(c) Pester Lloyd / 05 - 2012
POLITIK 01.02.2012
Dokument der Schande
Der Kallai-Bericht belegt amtlichen Rassismus in Ungarn
Die menschliche Würde mit Füßen getreten, die Verantwortlichen handeln nicht oder aus rassistischen Motiven. Ziel ist die Vertreibung der Roma. So lautet das Urteil
des abgeschafften Ombudsmannes für Minderheitenrechte, Ernö Kallai, zu den Zuständen in der Gemeinde Gyöngyöspata. In seiner letzten Amtshandlung
dokumentierte er nicht nur die menschenverachtende Behandlung der Roma unter dem Bürgermeister der neofaschistischen Jobbik und entlarvt die sinnlosen
"Integrationsmaßnahmen" der Regierung, die als EU-weit vorbildhafte nationale Strategie verkauft werden, er zeigt auch, wie wichtig der Erhalt einer unabhängigen
Kontrollinstanz für die Rechte der Minderheiten gewesen wäre.
Frühjahr 2011. Neofaschistische Schlägertrupps umstellen die Romasiedlung und hindern
die Bewohner am Verlassen ihrer Häuser. Die Polizei schaut zu.
“Gyöngyöspata ist ein beängstigendes Beispiel für auf die Spitze getriebene „law and
order”-Politik. Wollen wir das wirklich als Vorbild?" So lautet der erste Satz des Kallai-Bericht. Aus dem Ort, der im letzten Jahr durch Neonazi-Aufmärsche “gegen
Zigeunerkriminalität” berühmt wurde, bei denen "Bürgerwehren" wochenlang das Gewaltmonopol des Staates brachen und die Romasiedlung zu einem abgesperrten Ghetto
machten. Zeitweise wurden Angehörige der Roma-Minderheit evakuiert, die Zustände spitzten sich bis an den Rand eines Bürgerkrieges zu. Die Regierung handelte erst gar
nicht, dann vor allem durch Beschönigungen und ein Anlassgesetz, das das Papier nicht wert ist, auf dem es gedruckt wurde. Die Mehrheitsbevölkerung wählte sich im Anschluss
einen Neofaschisten zum Bürgermeister, der Rädelsführer der Aufmärsche nahm sich alsbald das Leben.
In unserer Reportage: Das Musterdorf - Die Lösung des “Zigeunerproblems” in Ungarn - stellten wir Geschichte und Gegenwart der Zustände in Gyöngyöspata
dar und sprachen mit Betroffenen. Unter dem Text finden Sie auch zahlreiche weiterführende Links zu den Ereignissen sowie zu Hintergründen der Romaproblematik in Ungarn
Im Anschluss ”implementierte” man in Modellprojekten das neue, vom Innenministerium
koordinierte Beschäftigungsprogramm, das "Sozialhilfeempfänger in Arbeit" bringen soll. Wie wir in einer Vor-Ort-Reportage bereits zeigten, nutzt der Jobbik-Bürgermeister das
Modell, "um Ordnung zu schaffen" und lässt die Roma in bewachten Arbeitskolonnen sinnlose Tätigkeiten verrichten. Gleichzeitig errichtete er ein Regime aus Angst und
Strafe, zuletzt installierte er sogar eine bewaffnete Ortswacht. Immer mehr Einwohner verließen wegen der Repressalien den Ort. Doch die Regierung lässt ihr Programm immer
noch, auch von ihr hörigen Roma-Vertretern als Vorbild feiern. Viele Fakten waren schon bekannt, was aber keine Konsequenzen hatte. Daher kommen wir wieder auf
Gyöngyöspata zurück, immer und immer wieder, weil wir nicht akzeptieren werden, was mitten in der EU möglich ist:
Der parlamentarische Ombudsmann für Minderheiten, Dr. Ernö Kallai, Lehrer, Soziologe, Katholik, lange am Gandhi-Gymnasium in Pécs aktiv, führt am Beispiel
Gyöngyöspata, aber auch Érpatak und anderen Orten klar auf: es gibt eine verschärfte Segregation von Roma-Schulkindern, das öffentliche Beschäftigungsprogramm wird "gegen
die Menschenwürde" umgesetzt. Bewohner werden für kleinste Vergehen mit horrenden Geldstrafen belegt, ohne das Grundrecht auf rechtliches Gehör. Weitere Grundrechte
werden einfach igoriert, Ziel scheint die Vertreibung zu sein. Zusätzlich wurde die Arbeit des mit einem parlamentarischen Mandat ausgestatteten Ombudsmannes behindert, der
Bürgermeister von Gyöngyöspata ließ ihn mehrmals abweisen.
