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(c) Pester Lloyd / 08 - 2012      WIRTSCHAFT 22.02.2012

 

Aus Plus wird Minus

Die Einkommensschere in Ungarn wächst dramatisch und ist gewollt

Ein Lohnzuwachs von durchschnittlich 10% binnen eines Jahres? Klingt nicht schlecht, hat aber gleich mehrere Haken. Die wilde Welt ungarischer Steuergesetzgebung verwischt die Statistiken, verbirgt aber kaum die Abgründe. Fast die Hälfte der Gehaltsempfänger musste 2011 reale Verluste hinnehmen, nur eine dünne Oberschicht darf sich freuen und die Manövrierfähigkeit des Staates bleibt so gering wie zuvor.

In der Privatwirtschaft legten die Bruttogehälter in Ungarn im Dezember 2011 im Vergleich zum Dezember 2010 um zunächst erstaunliche 9,5% zu, im öffentlichen Dienst sogar um 10,7%, macht im Schnitt ein Plus von 10.1% . Allerdings haben die Arbeitgeber die sonst im Dezember üblichen Jahresendprämien, Boni und Weihnachtsgelder erst im Januar 2011 gebucht, um ihre Angestellten in den Genuss der deutlich geringeren Besteuerung durch die 16%ige flat tax zu bringen. Das senkte die Basiswerte im Dezember 2010 derart ab, dass man nun mit zweistelligen Wachstumsraten dasteht. Rechnet man den Bonuseffekt heraus, sieht die Sache schon anders aus. Danach wuchsen die Bruttogehälter der Privatwirtschaft noch um 4,8% sowie 1,9% im öffentlichen Dienst, abzüglich der Teilnehmer an den umstrittenen Beschäftigungsprogrammen.

Nettolohnentwicklung in Ungarn. Eindeutig der überproportionale Ausschlag 2011 in der Privatwirtschaft. Doch er kam nur einem kleinen Teil zu Gute. Grafik: MTI, Quelle: KSH

Nun sagen Bruttolöhne wirklich wenig über die Entwicklung der Einkommen aus, wem hilft schon die Information weiter, dass das Durschschnittseinkommen in Ungarn im Dezember 2011 231.826 Forint brutto (810.- EUR) betrugen, (240.000 Privatwirtschaft, 212.000 öffentlicher Dienst), das Durchschnittsnetto 152.303 Forint (ca. 530.- EUR) und damit 11,4% über dem Wert des Vorjahres lag. (158.000 Privatwirtschaft, 140.000 öffentlicher Dienst). Aufs Gesamtjahr waren es 134.323 in den Betrieben und Institutionen der Staatswirtschaft, 144.447 bei den Privaten.

Zieht man davon die offizielle Teuerungsrate von 4,4% ab, landet man bei einem Reallohnzuwachs von atemberaubenden 7% von Dezember zu Dezember. Rechnet man auch hier wieder den Bonuseffekt heraus, kommt man noch immer auf 2,4% reales Lohnplus . Doch wie kann ein Durchschnitt real sein? Leider verheimlicht uns das KSH die Zuwächse oder Einbußen in den einzelnden Einkommensgruppen. Aber zwischen den Zeilen ergibt sich ein realistischeres Bild.

Rund 45% der im öffentlich Dienst Beschäftigten hatten 2011 Anspruch auf staatliche Lohnkompensation, die nur aus dem einzigen Grund gezahlt wird, damit die Angestellten nicht auch nominal mit weniger Geld nach Hause gehen als 2010, in der Ära vor der flat tax. 5.200 Forint (ca. 18,70 EUR) zahlte Vater Staat pro Monat jedem dieser öffentlich Bediensteten aus. Wer 2011 in der Privatwirtschaft zu den unteren, kompensastionsbedürftigen Einkommensschichten gehörte, man schätzt rund 35%, verlor Geld, wenn sein Chef kein Einsehen hatte. Staatsbeihilfen für lohnsteigerungswillige Unternehmer gibt es erst ab diesem Jahr, in einem System, das dem Namen Dschungel alle Ehre macht.

