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(c) Pester Lloyd / 41 - 2012   POLITIK 12.10.2012

 

Unter Freunden

Treffen Orbán-Merkel: der Demokratie- und Europaverächter hat sich etabliert

Orbáns Selbstdarstellung und Merkels Gemeinplätze übertönten die leisen, der Pflicht geschuldeten Mahnungen der Kanzlerin. Aus demokratischer Sicht blieb das Treffen ergebnis- und damit sinnlos, denn die heiklen Punkte und die grundsätzlichen Verwerfungen in Ungarn waren kein Thema. Am Rande der Termine in Berlin gab es kleinere Proteste von jungen Leuten und Oppositionspolitikern, im Vorfeld wurden Petitionen verbreitet.

Gemeinplätze statt Klartext

"Offenes Gespräch unter Freunden" schreibt das Kanzleramt. Die CDU-Chefin und Bundeskanzlerin lobte Orbán dafür, dass er die "entstandenen Zweifel" der EU an Teilen der Gesetzgebung in Ungarn durch Handlungen ausgeräumt hätte. Es sei wichtig, dass die ungarische Regierung den Empfehlungen der Kommission folgt. Konkretes erfuhr man nicht, zumal wichtige Kritikpunkte nach wie vor anhängig sind: die Zwangspensionierung von Richtern, die nach der Kassierung durch das Verfassungsgericht in Ungarn durch einen "Kompromiss" gesetzeskonform gemacht wurde, ohne die Substanz zu ändern, liegt per Eilverfahren vor dem EuGh in Luxemburg, das neue Kirchenrecht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Zweifel an der Unabhängigkeit der Zentralbank sind, zunächst legislativ ausgeräumt, durch neuerliche Aktionen (gegen den Willen des Zentralbanchefs durchgesetzte Leitzinssenkungen) wieder befeuert worden und bleiben Thema bei den IWF-Verhandlungen.

Toll: Demokratie "funktioniert" in Ungarn auch ohne Opposition und Bürger

Etliche weitere Gesetze der CDU-Schwesterpartei, die Bürgerrechte einschränken, demokratische Kontrollmechanismen aushebeln, vor allem aber all jene Maßnahmen, die die soziale Unausgewogenheit vertiefen, waren offenbar kein Thema mehr und werden es solange nicht sein, solange sie deutsche Interessen und europäische Regelwerke nicht direkt berühren, das machten die lauwarmen Statements aus dem Kanzleramt deutlich. Im Inland werden für die Regierung negative Verfassungserichtsurteile einfach durch die Aufnahme des kassierten Gesetzes in die Verfassung ausgehebelt, was Dank der 2/3-Mehrheit kein Problem darstellt. So einfach ist Demokratie. Sie "funktioniert" in Ungarn auch ohne Opposition, sogar ohne Bürger. Das findet Merkel offenbar akzeptabel.

Zur Vertiefung der hier erwähnten Themen empfehlen wir die Ressorts in der obigen Navigation oder hier unsere Volltextsuche.

 

Die meisten Gesetze schaffen es, aufgrund der neuen Verfassung in die sie geschrieben wurden, ohnehin nicht mehr bis vor die obersten Wächter. Die vollständige Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen Medien ist Fakt, die Kastration des Verfassungsgerichtes längst gegessen, Kurie und Oberste Richterkammer werkeln ungestört im Parteiinteresse, das untertänige Arbeitsrecht ist in Kraft, die Studienplätze werden reduziert, Studenten zum Bleiben im Land gezwungen, die Wählerregistrierung ist Teil der Verfassung. Orbán kann eigentlich tun und lassen, was er will. Er kann sogar sagen, dass Brüssel das neue Moskau ist. Das ist zwar nicht schön, aber er bleibt doch Merkels "Freund"...

Solange deutsche Interessen oder EU-Regularien nicht betroffen sind...

Selbst die
offene Anti-EU-Stimmung, die in Ungarn geschürt wird, zuletzt die hirnlosen Anti-IWF-Anzeigen, die Widerstand gegen etwas formulierten, das der IWF gar nicht gefordert hatte, wurden offiziell nicht thematisiert. Es ist davon auszugehen, dass wirtschaftliche Interessen Deutschlands, z.B. der von Ungarn gewünschte E.ON-Rückkauf, Verstaatlichungen im kommunalen Sektor sowie bessere und vorhersagbare Investitionsbedingungen sowie die Abstimmung über das taktische Auftreten in den europäischen Gremien die eigentlichen Hauptthemen gewesen sind. Merkel bezeichnete die "sehr offenen Gespräche" mit ihrem Amtskollegen als "nützlich für ein tieferes Verständnis", welche Motive zu den Orbánschen Schachzügen in der Wirtschaft oder dem Wahlrecht geführt haben, ohne die Öffentlichkeit weiter in ihre Erkenntnisse einzuweihen.

