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(c) Pester Lloyd / 45 - 2011  GESELLSCHAFT 17.11.2011

 

Das Musterdorf

Ungarn und die "Lösung des Zigeunerproblems" - Ortstermin in Gyöngyöspata

Gyöngyöspata ist seit der Eskalation im Frühjahr zum Symbolort für politische Versäumnisse, rechte Gewalt, das "Zigeunerproblem" in Ungarn geworden und auch zum Spielball von Politik wie Medien. In Gyöngyöspata hat man nun aufgeräumt, die uniformierte Bürgerwehr verboten bzw. transformiert, ein Modellprojekt für Sozialhilfeempfänger gestartet, einen Jobbik-Bürgermeister gewählt. Jetzt herrscht hier Ordnung. Wir waren vor Ort und schauten uns an, wie die "Lösung des Zigeunerproblems", die Umsetzung der selbstgelobten "nationalen Romastrategie" in der Realität aussieht.

Ehrliche Arbeit, statt Herumlungern. Gyöngyöspata im November 2011
(c) Foto: Joseph Gepp, Falter

Eine knappe Stunde Autofahrt Richtung Nordosten von Budapest entfernt, am südlichen Auslauf des Mátra-Gebirges, liegt das kleine beschauliche Dorf mit 2.500 Einwohnern. Die „Fö utca“ (Hauptstraße) durchzieht den Ort, in der zentral auf einem kleinen Hügel gelegenen „Templom utca“ (Kirchenstraße) ragt eine kleine idyllische Dorfkirche aus dem 11. Jahrhundert über die Gemeinde herab. Es gibt 2 Bushaltestellen (eine für jede Richtung) und einen kleinen Dorfplatz mit Supermarkt und Kneipe, eine Brücke beugt sich über den kleinen Bach, der friedlich durch das Dorf plätschert. Ein ganz gewöhnliches ungarisches Kaff also, von denen es tausende im Land gibt. Doch etwas hier ist anders. Auffällig sind drei Polizeiwagen, welche permanent durch das Dorf streifen, in welchem normalerweise wohl lediglich eine offiziellen Bürgerwehr patrouillieren würde, so wie es in vielen kleinen Dörfern im Lande üblich ist. Plötzlich bemerkt man ein Auto mit ausländischem Kennzeichen und auffällig um sich blickende Stadtmenschen mit Kameras und Schreibblöcken: Journalisten.

Kein Zweifel, wir sind da, wir sind in Gyöngyöspata, dem Dorf, welches seit März dieses Jahres landesweite und auch international Bekanntheit erfahren hat und mittlerweile konstantes Politikum und Spielball der Politik wie der Medien ist: der symbolische wie reale Ort, auf dessen Rücken die Auseinandersetzung über den Umgang mit der Romabevölkerung, wie auch mit dem Rechtsextremismus ausgetragen und projiziert wird. Die offiziellen Positionen der Fidesz-Regierung im Feldversuch: die hochgelobte nationale Romastrategie auf der einen Seite – Null-Toleranz-Politik für Abweichler auf der anderen.

Vorgeschichte

Gyöngyöspata ist das Dorf, aus dem an Ostern dieses Jahres 266 Romakinder und -frauen durch die Initiative des amerikanischen Geschäftsmanns Richard Field mit Hilfe des Roten Kreuzes evakuiert wurden, nachdem die neofaschistische Bürgerwehrgruppe „Für eine besser Zukunft“ den Ort seit Wochen belagerte, die Polizeigewalt übernahm, sich als Staatsmacht aufspielte, die Roma terrorisierte, weil die "die Ungarn" terrorisierten und schließlich zu einer finalen Wehrsportübung in unmittelbarer Nähe der Romasiedlung Nazis aus dem ganzen Land eingeladen hatte.

Gyöngyöspata im April: “Die schönere Zukunft” umstellt das Romaviertel
Mehr Links zum Geschehen am Ende dieses Beitrags.

