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(c) Pester Lloyd / 16 - 2012     WIRTSCHAFT   16.04.2012

 

Strauchelnder Vorreiter

Ungarn führt Finanztransaktionssteuer auf eigene Faust ein

Ministerpräsident Orbán hat Pläne bestätigt, wonach Ungarn ab 2013 auf eigene Faust eine Finanztransaktionssteuer von 0,1% einführen wird. Auch ein fünfstufiges Mehrwertsteuersystem befürwortet der ungarische Regierungschef und stellt Ungarn wieder einmal als "Vorreiter" einer "neuen europäischen Wirtschaftsordnung" hin. In Wirklichkeit gehen dem Premier langsam die Ideen aus, wie man den Haushalt über Wasser halten kann, ohne Unternehmen und Bürger auf die Barrikaden zu bringen.

Orbán ließ es sich bei seiner freitäglichen Radioansprache im staatseigenen Sender Kossuth Rádió, die man in Budapest schon als "Freitagsgebet" verspottet, trotz der offensichtlich hausinternen Motivation für den Vorstoß nicht nehmen, wieder einmal Ungarns vermeintliche Vorreiterrolle bei der "Erneuerung" des angeblich "nicht mehr funktionierenden, europäischen Wirtschaftsmodells" zu betonen. Orbán will "möglichst viel (legale) Arbeit schaffen", was nur gelingen kann, "wenn die Steuern auf ein Minimum gesenkt werden." - "Trotzdem braucht der Staat Einnahmen, daher konzentriere man sich auf getätigte Umsätze, wozu die Transaktionssteuer geeignet" sei.

Der Premier versuchte Ängste bei Unternehmen und Bevölkerung über noch eine neue Steuer zu zerstreuen. "Die Steuer wird weder den Menschen noch den Unternehmen Kopfschmerzen bereiten, da sie höchstens 0,1% betragen soll." Diese Steuerrate soll dann auf alle Finanzgeschäfte, vom automatisierten Wertpapierhandel bis hin zum Geldverkehr zwischen Unternehmen oder auch beim einfachen Einkauf von Waren erhoben werden. Aus "sozialen Erwägungen" heraus, wolle man die Abhebung an Geldautomaten durch Privatpersonen, den Transfer der Gehälter aufs Bankonto sowie die in Ungarn üblichen Bareinzahlungen für Wohnnebenkosten von der Steuer befreien.

Der Grundgedanke der "Tobinsteuer" ist freilich, das jeder seine Finanztransaktionen mit einer Abgabe bezahlt, dafür aber andere Steuern zu senken sind, was in Ungarn nicht der Falle wäre. Diejenigen, die unnötig viel Geld verschieben, sollen einen höheren Anteil am gesellschaftlichen Steueraufkommen bezahlen, wobei der von Ungarn gewählte Steuersatz sogar schon im oberen Bereich der als sinnvoll erachteten Größenordnung angesiedelt ist.

Erwägte man in der ungarischen Regierung wirklich die sozialen Aspekte, hätte freilich die gesamte Steuer- Arbeits- und Sozialpolitik der letzten zwei Jahre anders aussehen müssen, zumal eine vollständige Finanztransaktionssteuer für Private letztlich wie eine zusätzliche Einkommenssteuer, für Unternehmen wie eine erweiterete Mehrwertsteuer wirkt. Finanzmarktakteure haben die freie Wahl zu gehen oder einfach die IP-Adressen ihrer Derivate-Server zu ändern.

Europaweit gibt es Überlegungen und auch überwiegend den Willen eine solche Steuer einzuführen, gleichzeitig sind sich die Big Player in der Gemeinschaft (natürlich bis auf Großbritannien) darin einig, dass nur eine abgestimmte Einführung den steuernden Effekt auf Spekulationsgeschäfte erbringt und entsprechende Mehreinnahmen generiert, die die Realwirtschaft und die Bürger weniger belasten sollen als die weitgefächerte Zockerbranche.

Der ungarische Vorstoß hat daher auch weniger mit fiskalpolitischem Ethos oder einer zukunfsträchtigen Eingebung zu tun, sondern dient in erster Linie der Erschließung einer weiteren Steuerquelle, um dauerhaft höhere Einnahmen für den Staatshaushalt zu erzielen, da sich die Verluste aus der voreiligen, unsozialen und dilettantisch eingeführten Flat tax länger etablieren als das von den Planern vorgesehen war. Zudem laufen ab kommendem Jahr sowohl die Banken- wie auch die Branchensondersteuern allmählich aus, weshalb man nach einem "neuen System" sucht, die Ausfälle zu kompensieren.

Die selektive Besteuerung von Branchen, die vor allem die "Multis" schröpfen, kam zwar bei der Anhängerschaft politisch gut an, war gesamtökonomisch aber eher kontraproduktiv, zumal die Konzerne auch in Brüssel über eine starke Lobby verfügen, weshalb es für Budapest in der festgefahrenen Verhandlungsphase über Defizit- und Vertragsverletzungsverfahren unklug wäre, weitere Mitspieler zu verärgern.

In dem Radiointerview räumte Orbán auch ein, dass er sehe, dass "nicht alle" mit der Flat tax "zufrieden" sind, was stark untertrieben ist, was nicht nur durch die um 37% auseinandergeschnällte Einkommensschere und den realen Einkommensverlust für die unteren Gehaltsgruppen, sondern vor allem auch durch die hahnebüchenen Reparaturversuche bedingt wurde. Er sehe jedoch auch kein System, das "alle glücklich" mache und glaubt, weiter, dass das System das fairste, weil "proportionalste" sei - eine alte Neoliberalenlegende, die das Wort "Proportionalität" bis heute nicht verstanden haben. Auch die "Idee" von Wirtschaftsminister Matolcsy, fünf verschiedene Mehrwertsteuersätze (bis hin zu 30%) einzuführen, hält Orbán für sinnvoll, so könne man Luxuskonsum wie "Juwelen und teure Autos" etc. höher besteuern, "Kinderbetreuung, Grundnahrungsmittel" usw. jedoch mit niedrigeren Sätzen belegen.

 

Dass die Reichen sich ihre "Juwelen" möglicherweise dann vermehrt in Wien oder München abholen, dazu kam von Orbán nichts Brauchbares. Fachleute lehnen diese "Idee" ohnehin als bürokratisches Monster, das geradezu zum Missbrauch einlade, ab, die EU findet es auch nicht gut. Ungarn hält mit einem Regelsatz von 27% den aktuellen Europarekord, bei dessen Einführung man sich übrigens auch wenig Gedanken um die Ärmsten machte, die genau eine solche Steuer "überproportional" höher trifft als die Besserverdiener.

Über die "soziale Komponente" der Fidesz-Wirtschaftspolitik finden Sie u.a. hier einen aufschlussreichen Beitrag. Der Frage, ob die Regierung dem Volk möglicherweise Anleihen aufnötigen könnte, um an Geld zu kommen, gehen wir in diesem Beitrag nach. Weitere Hintergründe zur Wirtschafts- und Steuerpolitik.

cs.sz.

 

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