17,6 Mrd. Forint (rund 60 Mio. EUR) kostete den Staat diese zusätzliche Umverteilung von Unten nach Oben im öffentlichen Dienst, die Gesamtausfälle für den Haushalt aus der abgesenkten Einkommenssteuer beliefen sich auf rund 500 Mrd. HUF (1,75 Mrd. EUR bzw. 1,8% des BIP), Geld, das zusätzlich bei den Besserverdienern verblieb, weder der Konsum, noch die Investitionen stiegen dadurch an. Das nennt man Eigentor. Die Einkommensschere zwischen den obersten und untersten Einkommensschichten stieg 2011 übrigens um 37% an. Eine "Übergangsabgabe" für Besserverdiener, die aus der flat tax wieder ein mehrstufiges Steuersystem macht, soll die Ausfälle für den Staat begrenzen.

Es ist also festzuhalten, dass rund die Hälfte aller Gehaltsbezieher überhaupt keine Reallohnsteigerung hatte, ja sogar nur nominal den gleichen Lohn erhalten hat wie vor 12 Monaten, d.h., Empfänger von 66.000 Forint gesetzlichem Mindestnetto (230.- EUR, wohlgemerkt für einen Vollzeitjob) schlucken die 4,5% Inflation zur Gänze, ebenso belasten weitere Verbrauchssteuern, die deutlich höhere Teuerung bei Grundnahrungsmitteln und 2 Prozentpunkte höhere Mehrwertsteuer.

2012 wurde der Mindestlohn um ca. 18% angehoben und die Berechnungsgrundlage für die Arbeitgeberanteile an den Sozialbgabgen auf 150% des Mindestlohnes angehoben. Diese glorreiche Idee hat nun flächendeckend zur Folge, dass die Arbeitgeber ihre auf Mindestlohn (+Rest schwarz) Angestellten auf Teilzeit-Mindestlohn setzen, um Kosten zu sparen. Die Inflationsrate im Januar 2012 kletterte auf über 5%, Dank der Mehrwertsteuererhöhung. Eine Summe, die rund 40% des BIP entspricht wird in Ungarn jährlich schwarz erwirtschaftet. Ein Betrag, der dem Staat jegliche Manövrierfähigkeit nimmt. Allerdings haben die Gesetze der Orbán-Regierung nicht bewirken können, einen Anreiz für Ehrlichkeit zu schaffen, eher im Gegenteil.

Aus den Statistiken wird auch nicht ersichtlich, wieviel Geld die Zehntausenden Frührentner einbüßen, deren Status per Gesetz zum Sozialeinkommensempfänger umdeklariert, ihre Frührente somit ab 2012 versteuert wird. Auch hier trifft es nicht die Reichsten, die reale Einkommensverluste hinnehmen und sich noch für das Arbeitsamt für Jobs bereithalten müssen, die es eigentlich gar nicht gibt. Ihr "Sozialeinkommen" wird zwar 2012 mit in die Statsitik einfließen, allerdings wird diese Gruppe nicht gesondert erfasst, zumindest nicht in den öffentlich bereitgestellten Zahlenwerken.

Viel besser geht es indes ab diesem Jahr den Sozialhilfeempfängern, insoweit sie das "Glück" haben, in eines der kommunal durchgeführten und zentral geplanten Beschäftigungsprogramme aufgenommen zu werden. Arbeitslosengeld wird nur noch drei Monate gezahlt. Die Sozialhilfe von durchschnittlich 22.800 Forint (EUR: 80.-) wird dann auf "bis zu" 47.000 Forint (160.- EUR) hochgeschraubt. Dafür muss man, hat man Pech, 40 Stunden in der Woche den Wald fegen. Hat man Glück, darf man andere dabei beaufsichtigen. Hat man ganz großes Pech wird man auch noch quer durchs Land geschickt, gesetzlich ist sogar die Unterkunft in Behelfsquartieren, sprich Containern "zumutbar". Mehr zur Realität und der eigentlichen Funktion dieser "Beschäftigungsprogramme" in diesem Beitrag.