Das alles geschah unter den Augen der Regierung, welche mit Hinweis auf die Versammlungsfreiheit wochenlang dabei zusah, wie die Lage sich immer mehr anspannte und in Gyöngyöspata das staatliche Gewaltmonopol aussetzte, während sie im Zuge der ungarischen Ratspräsidentschaft ihre europäische Romastrategie als das Maß aller Dinge verkaufte und - im wahrsten Sinne - verabschiedete. In Gyöngyöspata brach aus, was sich unter der dünnen Decke vieler Orte als ungelöster Konflikt zusammenbraut, vor allem weil die dahinterliegenden Probleme jahrelang schlicht ignoriert und verharmlost worden sind: Roma können nicht mit "der Mehrheit" zusammenleben, diese will es nicht.

Nachdem es dann zu der vorhersehbaren Gewalteskalation kam und Neonazis und Dorfjugend aufeinander losgingen, vertrieb die Polizei mit großem Aufwand und noch größeren Politikertönen die Bürgerwehr schließlich aus dem Dorf. Der internationale Imageverlust der Regierung, die durch ihre Duldung und Passivität zu lange mit dem rechtsradikalen Feuer gespielt und kokettiert hatte, musste korrigiert werden. Das versuchte man zunächst mit einem Anlassgesetz und der Lüge einer "internationalen Verschwörung", richtete sogar einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. Nicht wegen der Armut der Menschen oder den Taten der Nazis, nein, man wollte "Herausfinden, wer Ungarn diffamiert". Der Regierungssprecher sprach hinsichtlich der Evakuierungen von einem "lange geplanten Osterausflug". Nur die Ausflügler wussten nichts davon. War wohl als Überraschung geplant.

Vom Krawallort zum Modellprojekt?

Dann machte man Gyöngyöspata zum Modell, zwei der momentan laufenden Musterprojekte für den bald flächendeckenden „verpflichtenden Arbeitsdienst“ für Sozialhilfeempfänger dürfen hier erprobt werden, ganz im Sinne der heilbringenden nationalen Romastrategie, auf die man sich international beruft und ständig als "vorbildlich" auszeichnet. Auf der nationalen Ebene transportiert man jedoch eher die Botschaft „schaut her, wir zwingen die Schmarotzer zum arbeiten“. Das kommt an und erwischt so zwei Fliegen mit einem Schlag. Das Volk sieht: es wird etwas getan, die EU begnügt sich mit den weisen Worten und "Strategien" von Staatssekretär Balog und einem Wimpernschlag von Vorzeigezigeunerin Javorka, der Europaabgeordneten des Fidesz.

Doch nicht jeder fällt auf diesen Taschenspielertrick rein: Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, lobte zwar Anfang Oktober auf dem ungarisch-deutschen Forum in Budapest die auf dem Papier stehende Romastrategie von Staatsminister Balog in höchsten Tönen, kritisierte aber gleichzeitig die Arbeitsprogramme in Gyöngyöspata scharf, da diese nichts mit der in der Strategie angekündigten nachhaltigen Romapolitik zu tun hätten. Die rechtsradikale Jobbik-Partei durfte währenddessen bei der Bürgermeisterwahl im Juli (der vorherige Bürgermeister, der die bösen Geister rief, gab sein Amt wegen „Krankheit“ auf) die Ernte für das staatliche Versagen bzw. bewusste Nicht-handeln der Regierung einfahren und hat nun das politische Sagen im Dorf.

Den Bock zum Gärtner gemacht

Zusammengefasst: In Gyöngyöspata verwaltet nun ein Jobbik-Bürgermeister die Geschicke des Dorfes, jene Jobbik, unter derem ausdrücklichen Schutz sich die "Bürgerwehren" hier organisierten, die fast einen Bürgerkrieg losgetreten hätten, jene Jobbik, die laut "Geburtenkontrolle bei Zigeunern" fordert. Der Jobbik-Bürgermeister führt nun also auch das „verpflichtende Arbeitsprogramm“ für Sozialhilfeempfänger hier durch (37 dieser 40 Arbeiter in Gyöngyöspata sind Roma). Wird das die Schablone für die Lösung des Problems? Den Bock zum Gärtner machen?

