(c) Pester Lloyd / 52 - 2011
NACHRICHTEN 31.12.2011
Zustände und Aussichten
Nachrichten aus Ungarn zwischen den Jahren
Schlangestehen für eine warme Mahlzeit zu Weihnachten
Am ersten Weihnachtstag bildete sich
eine mehrere hundert Meter lange Menschenschlange entlang der Rákóczi út bis zum Blaha Lujza tér in der Budapester Innenstadt. Der Auflauf war die wohl eindrücklichste Demonstration
der Zustände in Ungarn, die Leute standen nach einer warmen Mahlzeit an, ausgegeben vor der katholischen Szent Rókus Kapelle von einer "Sekte", der
Hare Krishna Gemeinschaft, die diesen Standplatz, den sie seit 20 Jahren betreibt, auf Verlangen der Stadt im nächsten Jahr aufgeben muss, obwohl offensichtlich ist, dass die Stadt selbst die
Bedürftigen nicht ausreichend versorgen kann (oder will).
Die Organisatoren berichten nicht nur von einer
"deutlich steigender Zahl" von Menschen, die wegen einer warmen Mahlzeit anstehen, sondern auch von einem stark veränderten Verhältnis. Waren früher
eindeutig Obdachlose die Mehrheit, wird diese nun von Rentnern und kinderreichen Familien gestellt. Es waren Mütter mit vier bis fünf Kindern zu sehen, die
am 1. Weihnachtsfeiertag lange um eine warme Mahlzeit anstehen mussten. Auch in 12 anderen Städten wurden solche Tafeln eingerichtet.
Seit Dezember ist zudem ein Gesetz in Kraft, dass
Obdachlosigkeit unter Strafe stellt (hier mehr dazu: http://www.pesterlloyd.net/2011_47/47schweigema rsch/47schweigemarsch.html), mehrere Kommunen haben das "Wühlen in Müll" unter Strafe gestellt, das
Verfassungsericht erkannte das als verfassungswidrig, eigentlich ist auch Armut verfassungswidrig, denn in der Präambel
findet sich das Gebot, den Bedürftigen zu helfen, verankert, als Teil tätiger christlicher Nächstenliebe.
Demo gegen "Einparteien-Verfassung"
Am 2. Januar findet in der Ungarischen Staatsoper ein Festakt der Regierung zur
Inauguration der neuen "nationalen" Verfassung statt. Die Oppositionsgruppe 4K! ("Vierte
Republik"), aber auch andere Parteien und Organisationen, haben ab 18 Uhr vor der Oper (gegenüber bei der ehemaligen Balletschule) zu einer Demonstration gegen die
"Einparteienverfassung" aufgerufen. Es gibt nichts zu feiern, ist das Motto. 4K! bezeichnete die neue Verfassung als illegitim, denn weder hatte die Regierungspartei die
Wähler vor den Wahlen über Art und Umfang der Änderungen informiert, noch sei der Verfassungsgebungsgesetz demokratisch verlaufen. Eine derart grundlegende
Umschreibungen des Grundgesetzes eines Staates dürfe nicht durch eine Parlamentsfraktion entschieden werden. http://negyedikkoztarsasag.hu
Streit mit IWF weiter festgefahren, Orbán: keine Änderungen
Die Frage der Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem IWF über eine neue
Kreditlinie scheint weiter festgefahren. Die Regierung brachte das kritisierte Nationalbankgesetz durchs Parlament, das ihr weitgehende Durchgriffsrechte auf die MNB
und damit die Zinspolitik sowie die Währungsreserven gibt. Orbán sprach davon, dass "bis auf zwei" alle Forderungen der EZB und der EU berücksichtigt worden seien und es keine
weiteren Änderungen geben wird. Dementgegen steht die unmissverständliche Aussage von seiten des IWF "offizielle Gespräche hängen davon ab, ob die Regierung bereit ist,
über grundsätzliche und politische Fragen der finanziellen Stabilität und der Einhaltung von Normen zu verhandeln."
Derweil musste der staatliche Schuldendienst zum wiederholten Male die Volumina von Auktionen von Staatspapieren verringern, weil die zu zahlenden Zinsen untragbar
geworden waren, zum Teil lagen sie schon bei knapp 10%, womit auch die Aussage: "Ungarn kann sich weiterhin vollumfänglich am internationalen Finanzmarkt finanzieren"
nicht mehr stimmt. Der Forintkurs schnellte binnen einiger Tage wieder von 303 auf 315 Forint zum Euro.