Orbán besuchte neben den Gesprächen mit der Kanzlerin das Axel Springer-Haus und sprach bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, wo ohnehin keine substantielle Kritik zu erwarten war. Die der CDU-nahestehende Stiftung hat in Budapest nur eine Aufgabe: sich im vermeintlichen historischen Sieg von 1989/90 zu suhlen und das wohl erworbene Feindbild des Kalten Krieges so lange es geht am Leben zu erhalten. Neulich importierte die Stiftung die unsägliche ungarische Diskussions"kultur" bis nach Leipzig und diskreditierte durch eine bewußt gesetzte Parallelveranstaltung die Leistung der Demokratiebewegung von 89//90.

Proteste und Relativierungen

Dass Orbáns Ungarn längst auf den Spuren der Kádár-Zeit ist (Planwirtschaft, Dirigismus, Autokratie, Realitätsverweigerung.
Hier sein nur ein einschlägiger Beitrag dazu verlinkt.) blenden die Orbán-Jünger aus. Die einschlägigen Fanblogs oder Leserkommentare, mal abgesehen von den vielen ganz wirren Verschwörungstheoretikern, argumentieren dabei wie früher die FDJler in ihren Politdiskussionen, wo man zwar manchmal eingestand, dass nicht alles super ist, die Richtung aber stimmt und alles, was nicht ins Bild passte, einfach ausblendete. "Konstruktive Kritik" nannte man diese selektive Realitätsverweigerung. Wohin diese Weltsicht führte, ist bekannt.

Einige Dutzend Protestierende in Berlin riefen Orbán "Diktator"-Schmähungen zu, andere protestierten mit Transparenten und bedruckten T-Shirts. Grüne und andere Oppositionspolitiker artikulierten ihre Sorgen differenzierter, auch in Petitionen wurde versucht, die komplexen Dimensionen des gesellschaftlichen Umbaus und der Entfremdung von europäischen Werten in Ungarn gerecht zu werden. Vor allem die
Äußerungen von György Dalos sind des Lesens wert. (die auf heute bezogenen Punkte finden sie im letzten Viertel der Rede.)

Die deutsche Presse hat, anlassbezogen, versucht, die Kritikpunkte an der ungarischen Regierung aufzugreifen, wobei vor allem die
aktuelle Blut-und-Boden-Rede Aufhänger vieler Beiträge in den Medien war, deren heftigste Passagen aber nicht durch das Raster der Agenturen kamen. Wie stets blieb die Kritik meist schlagwortartig und unkonkret, in jedem Falle sehr unvollständig, teils aus Unwissen, teils aus Kalkül. Die Linke und auch die sog. “liberale” Presse pauschaliert zu gern und tönt schnell von Diktatur, dabei ist Ungarn nur die personell beschleunigte Weiterentwicklung dessen, was in allen EU-Ländern stattfindet, eine komplexere Auseiandersetzung damit scheint aber nicht ins Mediengeschäft zu passen.

Der nationalistische Ständestaat gefällt vielen Konservativen

 

Die in Fragen politischer Raison erzkonservative Frankfurter Allgemeine, deren Ungarn-Berichterstattung von einem verknöcherten Kalten Krieger gesteuert wird, stellt zwar international bekannte Kritikpunkte dar, kümmert sich jedoch weder um den tiefergehenden, strukturellen Demokratieabbau und die sichtbar autokratischen Tendenzen, noch um die Auswirkungen der katastrophalen Wirtschaftspolitik auf die Mehrheit des Volkes. Ein Springerblatt druckt sogar den Satz, dass es in der Wirtschaft in letzter Zeit besser liefe. Dem ist nicht so. Im Gegenteil. Man kann ja Orbáns Rolle unterschiedlich bewerten, in ihn auch hinweinwünschen, was immer man will, doch die Fakten zur Ökonomie und zur sozialen Lage sprechen eine glasklare Sprache, die nur Mutwillige oder Faule überhören können.

Der ständische Umbau und die damit einhergehende weitere Verarmung der Mehrheit der Bürger des Landes wird von allen Orbán-Sympathisanten ausgeblendet, dieser der Ständestaat (im Neusprech: Wettbewerbsfähigkeit) ist ja gewollt und in weiten Teilen auch in anderen Ländern der EU ein Fakt. Das nationalistische Kalkül, die Schaukelpolitik gegenüber der extremen Rechten und die Law-and-Order Politik gegen die Roma sowie alle anderen entlarvenden Problemkreise aus Ungarn werden mit Gemeinplätzen abgebügelt oder mit dem guten Willen entschuldigt, notfalls muss das Versagen der Vorgänger herhalten.

Einem Romavertreter wird ein Orden verliehen - am gleichen Tag ein Kulturzentrum geschlossen

Die ungarische Regierung behauptet, um ein Beispiel zu nennen, es gäbe im Lande "keine Diskriminierung" und auch keine "Zwangsarbeit" bei den Roma. Das Gegenteil ist der Fall, wie vielfach bewiesen, dennoch lügt sich der zuständige Minister Balog mit seiner angeblich so erfolgreichen "Romastrategie" quer durch Europa und schiebt dabei ein paar aus der Roma-Minderheit stammende Parteikarrieristen vor sich als Alibi her. Für diese Lügen erntet er faktenbefreites Lob, der Umstand, dass er mal Pfarrer war, scheint als Ausweis seiner Redlichkeit zu genügen. Nun, auch der Teufel war einst ein Engel, Lucifer genannt.