Große Politik auf grauen Küchenhockern

Nun sind wir also hier. Wir fahren zunächst zu János Farkas senior, 50, dem Vorsitzenden der Romaselbstverwaltung in Gyöngyöspata (Foto unten), welcher die knapp 400 noch übrig gebliebenen Roma im Dorf vertritt. Im Haus der Familie Farkas leben insgesamt 17 Personen, davon 9 Kinder. Es liegt direkt an dem Hang, auf dem im März die Wehrsportübungen unter der Leitung von Tamás Eszes organisiert wurden, dem Chef der rechtsextremistischen „Véderö“ (Schutzmacht). Mittlerweile ist Eszes tot, am Vorabend unseres Besuches hat er sich in seinem Haus erhängt, daher auch die besonders vielen Journalisten. Farkas empfängt uns freundlich, seine Frau reicht uns Kaffee, wir unterhalten uns über die aktuelle Situation der Roma in Gyöngyöspata.

János Farkas senior, 50, dem Vorsitzenden der Romaselbstverwaltung in Gyöngyöspata
(c) Foto: Joseph Gepp, Falter

Er fängt an über die Ereignisse der letzten Monate zu erzählen, die auch sein Leben umgekrempelt haben. Andauernd empfängt er Journalisten, während des Aufmarsches der Rechten fungierte sein Haus als Zentrale der zivilen Menschenrechtsgruppen, die zur Hilfe und Unterstützung (quasi als Ersatz für die Staatsgewalt) in das Dorf eilten. Trotz einer gewissen Routine, die sich wohl durch den ständigen Kontakten mit Medien, Menschenrechtlern und Eintagsfliegen wie dem Innenminister Sándor Pinter - der auch schon auf den kleinen grauen Hockern in dieser Küche saß - in seine Ausführungen eingenistet hat, merkt man ihm doch an, dass ihn, und damit steht er wohl stellvertretend für das ganze Dorf, die Größe und politischen Reichweite der Ereignisse überfordert, wie wohl auch die von einem Tag auf den anderen einsetzende nationale Bekanntheit Gyöngyöspatas die Bewohner überraschend überrollte. All die große Politik, dass passt hier irgendwie nicht hin, in diese bescheidene Küche in der Gyöngyöspataer Romasiedlung.

"Sklavenarbeit" und Schikanen

Aber was Farkas erklären kann, sind die aktuelle Gefühlslage und die Lebensbedingungen der Roma in Gyöngyöspata. Auch wenn wir Emotionen abziehen, Kalkül unterstellen, die Fakten sprechen für sich. Davon gibt es genügend, wie uns unser Besuch zeigen wird. Sechzig der Roma haben nach den Ereignissen im Frühling dem Dorf und Ungarn bereits den Rücken gekehrt und sind nach Kanada geflohen. Das hat Kanada veranlasst, seine Visapraxis mit Ungarn zu überdenken.

Die Lage habe sich im Verhältnis zu der extremen Situation im Frühling zwar verändert, aber alles andere als verbessert: „Wir leiden seit 8 Monaten und leben in einem ständigen Klima der Angst und Provokation, der psychische Druck ist unerträglich. Seit die Jobbik an der Macht ist, sind wir täglichen Schikanen ausgesetzt.“ Regelmäßig würden gegen die Roma willkürliche Strafen verhängt, so wurde z.B. eine Mutter mit einer Strafe von 30.000 Forint belegt, weil sie ihren Kinderwagen auf der Straße, statt auf dem kaputten, quasi gar nicht vorhandenen Bürgersteig entlang geschoben habe.

