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(c) Pester Lloyd / 42 - 2012   GESELLSCHAFT 22.10.2012

 

Entfernte Freiheit

Ungarn - ein Zustand: Gedanken zu einem Tag, der kein Feiertag mehr ist

Am 23. Oktober gedenkt Ungarn des Volksaufstandes im Jahre 1956, - strikt getrennt nach Weltanschauung und Partei: das Erbe der 56er wurde instrumentalisiert, die Ideale in Interessenskämpfen aufgebraucht. Zurück blieb ein gespaltenes, völlig demoralisiertes Land, dessen Bürger sich die Gestaltung ihres Schicksals von selbsternannten Heilsbringern aus der Hand nehmen ließen. - Ungarn gibt einen Vorgeschmack darauf, was ganz Europa blühen kann. + Veranstaltungen zum 23.10.

Zu den Demoberichten

Imre Nagy-Denkmal in Budapest. Die Brücken scheinen blockiert, das Parlament weiter als je...

Ungarn 1956: Geopfert auf dem Altar des Kalten Krieges

Vor nun 56 Jahren begehrte eine Bewegung aus Studenten, Demokraten, Reformkommunisten und einer stetig anwachsenden Unterstützterschar unzufriedener Bürger gegen das stalinistische Regime im Lande auf und übernahm für einige Tage die Macht. Während Interimspremier Imre Nagy erste Schritte einer Demokratisierung unternahm, an einer neuen Verfassung arbeitete, Presse- und Versammlungsfreiheit proklamierte, sich Parteien gründeten und freie Wahlen abhalten wollten, zogen andere Gruppen auch marodierend durch die Straßen Budapests, befreiten Gefangene und rächten sich an Funktionären der Partei und des verhassten Geheimdienstes. Nur zwei Wochen später wurde die Bewegung durch einen massiven, kriegsartigen Militäreinsatz sowjetischer Besatzungsgruppen und Regimetreuer blutig gestürzt, worauf eine Säuberungs- und Verhaftungswelle mit standrechtlichen Erschießungen und Schauprozessen folgte.

Auch Imre Nagy wurde, wie viele seiner Mitstreiter, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hunderttausende Ungarn verließen ihr Land, die meisten für immer, eine große Solidarisierungswelle empfing sie, doch die große Weltpolitik ließ Ungarn im Stich, die gleichzeitig stattfindene Suez-Krise stand im Weg wie auch das fragile Gleichgewicht der Einflussphären der atomaren Supermächte. Ungarn wurde sozusagen auf dem Altar der Weltpolitik und des Kalten Krieges geopfert.

Einmal noch stand man zusammen: 1989

Wie beim Arbeiteraufstand 1953 in der DDR, dem Prager Frühling 1968 oder der Scolidarnosc-Bewegung in Polen, nahmen die Demokratiebewegungen um 1989/90 Bezug auf dieses Ereignis, das eines von vielen Anzeichen der Errosion in den Sattelitenstaaten der Sowjetunion war. Und wie auch bei dem des Anti-Habsburg-Aufstandes 1848/49 gewidmeten am 15. März, beansprucht jede politische Partei in Ungarn auf die eine oder andere Weise das Erbe dieser Bewegung für sich und interpretiert das Gedenken an 1956 im Sinne ihrer heutigen politischen Interessen.

Ein gemeinsames Gedenken an 1956 gab es nur ein einziges Mal, im Juni 1989, als Ungarn kurz vor dem Durchschneiden des Grenzzauns stand und das morsch gewordene politische Gebälk der Ostblockstaaten kurz vor dem Zusammenbruch stand. Damals wurde der Leichnam Imre Nagys, des Reformkommunisten und Idols von 1956, ehrenvoll umgebettet, was zu einer großen Manifestation für den politischen Wandel wurde. Einer der Redner war damals übrigens ein sehr liberal gesinnter Student namens Viktor Orbán...