Kallai resümiert in seinem Bericht: "Es sieht so aus, dass die Situation in Gyöngyöspata
jetzt `unter Kontrolle` ist." - "Dafür sind Angst, Misstrauen, Denunziation, Rassentrennung und erhöhte Polizeipräsenz Teil des Alltags geworden." "Die Auswanderung
der Roma - aus Dorf und dem Land - setzt sich fort." Der arme Teil der Roma in Ungarn hat mehr als je zuvor das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, ein Zustand, der für eine
Demokratie inakzeptabel ist, so Kallai.
Besonders ausführlich geht er auf die
Umstände und Umsetzung des "öffentlichen Beschäftigungsprogrammes" ein, das erst in diesem Jahr so richtig landesweit anrollen
wird und wozu in Gyöngyöspata im Sommer fünf Modellprojekte stattfanden, wohl auch um den Leidensdruck der Betroffenen zu testen. Er weist nach, das es nicht, wie offiziell
beabsichtigt, ein Instrument zur Motivierung arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger ist, sich um geregelte Arbeit zu kümmern und dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen, sondern
dass es gezielt für rassistisch motivierte Schikanen eingesetzt wird, an deren Ende der vollständige Entzug der Existenzgrundlage stehen kann, mit dem durchaus gewünschten
Ziel der Vertreibung der ungarischen Roma aus den Wohnorten der Mehrheitsungarn.
Während die Roma des Ortes mit sinnlosen, aber anstrengenden körperlichen Tätigkeiten
beauftragt wurden, werden "magyarische" Sozialhilfeempfänger als deren Aufseher eingesetzt und auf diese Weise geschont. Kallai warnt vor den Konsequenzen, sollte das
Gesetz zukünftig mit all seinen Möglichkeiten angewendet werden, die auch die verpflichtende "Verschickung" an ferne Arbeitsorte, inkl. Übernachtung in
Behelfsunterkünften, beinhaltet. Damit wird, von der grundsätzlich menschenrechtlich geächteten Ungleichbehandlung, auch das Recht auf Familie verletzt. Weiterhin wurde für
die "Entlohnung" der "Zwangsarbeiter" eigens der Mindestlohn außer Kraft gesetzt, sie bekommen - nach einer großzügieren Regelung in der Modellphase" nur noch einen
Aufschlag von ca. 50 bis max. 80 EUR auf die Sozialhilfe sowie Fahrgeld.
Im Gesetz gibt es auch einen Passus, der die kommunalen Machthaber dazu ermächtigt,
Bezieher von Sozialhilfe "Anweisungen bezüglich ihres Lebensumfeldes" zu erteilen, d.h. den Garten und das Haus sauber zu halten, etc. Diese Regelung eröffne, so Kallai,
der Willkür Tür und Tor und lade entsprechend motivierte Menschen geradezu zum Missbrauch ein. Kallai bezieht sich auf eine Einschätzung des Eötvös Károly Institutes, das
zumindest diese Regelung als eine eindeutige Verletzung der menschlichen Würde sowie des Artikels 54 der neuen Verfassung darstellt.
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Kallai berichtet von "Inspektionen" des Bürgermeisters, der in Begleitung von bis zu sechs
"Amtspersonen" und zwei Polizisten ohne Voranmeldung bei Roma-Familien auftauchte, um "die Umsetzung der Anweisungen, das Wohnumfeld betreffend" zu kontrollieren. Innen
und außen wurden dabei Videoaufnahmen und Vermessungen gemacht, ohne die Bewohner über den Sinn der Maßnahme aufzuklären, geschweige denn ihr Einverständnis
einzuholen. Kallai identifizierte einige der "Amtspersonen" mittlerweile als Beteiligte an den Neonazi-Aufmärschen im Frühjahr.