Die Arbeitsprogramme nennt Farkas „Sklavenarbeit“, die „unsere Freiheitsrechte beschränkt“. Er selbst ist als Aufseher für eines der beiden Projekte ernannt worden, da die zuständigen Leute im Wasserwerk „Demokraten“ seien. (der Staat gibt den gesetzlichen Rahmen, Kommunen suchen sich Trägerbetriebe, meist kommunale zur Umsetzung). Vor allem das andere Projekt sei das Problem. Hier liefen die Zuständigkeiten über das Forstamt, welche einen jungen Jobbik-Sympathisanten als Aufseher eingesetzt hätten. Bei Arbeitsantritt müsse man in Reih und Glied stehen, regelmäßig kämen Jobbik-Leute und der Bürgermeister vorbei, um die Arbeit zu begutachten, der allgemeine Ton und das Aufspielen dieser Besucher wird von den Roma als Provokation wahrgenommen. „Wir lassen uns nicht provozieren“ ist jedoch das Credo Farkas´, dass ihn bereits während des Aufmarsches der Rechten von den zivilen Organisationen eingebläut wurde und lange dafür sorgte, dass die Lage in dem Dorf nicht schon früher eskalierte.

Arbeitskolonne in Gyöngyöspata, Foto: Pester Lloyd

"Beweisen, dass wir keine Schmarotzer sind"

Die Arbeiter wurden zunächst auf einem Berg in der Nähe des Waldes zu Aufforstungsarbeiten eingesetzt, momentan stünden dort die Arbeiten jedoch still, da man auf Werkzeuglieferungen vom Innenministerium warte. Zur Zeit würden sie in der Nähe der Landstraße einen kleinen Weg von Gestrüpp befreien. „Diese Arbeiten sind sinnlos. Es gibt viele nachhaltige Alternativen, die der Gemeinde wirklich helfen würden, wie z.B. Biolandwirtschaft oder Nutztierhaltung“, sagt Farkas Senior. Das einzig positive an dem Projekt sei momentan, dass man beweisen könne, dass man auch tüchtig sei und sich damit gegen die Kriminalisierungsstrategie der Jobbik wehren könne, die es gerne sehen würde, dass die Roma statt zu arbeiten, Straftaten begingen. Der Bürgermeister habe nach seinem Antritt gesagt, dass es zwei Arten von Menschen gäbe, „bauende und zerstörende“. Farkas, der sein mittlerweile etwas heruntergekommenes Haus noch in der Vorwendezeit selber baute, verlor nach dem Systemwechsel sofort seinen Job als Gabelstapelfahrer in Budapest. Sein ältester Sohn, János Farkas Junior, 29, hoffte auf eine bessere Zukunft, als er 2002 das Fachabitur ablegte und damit eine positive Ausnahme in "seinen Kreisen" war - doch auch das nutzte nichts.

"Das Gesetz hier bin ich"

Heute arbeitet János Farkas Junior in der Forstamt-Kolonne an der Landstraße. Wir fahren drei Kilometer aus dem Dorf Richtung Nordosten. Rechts der Straße, mitten im Nichts, inmitten eines großen, mit Sträuchern und Büschen bewachsenen Areals, finden wir die Arbeiter. Wir wollen auf den kleinen Landweg fahren, der das Gebiet durchschneidet, etwas weiter hinten kann man schon die Arbeiter erkennen, doch ein Mann stellt sich vor das Auto und hebt die Hand, deutet uns an stehen zu bleiben. Es ist der Aufseher der Kolonne, Attila Kakukk, 32, der uns mitteilt, dass es Journalisten nicht erlaubt sei, auf das Gelände zu fahren oder mit den Arbeitern zu reden. Auf die Bemerkung hin, dass dies doch ein öffentlicher Landweg sei und nirgendwo etwas davon stehe, dass man hier nicht lang dürfe, sagt er „Aber ich bin hier“. Aha.