 

Keine Antworten auf die exitentellen Fragen

Seit diesen Tagen wurde Ungarn von den maßgeblichen Kräften immer mehr zu einem politischen Schlachtfeld voller Gräben entwickelt, die extreme Polarisierung zwischen den sogenannten Linksliberalen und den Nationalkonservativen ließ kaum Platz für eine gemeinsame Strategie zum Wohle des Landes. Das Volk wählte fast jedes Mal die aktuelle Regierung ab und will zur Hälfte heute überhaupt nicht mehr wählen. Der Grund dafür ist so einfach wie komplex: keine Regierung fand bisher Antworten auf ihre existentiellen Bedürfnisse nach einer relativen materiellen Sicherheit und einer erstrebenswerten Perspektive.

Einig nur, wenn es gegen das Volk geht

Die "Sozialisten", so das allgemeine Urteil, warfen das Land unvorbereitet der Globalisierung, gleichgesetzt mit EU und Gaunern in den eigenen Reihen zur Plünderung vor, die sie 2010 ablösenden Nationalkonersvativen posaunen zwar viel von Nationalstolz und Erneuerung, ihre Maßnahmen dienen jedoch sichtbar nur der eigenen Machtsicherung, Rechtsstaats- und Demokratieabbau eingeschlossen, während es in der Wirtschaftspolitik, die eine Mischung aus Planwirtschaft und Klientelpolitik darstellt, nicht vorwärts geht.
Den Menschen, das belegen Stimmung wie Zahlen, geht es immer noch schlechter als zuvor, nur mühsam noch kann auch diese Regierung ihr Versagen durch Stellvertreter"kriege" - heute die internationale Finanzwirtschaft, Brüssel als "das neue Moskau" (Orbán) oder die ausländischen Bodenspekulanten - kaschieren.

Drei Dinge sind bei beiden "Systemen" gleich: 1. beide schließen das Volk so weit es nur geht aus, Selbstbestimmtheit, also die Möglichkeit das eigene Schicksal durch eigene Kraft beeinflussen zu können, spielt eine untergeordnete Rolle, ja wird sogar als Störfaktor erkannt und entsprechend behandelt. 2. Schuld sind immer die anderen. 3. das Land ist die Beute des jeweiligen Wahlsiegers.

Versagen nennen die Sozialdemokraten: Tradition

Folgerichtig sehen sich die "Sozialisten" von der MSZP, die aus der Einheitspartei hervorgingen, als Erben Imre Nagys, sind sie doch, so glauben sie, als "Sozialdemokraten" am dichtesten an Nagys Intentionen dran, wobei die eigenen historischen Fehlleistungen der "neuen" Sozialdemokratie (was nicht nur für Ungarn gilt) einfach kein Thema sind. Man hat bis heute keine Antworten auf die Herausforderungen gefunden, weder im nationalen, noch im globalen Maßstab. Die Systemfrage bleibt ungestellt, das nennen die Sozialdemokraten: Tradition.

Orbán färbt die neuen Ketten rot-weiß-grün

Orbán sieht in 1956 vor allem ein wichtiges Momentum des immerwährenden Befreiungskampfes des ungarischen Volkes und konstruiert eine gerade Linie des Schmerzes von den Türken, über Habsburg, Trianon und die Russen bis heute nach Brüssel. Er glaubt, heute seine ihm historisch zugedachte Rolle zu vollenden und erstmals Ungarn auf "eigene Beine" zu stellen. Orbán glaubt dabei tatsächlich an eine höhere Fügung, wie nicht zuletzt seine Blut-und-Boden-Rhetorik belegt. Er führt "Krieg gegen die Schuldensklaverei" und gegen die "Abhängigkeit von Brüssel", sagt er, - das Ergebnis in der Realität ist jedoch keine neue Freiheit, "sein" Land bleibt in Not und Ketten, die diesmal in Nationalfarben gehalten sind. Ob Ungarn eine Demokratie bleibt, ist noch nicht entschieden, doch wer Orbáns Politik wissend applaudiert, ist zumindest kein Demokrat mehr.

Jobbik: Ungarn, das Palästina Europas?