Massenkündigung von Krankenhausärzten droht
Weitere Unbill droht zu Beginn des Neuen Jahres im Gesundheitswesen. Wie zuvor schon in Tschechien und der Slowakei, drohen Ärzte in Krankenhäusern massenhaft mit
Kündigungen wegen miserabler Bezahlung und schlechter Arbeitsbedingungen. Da hat auch die kleine Prämie aus der Chipssteuer nicht weiterhelfen können. Regierungschef Orbán
hat den Justziminister, gleichzeitig zuständig für den öffentlichen Dienst, "mit der Ausarbeitung eines Plans beauftragt", wie "mit Ärzten umzugehen ist, die drohen, zu
Jahresende ihre Stellen zu verlassen." Dazu sollen "lokale Notstandskomitees" gebildet
werden, die notfalls Ärzte in unterversorgte Gebiete "umleiten" sollen. Derweil verhandeln Regierung und Ärztevertreter weiter, 2.500 Ärzte haben ihre Kündigung bereits
unterschrieben hinterlegt und werden diese bei Nichteinigung aktivieren. Sie sagen, dass die bisherigen Maßnahmen nur Flickschusterei waren, die den "langsamen Kollaps des
Gesundheitssystems nicht aufhalten" können.
2012 werden Verfahren gegen fünf Ex-Minister eingeleitet
Derweil geht die medienswirksame "Abrechnung mit den Vorgängern" weiter. Ein Richter aus Szeged wurde wegen Rechtsbeugung und persönlicher Vorteilsnahme vor Weihnachten
in U-Haft genommen und zuvor vom Staatspräsidenten seines Amtes enthoben. Ein Sonderkommissar der Regierung kündigte an, dass sich zwei ehemalige Minister im
kommenden Jahr für die gescheiterte Privatisierung der Fluglinie Malév zu verantworten haben werden. Die ehemaligen Finanzminister János Veres (unter Gyurcsány) sowie Péter
Oszkó (unter Bajnai) haben "dem Staat Schaden" zugefügt. An den Klagen gegen ihre Chefs wegen der hohen Staatsverschuldung arbeitet man noch, die Gesetzeslage ist dafür
(noch) nicht ausreichend, gegen Gyurcsány läuft vorerst nur das Verfahren wegen des Landtauschdeals rund um ein Kasino am Velence See. Die ehemaligen
Verteidigungsminister Ferenc Juhász und Imre Szekeres müssen mit einer Klage wegen des Unter-Wert-Verkaufs von ministeriumseigenen Wohnungen mit einem Schaden von
rund 2,5 Mio. EUR rechnen. Gyula Budai, der als Orbáns persönlicher Kommissar ohne judikative Vollmachten vor allem öffentlichkeitswirksam agiert, nannte insegesamt 35
"Top-Fälle", bei denen insgesamt gegen fünf Ex-Minister und 13 frühere Staatssekretäre ermittelt wird.
NGO widerspricht Polizei: schon über 400 Kältetote 2011 in Ungarn
Laut den Daten einer aktuellen Polizeistatistik sind seit Oktober in Ungarn bereits 196 Menschen erfroren, davon 40 allein vom 1. bis 15. Dezember. Die Zahl liegt über dem
Wert der gesamten vorjährigen Wintersaison. Waren es in den vergangenen Jahren vor allem Obdachlose, die der Kältetod ereilt, überwiegt nach Angabe der NGO "Ungarisches
Sozialforum" erstmals die Zahl alter und gebrechlicher Menschen, die in ihren ungeheizten Wohnungen erfroren sind. Die Organisation bezweifelt auch den Wahrheitsgehalt der
Polizeistatistik, die auch von ausländischen Medien unkritisch übernommen worden war. Diese würde nämlich nicht diejenigen Kälteopfer beinhalten, die noch in Krankenhäuser
gebracht wurden, aber dann dort an den Folgen der Unterkühlung verstarben. Demnach wäre an die 400 eine realistische Zahl. Die meisten Kältetoten wurden aus der Hauptstadt
sowie den Komitaten Szabolcs-Szatmár-Bereg und Hajdú-Bihar gemeldet, jeweils fast 40. Im Komitat Nógrád im Norden, das auch mit zu den ärmsten gehört, gab es keine
Meldungen, was auch Zweifel an der Erhebungsmethode aufkommen lässt.
Orbán benannte neue Ministerin
Staatspräsident Schmitt und Premier Orbán haben kurz vor Weihnachten die Vizechefin der staatlichen Ungarischen
Entwicklungsbank, Zsuzsanna Németh, zur neuen Chefin des Entwicklungsministeriums gemacht, dessen Aufgabe es vornehmlich ist, die EU-Milliarden zu vergeben. Der bisherige
Minister, Tamás Fellegi, hatte eigens für die IWF-Gespräche im Januar seinen Rücktritt eingereicht. Zunächst war durchgesickert, dass Vizepremier und Justizminister Navracsics
die Agenden von Tamás Fellegi im Entwicklungsministerium mit übernimmt, so lange dieser die IWF-Verhandlungen führt und ihm somit den Platz auf dem Ministersessel
warmhält. Es wird aber davon ausgegangen, dass Fellegi nach den Gesprächen auf seinen Posten zurückkehren kann. Németh gilt als treue Dienerin ihres Herrn, was die Opposition
entsprechend kommentierte. Auch bei der IWF-Verhandlungsdelegation verlangt die Opposition eine Umbesetzung, sie sähe lieber Orbáns Wirtschaftsberater Mihály Varga an
der Spitze der ungarischen Verhandler als Fellegi, dem sie keine ausreichende Kompetenz zugesteht.
red.
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