Da er nun schonmal da ist, unterhalten wir uns auch mit ihm, es stellt sich heraus, dass Kakukk selbst Sozialhilfeempfänger ist und nun hier arbeiten muss, da seine Computer-Schulung abgebrochen wurde, „vielleicht geht sie nächstes Jahr aber weiter“, hofft er. Warum er als Aufseher arbeiten darf und nicht Büsche schneidet, weiß er nicht. Vielleicht weiß es der Bürgermeister. János Farkas Junior, der sich mittlerweile zu der Gesprächsrunde gesellt hat, nutzt unsere Anwesenheit, um den jungen Mann - der zwanghaft versucht Autorität und Härte auszustrahlen, obwohl es ihm nicht so ganz zu Gesicht stehen mag - in eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit dieser Arbeit und den merkwürdigen Arbeitsumständen zu verwickeln.

Man merkt, Kakukk ist gefangen in seiner Rolle, er versucht halbherzig, das Projekt zu verteidigen, obwohl er eigentlich selber im gleichen Boot sitzt. Ebenso halbherzig befiehlt er dem lästige Fragen stellenden Farkas mit der Arbeit weiterzumachen, jedoch ohne Konsequenzen, Farkas bleibt einfach da und unterhält sich weiter mit uns. Später erzählt Farkas, dass das Verhältnis zwischen den Aufsehern und den Arbeitern sehr wechselhaft sei, manchmal beschwere er sich mit ihnen gemeinsam über die Arbeitsmaßnahmen, den Zwang und die Sinnlosigkeit der Projekte, um sie dann aber wieder zu belehren, dass man eben „nicht klauen“ und  „keine alten Frauen schlagen“ dürfe.

Farkas Senior: „In Gyöngyöspata werden immer die schärfsten Sanktionen gegen uns angewandt“

Ansonsten käme die Polizei ein- bis dreimal mal täglich vorbei um nach dem Rechten zu schauen. „Schon komisch, dass an einem Arbeitsplatz dreimal täglich die Polizei vorbeikommt, das gibt es sonst nirgendwo, außer auf der Polizeistation“, witzelt Farkas wie jemand, der sich Angesicht der Aussichtslosigkeit und Unabänderlichkeit seiner Situation dem Schicksal ergeben hat und dem nur noch sein Humor zur Verarbeitung der Realität geblieben ist. Auch auf dem Nachhauseweg würden sie regelmäßig kontrolliert, so wurde einer seiner Kollegen angezeigt und mit einer Geldstrafe belegt, weil er nach der Arbeit 6 Kilo liegen gebliebenen Sträucher in seiner Tasche mitnahm. Die Dorfbewohner der „Mehrheitsbevölkerung“, welche Brennholz vom Fluss eingesammelt haben, welches massenhaft durch dass andere, vom Wasserwerk verwaltete Projekt, angefallen sei, wären vom Bürgermeister hingegen lediglich dazu aufgefordert worden, es wieder zurück zu bringen. Das eine ist Zigeunerkriminalität, das andere wohl ein Missverständnis.

Der Kinderwagen mitten auf der Straße, wenn das mal die Aufsicht sieht...
Foto: Pester Lloyd