Weiter gehen nur die im Fahrwasser der Polarisierung immer einflussreicher gewordenen Neofaschisten von Jobbik, die Ungarn als europäisches Palästina erkennen und überall Juden, Kommunisten und Zigeuner am Untergang des Vaterlandes arbeiten sehen. Jobbik ist kein Randphänomen oder ein Ausrutscher, ihre Anhängerschaft ist ein logisches Produkt aus nackter Existenzangst, Unwissenheit, mangelnden Alternativen,  gezielter Demagogie + Kalkül. Ein Produkt übrigens, das überall dort wieder im Entstehen sein wird, wo sich diese Zutaten vermehren können und wo "bürgerliche" Politiker glauben, man kann Faschisten durch Umarmung erdrücken. Das hat schon einmal nicht geklappt und es wird wieder schief gehen. Die in Ungarn von der Regierung gezielt betriebene Horthy-Renaissance ist ein beängstigendes Zeichen für diese Fehlentwicklung.

Prekäre Arbeit und Lobbyisten schaffen keine "Gemeinschaft"

Ungarn ist nicht nur ein Land, Ungarn ist ein Zustand. Wie in einer Kristallkugel sehen wir hier die Zukunft Europas, die blüht, wenn man Populisten die Lösung der anstehenden Krisen überlässt, weil die Demokraten nicht im Stande sind, sie wirklich zu lösen. Die Verelendung der Griechen bei gleichzeitigen Billionenhilfen für die Banken ist eben keine Lösung, das Verprügeln von Demonstranten in Madrid auch nicht. Prekäre Arbeitsverhältnisse als Quasi-Standard schaffen keine "Wettbewerbsfähigkeit" und langfristig auch keinen Wohlstand und Lobbyistenbüros machen alles, aber keine "Europäische Gemeinschaft".

 

Das zu ändern, ohne dabei in das funktionsunfähige, menschenfeindliche Extrem zu rutschen, auf das sich Ungarn zubewegt, dazu müssen die Menschen bereit sein, den Unfähigen und Unwilligen das Mandat zu entziehen und ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen. Statt inneren Rückzugs oder der Abwälzung des Frustes auf Minderheiten bräuchte es ein neues 1956, ergänzt um die Friedlichkeit von 1989. Denn diese Bewegungen waren Bewegungen der Selbst- und nicht der Fremdbestimmung, der Einheit, nicht der Entzweiung, der Bürger, nicht der Parteien und ihrer Demagogen. Es waren Bewegungen der Freiheit. Ungarn könnte heute kaum weiter davon entfernt sein.

Marco Schicker

Die wichtigsten Veranstaltungen zum 23. Oktober im Überblick:

- Orbán-Rede am Kossuth Platz bei der offiziellen, staatlichen Gedenkzeremonie für 1956
- die MSZP hält am Morgen eine Gedenkkonferenz ab, später eine Gedenkfeier am 1956er Denkmal (Kossuth Platz)
- Jobbik (Neofaschisten) machen ihre übliche Kundgebung am Deák Platz im Stadtzentrum
- die grün-liberale LMP zieht sich zu einer kleinen Veranstaltung nach Hajdúszoboszló zurück
- die Demokratische Koalition (eine Abspaltung der MSZP) von Ex-Premier Gyurcsány trifft sich am Egyetem Platz.
Hier mehr dazu.
- Regierungsanhänger organisieren einen weiteren "Friedensmarsch" unter dem Motto "Wir wollen keine Schuldensklaven sein." Hier mehr dazu.
- Milla und Szolidaritás, zwei neue, außerparlamentarische Oppositionsgruppen, vereinigen um 15 Uhr zwei Demos zu einer gemeinsamen Kundgebung, Hier mehr zu Ort und Zeit. Bei dieser Veranstaltung wird auch Ex-Premier Bajnai als Redner erwartet, der als Hoffnungsträger für die demokratische Opposition für die kommenden Wahlen gilt, - wenn diese sich tatsächlich zu einem Wahlbündnis durchringen kann. Hier mehr zur Person und der Strategie Bajnais. Hier mehr zur
Gemengelage bei der Opposition und den Chancen auf ein Wahlbündnis.

Der Pester Lloyd berichtet zeitnah.

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