Balog ahmt im Grunde nichts weiter als die Indianer-Politik der amerkainischen Regierung im 19. Jahrhundert nach, nur dass die Reservate in Ungarn Ghettos heißen. Sogar ungarische Gerichte beschäftigen sich immer häufiger mit Segregation an ungarischen Schulen und der
amtlich geduldete Rassismus bei den kommunalen Beschäftigungsprogrammen ist dokumentiert und - aus machiavellistischer Sicht - auch nachvollziehbar. Er löst zwar die Probleme nicht, verhindert aber weiteren Stimmenverlust an die gefährlich erstarkten Neofaschisten von Jobbik.

Dem Vorsitzenden des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland hat Orbán gestern einen Orden umgehängt und es am gleichen Tag zugelassen, dass seine Fidesz-Partei im VIII. Bezirks
das letzte regierungsunabhängige Roma-Kulturzentrum in Budapest zusperrt. Das ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Was Romani Rose geritten hat, sich für diese Orbán-Show herzugeben? Die Erklärung, er wolle Ungarn nicht isoliert am Pranger sehen, bei aller Kritik, ist zu dürftig. Die Ordensannahme legitimiert die fehlgeleitete Politik. Ob man will oder nicht. Wo ist die Schmerzgrenze erreicht? In Ungarn längst.

Orbán droht offen mit Errichtung einer Autokratie

Im Handelsblatt sagte Orbán am Tag vor seinem Besuch in Deutschland: „Unsere heutigen demokratischen Systeme haben eine eingebaute Führungsschwäche. Ein Präsidialsystem ist wahrscheinlich geeigneter als ein parlamentarisches System, wenn es darum geht, schwierige Reformen durchzusetzen“. Dieser für einen Demokraten als Wunsch eines durchsetzungswilligen Politikers gerade noch akzeptable Äußerung, ist im Falle Orbáns, der sich mehrmals offen als Demokratieverächter gezeigt hatte und dessen Mehrheit jede ernsthafte Kommunikation mit den von ihren Gesetzen Betroffenen ablehnt sowie im Lichte der ungarischen "Ostöffnung" als offene Drohung zu verstehen.

Orbán meint nämlich kein Präsidialsystem nach französischem, eher schon eines nach
aserbadshanischem Muster und sein Land ist soweit von den dortigen Möglichkeiten nicht mehr entfernt. Die Frage ist, ob das konservative Lager diese Unterschiede einfach nicht sieht oder ob sie nicht sogar fasziniert dabei zuschaut, wie man mit den primären Mitteln der Demokratie, selbige abbauen kann. Orbán sagte an anderer Stelle, dass Zeiten kommen können, in denen "andere Systeme als die Demokratie notwendig werden, um die wirtschaftlichen Probleme zu lösen."

Ja sogar Darwinsche Behauptungskriege "starker gegen schwache Nationen" in Europa hat Orbán auf dem vernebelten Schirm. Auch eine Äußerung, die Teil seiner Turul-Rede war, die in Deutschland nur sehr verkürzt dargestellt wurde. Die Orbán unterstützen oder verteidigen, kümmern sich nicht um die Dinge selbst, sondern nur um ihre Wirkung und Darstellung nach außen. Autokratie geht in Ordnung, nur sie darf keine allzu großen Wellen schlagen, bitte.

Orbán als Held der Enttäuschten und Verängstigten

Der in seiner Blut-und-Boden-Rede ebenfalls gebrachte Spruch von der Einheit der Nation, die über die Grenzen Trianons hinausgeht, der es auch in die westlichen Medien schaffte, führte zu einem Dementi seitens des Außenamtes, gemeint sei nur die Kulturnation, natürlich werden die Grenzen nicht in Frage gestellt. Ein Fidesz-Politiker tat dies jedoch bereits und meinte, dass man ca. 2020, wenn Ungarn wirtschaftlich topfit ist, dieses Thema angehen wird. Außenminister Martonyi fühlte sich gestern genötigt, in einer Aussendung festzustellen, dass die Demokratie in Ungarn "nicht auf dem Spiel steht". Warum muss er dieses für ein EU-Land als Selbstverständlichkeit anzunehmende Bekenntnis öffentlich ablegen? - Weil die Realität in Ungarn dies nicht mehr ausreichend zeigt?!

 

Der Applaus, den Orbán vielfach erhält (vor allem wegen seiner Anti-EU-Attitüde, aber auch wegen seiner "Führungsqualitäten"), zeigt, wie weit die Demokraten Europas die Demokratie bereits verkommen ließen. Solche Orbáns stehen überall dort vor der Tür, wo sich enttäuschte und verängstigte Menschen die Lösung ihrer Probleme aus der Hand nehmen ließen und lassen und glauben, dass geführt werden sicherer und unbeschwerlicher sei als selbst zu gehen. Bei letzterem kann man stolpern, aber wieder aufstehen, bei ersterem nur hoffen, dass man nicht mit in einen Abgrund gerissen wird.

red. / m.s.

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