn Reuters. Er verlangt bessere Wohnungsbedingungen und Investitionen in die Infrastruktur, um die "Mobilität" dieses Humankapitals zu erhöhen und so die "Arbeitskräftezufuhr" sicher zu stellen.

Der Daimler-Vertreter Wolff ergänzt, dass "die Zukunft definitiv eine Herausforderung wird" und man daher "Hand in Hand mit der Regierung und den lokalen Autoritäten" arbeiten müsse. Dazu gehörten "wettbewerbsfähige Gehälter", aber auch eine soziale Umgebung, also angenehmes Wohnen, Kinderbetreuung usw. Aber: so warnt Wolff denn gleich, "in Ungarn tätige Unternehmen, sollten von der Regierung nicht in eine Gehaltserhöhungsspirale gezwungen werden", die gar auf einem Level wie in Westeuropa endet, denn das würde "Ungarns Wettbewerbsfähigkeit beschädigen".

Im August gingen die realen Einkommen in Ungarn in der freien Wirtschaft gegenüber dem Vorjahr um 6,9% nach oben, schlicht eine Folge des Fachkräftemangels und der anhaltenden Abwanderung, keinesfalls strategischer Planung oder sozialen Gewissens von Regierung und Arbeitgebern. Immerhin geht es dabei um 834 EUR durchschnittlichen Bruttolohn. Und die Gehaltserhöhungen können noch so hoch ausfallen, dem normalen Arbeiter werden sie effektiv nichts bringen, solange die Orbánomics an ihrem Dogma von hohen Verbrauchssteuern im Tausch für niedrige Einkommenssteuern für die Besserverdiener festhalten, um ihre Wahlklientel bei Laune zu halten. Kurz die
Elends-Reichtums-Schere geht immer weiter auseinander, die Flexibelsten, die Klügsten (brain drain), die Zukunft des Landes wandern ab. Orbán betreibt Realitätsverweigerung für ihn "gibt es keine Abwanderung aus Ungarn".  Solche Statements, verbunden mit der nationalistischen und antisozialen Politik Orbáns erleichtert vielen jungen Leuten, die einfach ein normales Leben in einem normalen Land wollen, den Abschied.

Obige Anmerkungen von "Hand in Hand" zwischen ausländischen Investoren und Regierung sind dann auch eher auf möglichst "flexible" Arbeitsrechtsauslegungen und die staatlich finanzierte
Zufuhr weiterer billiger Arbeitskräfte, wenn nötig aus den umliegenden Ländern, gemünzt. Tiefere Gedanken über die gesellschaftlicher Situation, in denen das Land steckt, dessen Regierung mit den Auslandsmilliarden gestützt werden, sind von den Investoren nicht zu erwarten. Hier wäre ein Ansatzpunkt für die Opposition, wenn es denn in Ungarn eine gäbe. Nämlichden wirtschaftlichen Schaden der Orbán-Politik zu beziffern und Alternativen jenseits ideologischer Gräben aufzuzeigen.

 

Nur offene politische Unsicherheit würde Audi, Daimler und Co beunruhigen, die eine Gefahr für ihre Profitbasis darstellte. Bei einem Auftritt in London für den US-TV-Sender CNBS sah sich Außenminister Szijjártó genötigt, nochmals zu erklären, dass ausländische Unternehmen und ihre Investitionen "total sicher in Ungarn" seien und man ein "sehr investorenfreundlichen und offenes Land" sei. Szijjártó versucht in London gerade heraus zu finden, was mit den rund 500.000 in Großbritannien lebenden Ungarn bei einem harten Brexit geschehen könnte - ein Alptraum für die ungarische Regierung. Außerdem traf er sich mit Vertretern großer britischer Konzerne, um abzuklopfen, ob sie ihre Investitionen bei einem Brexit eventuell zurückfahren würden.

Zum Thema:

Kommt ihr uns mal nach Hause! Wie Ungarn ausgewanderte Landsleute zurück holen will

red.

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