Aber warum 47.000 Forint, wenn der gesetzliche Mindestlohn bei netto 66.000 Forint liegt? Die Regierung hat den gesetzlichen Mindestlohn eigens für diese "Sozialmaßnahme" abgesenkt, Nationalwirtschaftsminister Matolcsy beteuerte aber, dass man "davon im heutigen Ungarn sehr gut leben kann.", was jegliche Bedenken ausräumen sollte. Die "Löhne" dieser Beschäftigten tauchen übrigens nicht einmal in der Statistik des öffentlichen Dienstes auf, dort heißt es jedesmal, als schriebe man über Aussatz, "außer Personen in Beschäftigungsprogrammen".

Die Zahl der Menschen in Arbeit sank in der Privatwirtschaft binnen 12 Monaten um 1,2% (von Dez. 2010 auf 2011), eigentlich sollte es aber rund 100.000 mehr Jobs geben, so das "Versprechen" der Regierung, von dem man plötzlich nichts mehr hört oder höchstens, dass “die Eurozone” Schuld hat.

In Unternehmen mit mindestens fünf Angestellten arbeiteten im Dezember 2.66 Mio. Menschen. Der Rückgang im öffentlichen Dienst betrug 4,2% auf 725.800. Das Gesamtjahr 2011 registrierte ein Plus von 1,3% in der Privatwirtschaft, ein Minus im öffentlichen Dienst von fast 5%. Die Zahl der Vollzeitjobs ist insgesamt um 2,3% gesunken, Teilzeitarbeiter gibt es um 8% mehr (Dez-Dez). 26.400 Personen waren im Dezember in Teilzeit-Beschäftigungsprogrammen (85%), 60.900 in Ganztagsbeschäftigungsprogrammen (-16%). Das neue kommunale Beschäftigungsprogramm läuft erst 2012 voll an. Die Devise lautet, "wer arbeiten kann, soll auch der Arbeit zugeführt werden."

Die Besserverdiener können sich bei der Orbán-Regierung bedanken, tun es aber meist nicht, sie bringen ihr Geld lieber ins Ausland, im Schnitt hatten sie davon 2011 15% mehr als 2010. Es gibt - zumindest einkommenstechnisch - eine Mittelschicht, die sich 2011 über ein Plus von 3-6% freuen durfte, das in diesem Jahr jedoch geringer ausfallen wird. Sie soll das "Rückgrat" des neuen Ungarns bilden, der materielle Wohlstand und die Forex-Entschuldung sollte motivieren, der mögliche Abstieg in die Gruppe der Verdammten wird jedoch noch stimulierender wirken.

Bereits mehr als Hälfte der Bevölkerung lebt am Rande der Armut, für sie bedeutet das statistische Plus ein reales Minus. Der größte Teil sind fleißig arbeitende Menschen, die einfach schlecht bezahlt werden und das Dank "flat tax" und hoher Lohnnebenkosten auch bleiben. Die Frührentner, die mit 100 bis 250 EUR im Monat auskommen müssen und dafür zu Schmarotzern deklariert wurden, weil das System unfinanzierbar ist, gehören auch dazu. Weiterhin Arbeitslose und junge Akademiker, die einfach keine adäquaten Jobs finden, wobei letztere in Zukunft nicht einmal mehr das Land verlassen dürfen, ohne sich zuvor vollständig zu ruinieren, bis hin zu jenen, die nie arbeiten lernten und nun in perspektivlose, aber beaufsichtigte staatliche Leibeigenschaft gebracht werden, unter Androhung eines dreijährigen totalen Mittelentzugs.

 

Rund 2,7 Mio. Menschen, 27% der Bevölkerung, leben bereits unterhalb der international anerkannten statistischen Armutsgrenze, doch diese Regierung spricht weiter von einem "proportionalen, fairen und leistungsgerechten" Besteuerungssystem, das dabei helfen soll, Ungarn auf "die eigenen Beine" zu stellen.

Zusammengefasst lässt sich jedoch festhalten, dass die soziale und ökonomische Spaltung des Landes vorangetrieben wurde, die maßgeblichen Gesetze weisen daraufhin, das nicht einmal der Versuch der Entwicklung einer sozialen Marktwirtschaft unternommen werden soll. Nicht aus Mangel an Möglichkeiten, sondern aus politischem Willen. Orbáns Ständestaat nimmt klassische und brutale Gestalt an. Wie solche Konstrukte klassischerweise auseinanderfallen, nämlich ebenso brutal, sollte bekannt sein.

cs. / red.

 

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