Die horrenden Strafen, welche die Roma in Gyöngyöspata permanent zu befürchten haben, sind von der Demütigung mal ganz abgesehen, angesichts ihrer finanziellen Verhältnisse verheerend. Momentan ist die Arbeit noch mit dem Mindestlohnsatz von 78.000 Forint brutto (60.600 netto) vergütet, da das Musterprojekt bereits im August anfing und damit vor der Einführung der neuen Regelung am 1. September, nach welcher diese Arbeitsmaßnahmen nur noch mit 57.000 Forint brutto (47.000 netto) entlohnt werden und damit 19.000 Forint (60 €) über der Sozialhilfe liegen. Sie dürfen für diese Summe (insgesamt also 150 EUR, von denen man auch in Ungarn nicht leben kann) auch über Land geschickt werden, 5 Tage die Woche, mit Übernachtung in Baucontainern, bis zu vier Monaten im Jahr. Doch auch in Zukunft werde er die Arbeit annehmen müssen, sagt der junge Farkas, er habe ja gar keine Wahl, außerdem müsse man schließlich „irgendwie die Familie ernähren“ und bei Verweigerung der Arbeit wird der Sozialhilfeanspruch für ganze drei Jahre gestrichen, wie drei seiner Kollegen aus der Kolonne Ende September schmerzhaft erfahren mussten.

Der Bürgermeister hat hier mehr Macht als der Innenminister

Nach Angaben der Ortsverwaltung wurde ihnen gekündigt, da sie wiederholt nicht zur Arbeit erschienen. Farkas jedoch erklärt, dass sie einen besser vergüteten Gelegenheitsjob angenommen hätten und wie vorgeschrieben, für die drei Tage die Inanspruchnahme ihres Urlaubs im Vorraus bei Kakkas angemeldet hätten. István Mátyás, der Gemeindenotar und die rechte Hand des Bürgermeisters, habe jedoch auf die Kündigung der Arbeiter bestanden und diese auch durchgesetzt, obwohl er vom Innenministerium aufgefordert wurde die Entscheidung zurückzuziehen. Da die Durchführung und Umsetzung der lokalen Arbeitsprogramme jedoch bei den Gemeindeverwaltungen liegt, blieb es bei diesem Entschluss. Das Bild vom faulen Zigeuner will man sich im Jobbik-Bürgermeisteramt wohl nicht durch Fakten zerstören lassen.

Keine Auswege, keine Perspektiven, nur den Deckel fest drauf!

Immerhin, die "Übergriffe", also das Klauen von allem was nicht niet- und nagelfest ist, das Bespucken und Beschimpfen von Anwohnern, das Abkassieren von Wegezöllen und was die "Betroffenen", gern melodramatisch untermalt, den "echten ungarischen" Medien damals, als es hier krachte, schilderten, ist weitgehend beendet. Im Dorf herrscht wieder Ordnung, man hält den Deckel fest drauf. Für immer? Wo sind die "breiten und gezielten" Bildungsangebote des Herrn Staatssekretär Balog, die Nachhilfe für die Schüler, die Berufsbildung für die Jugendlichen? Die fesche Fidesz-EU-Abgeordnete, Livia Javorka, selbst Roma, die jeden Tag in Brüssel die Hymne der "nationalen Romastrategie" singt, sprach davon, "beste Lösungen" durchzusetzen. Hat sie dabei an Gyöngyöspata gedacht? Der Fidesz-Mann Flórian Farkas, Chef der Landesselbstverwaltung der Roma, bedankte sich mit einem Präsentkorb bei Premier Orbán für die Romainitiative. Darüber kann man nicht einmal mehr lachen. Wo sind Auswege, die Perspektiven? Egal, Hauptsache es herrscht Ruhe im Ort, in allen Orten. Das ist das ungarische Modell. Das der “erfolgreich abgeschlossene, breite Dialog”, von dem der Staatssekretär gerade sprach?

Zigeunerkriminalität, Zigeunerfaulheit, dass ruft nach einem Gespräch mit Tamás Eszes, dem selbst ernannten Dorfpolizisten, Wehrsportler und Gründer der "Schutzmacht", der hier alles ins Rollen brachte. Doch der ist seit gestern Abend tot. Wir fahren zu seinem Haus, wo wir uns kurz mit einer Nachbarin von ihm unterhalten. Sie ist sichtlich bewegt von seinem Tod, kann sich die Gründe nicht erklären und wisse auch noch nicht Näheres, da sie heute noch nicht unten im Dorf war. Sie habe es gestern im Fernsehen gesehen und sei dann raus auf die Straße, wo sie vor Eszes´Haus die Polizei- und Medienfahrzeuge sah. Seit seiner Ankunft in Gyöngyöspata habe er das von ihm bezogene Haus ordentlich renoviert. „Es ist wirklich sehr traurig, er hat sehr viel für uns getan“. In den Medien liest man von Depressionen und Alkohol, einem verpfuschten Leben allemal.