In der hier beiliegenden Zusammenfassung (egl., pdf) listet der Bericht fünf der in
Gyöngyöspata abgehaltenen Modellprojekte auf, eines der abscheulichsten Details darin ist, dass sogar gesundheitlich angeschlagene Menschen, aus Angst, ihre Ansprüche auf Unterstützung
zu verlieren, darum "baten", die Arbeit fortsetzen zu können. Andere wurden mit einer dreijährigen Sperre belegt, weil sie zwischenzeitlich besser bezahlte,
wenn auch temporäre Jobs annahmen, also taten, wozu das Programm eigentlich gedacht war. Der Dorfnotar gebärdet sich wie ein Gutsverwalter aus dem Mittelalter.
Kallai berichtet weiter davon, dass nicht genügend Arbeitsgerät zur Verfügung stand und
die Arbeiter teilweise mit bloßen Händen tätig wurden. Zunächst mussten sie die 4 Kilometer lange Strecke zum Arbeitsort zweimal täglich laufen, erst später wurde ein Bus
gestellt, Pausen- oder Toilettenräume waren nicht vorgesehen, die Arbeitsschutzausrüstung war, nach einem Bericht des zuständigen Heveser Amtes, unzureichend, es gab nicht genug zu trinken.
Das ganze Gesetz, samt seiner Umsetzung sende eine "deutliche Message" an die Roma,
dass sie nichts wert seien und sich unterordnen müssten, so Kallai. Das ist Herrenrassen-Ideologie. Unter diesem Link finden sich weitere Details, u.a. zu den
übertriebenen Ordnungsstrafen und anderen Repressionen, zur erweiterten rassischen Trennung von Roma- und Nichtroma-Kindern in der Schule. Kallai gab eine Liste an
Empfehlungen an das Innenministerium und belegt in der Langfassung seines Berichts jeden einzelne Zustand mit Name und Adresse.
red.
Das ist die “nationale Romastrategie”?
Gyöngyöspata ist wieder ein Beispiel für die Unfähig- und Unwilligkeit der derzeit
Herrschenden vorhandene Probleme auf rechtsstaatlichem und humanem Wege zu lösen. Denn Angesichts der oben geschilderten Zustände und amtlich gebilligten
Missachtung von Grundrechten, hat es wenig Sinn über die in diesem wie in anderen Orten tatsächlich ungelösten sozialen Probleme und die Friktionen im "Zusammen"leben
auch nur zu sprechen.
Die Aufregung über die "Kampagne gegen Ungarn", die innere Feinde und westliche
Wohlstandlinke losgetreten hätten, die Aufrufe zur Mäßigung von seiten der konservativen europäischen Kameraden der Regierungspartei Fidesz, das Gerede von ein
"paar technischen" Streitfragen mit der EU, aber auch die Konzentration der internationalen Kritik auf Nationalbank und Richteralter, all das erscheint in einem
gänzlich anderen Licht angesichts der vorliegenden Fakten, die belegen, dass diese Regierung amtlichen Rassismus zumindest billigend in Kauf nimmt und dabei auch auf
die Hilfsdienste von "demokratisch gewählten" Neofaschisten zurückgreift, um die Roma
"unter Kontrolle" zu halten. Das ist die "nationale Romastrategie" in Ungarn, ausgeschmückt mit ein paar Stipendien und einer Quotenzigeunerin im EU-Parlament,
die für ihre Karriere alles kritiklos nachplappert, was ihr die Regierung vorgibt. (Hier
dazu ein, im Lichte der obigen Fakten, besonders eindrucksvolles Zeugnis von Realitätsverleugngung: Anmerkungen zur Debatte über Ungarn Eine von einer Fidesz-Installation dominierte
“Landesselbstverwaltung”, die ihrem Namen absolut gerecht wird, da sie sich nur selbst verwaltet, lässt Roma zur Anti-EU-Kundgebung der Regierung aufmarschieren. Beide
erweisen ihrem Volk einen Bärendienst.
Der Kallai-Bericht wird einmal als Dokument bekannt sein, das den Anfang vom Ende
der Demokratie in Ungarn dokumentierte, wenn man gegen diese Zustände nichts unternimmt. Bisher wird - EU-seitig - dagegen nichts unternommen. Noch ist es nicht
zu spät, aber es ist schon sehr spät. Das Mandat des parlamentarischen Ombudsmannes Kallai wurde in ein "neues System" überführt und sein Job endete per 1. Januar 2012,
als die neue Verfassung mit den Worten in Kraft trat: Gott schütze die Ungarn. Nach landläufiger Meinung gehören Roma nicht dazu...
ms.
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