Der Bürgermeister hat keine Zeit

Wir fahren zurück ins Dorf, wo wir von französischen Journalisten (man erinnert sich zwangsläufig an die Räumungen bei Paris und stellt sich Fragen nach der "europäischen Romastrategie") erfahren, dass es ihnen am Vortag noch erlaubt war das Arbeitsgelände zu besichtigen; die Anordnung war wohl sehr aktuell oder eben willkürlich. Wir hätten gerne den Bürgermeister dazu und noch zu vielen weiteren Dingen befragt. Gesehen haben wir ihn bereits kurz, als er in seinem silbernen Opel mit großem Jobbik-Logo auf der Motorhaube durchs Dorf chauffiert wurde.

Leider hatte er keine Zeit für uns, „Es macht eh keinen Sinn mit der Westpresse zu reden“, hieß es am Telefon und außerdem hat er alle Hände voll zu tun. Den Franzosen gab Oszkár Juhász aber doch ein Interview, im Film sieht man die iranische Flagge auf seinem Schreibtisch (Video1). Und wir erfahren von der hiesigen Schulaufführung Anfang Oktober (Video 2). Die Roma-Kinder werden dabei von den "Weißen" abgesondert, sie sitzen ganz hinten, obwohl vorne noch Platz war, werden separat herein- und herausgeführt aus der Schulaula. Können sie schonmal üben, für den Arbeitsdienst später. Geht eben alles seinen geordneten Gang - im Musterdorf Gyöngyöspata.

Christian-Zsolt Varga / red.

 

Gyöngyöspata. Iskolai ünnepély a Kultúrházban, 2011 október 6. from Ádám Csillag on Vimeo.

 

Links zum Thema:

Zu den Ereignissen im Frühjahr:

Machtergreifung - März 2011
Neonazis übernehmen Polizeigewalt in Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/2011_11/11gyoengyoespata/11gyoengyoespata.html

Eskalation der Gewalt - April 2011
Offene Kämpfe zwischen Roma und Neonazis in Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/2011_17/17gyoengyosDIE/17gyoengyosdie.html

Zum Tod von Tamás Eszes:
Neonaziführer in Ungarn tot aufgefunden - 4. November 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_44/44ezes/44ezes.html

Zur politischen Aufarbeitung des Geschehens:

Anlassgesetz - Mai 2001
Ungenehmigte "Bürgerwehr" wird in Ungarn strafbar
http://www.pesterlloyd.net/2011_18/18anlassgesetz/18anlassgesetz.html

Die Unbelehrbaren
Gyöngyöspata und die "Zigeunerfrage" in Ungarn - Mai 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_18/18unbelehrbare/18unbelehrbare.html

Weitere Links:

Roma in Ungarn und Osteuropa - Themenseite zu sozialen und politischen Aspekten
http://www.pesterlloyd.net/portalpolitik/gesellschaft/roma/roma.html

Ausgelagert - März 2011
"Europäischen Romastrategie" und eigene Verantwortung
http://www.pesterlloyd.net/2011_09/09romaAndorBalog/09romaandorbalog.html

Hätte, müsste, könnte - November 2011
Ungarns "Romastrategie" ist fertig und am Ende
http://www.pesterlloyd.net/2011_46/46romastrategie/46romastrategie.html#idc-container

Die Republik der Bürger - Teil 3
Konkrete Programme für und mit Roma: TASZ - Juli 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_26/27republik3/27republik3.html

 

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