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(c) Pester Lloyd / 45 - 2012   WIRTSCHAFT 08.11.2012

 

Minister im Spagat

Wie Ungarn den IWF gleichzeitig als Geldgeber gewinnen, aber als Feindbild nicht verlieren will

Ungarn hat einen eigenen Minister für IWF-Verhandlungen, den engsten Wirtschaftsberater von Premier Orbán, Mihály Varga. Der versucht derzeit IWF und Märkte für Ungarn einzunehmen. Doch gleichzeitig muss er darauf achten, die Heimatfront nicht zu beschädigen, denn der IWF ist nicht nur potentieller Geldgeber, sondern geliebtes Feindbild, um die eigenen Reihen zu schließen. Ein Spagat zwischen Kriegsrhetorik und Pragmatismus, der in Ungarn alltäglich geworden ist und - natürlich - alles nur ein Missverständnis.

Keine Zeit für lange Erklärungen: die Regierung erklärt ihren Bürgern komplexe Zusammenhänge anhand  bündiger Schlagzeilen... Darin lehnt man Forderungen des IWF ab, die es nie gegeben hat...

"Es gibt im Moment keinen konkreten Termin für weitere Verhandlungen mit Ungarn".

"Für die nächsten zwei oder drei Jahre kann Ungarn nicht damit rechnen, dass seine Wachstumsraten das Vorkrisenniveau wieder erreichen. (...) Dabei hinkt Ungarn den Nachbarn in der Region schon seit einer Dekade hinterher. (...) Bisher gibt es keinerlei Anzeichen für ein stabiles Wachstum, nicht einmal in der Fertigungsindustrie. (...) Und beim Bau denken wir jedes Quartal, schlechter kann es nicht werden, um dann von den Statistikern eines Besseren belehrt zu werden. (...) Stabiles Wachstum sollte man sobald nicht erwarten...."

Dass eine derart depressive Einschätzung zum Zustand der ungarischen Wirtschaft tatsächlich von Minister Varga, einem Minister des Orbán-Kabinetts stammt, mag man angesichts der sonst posaunten Jubelparolen kaum glauben. Doch die Worte waren wohl gewählt und stammen aus einem Interview mit Reuters, das vor allem den Westen, also die bösen Finanzmärkte und den IWF zum Addressaten hatte.

Die Internationenbanker lassen sich von dem überschäumenden Hurraoptimismus á la Wirtschaftsminister Matolcsy: "Die Krise ist vorbei!" "Vollbeschäftigung in einigen Jahren" (siehe Wirtschaftswunderwaffe und Voodoo-Budget) und auch nicht von den Fremdschuldthesen Premier Orbáns "Europa hat Ungarn in die Krise gerissen" etc. nicht mehr beeindrucken. Ein IWF-Sprecher demonstrierte seine Macht gerade wieder in ziemlich dürren Worten: "Es gibt im Moment keinen konkreten Termin für weitere Verhandlungen mit Ungarn". Punkt.

 

Die Gründe dafür sind bekannt: die Ungarn sollen ihr Budget sortieren, endlich verlässliche Zahlen vorlegen und sie sollen auf die wichtigsten Forderungen des IWF eine annehmbare Antwort finden. Und zu denen zählen weder Rentenkürzungen, noch Streichungen bei Kindergeld- und Familienbeihilfen, auch wenn die Regierung das durch ihre Kampagnen impliziert.

Als Staatsfeind Nr. 2 (nach “den Kommunisten”) ist Orbán der IWF im Moment wichtiger, denn als günstiger Geldgeber. Das Volk, seit Jahrhunderten von seinen Führern auf die Opferpose domptiert, nimmt dieses Scheingefecht billigster propagandistischer Machart in großen Teilen noch für bare Münze - aber eben auch anstelle barer Münze. Die letzten Höhepunkte waren eine 860.000 Euro-teure Anti-IWF-Anzeigen- und Plakatkampange der Regierung: "Das erlauben wir dem IWF nicht!", garniert mit angeblichen Forderungen: von Einführung einer Immobiliensteuer bis zur Abschaffung der Familienbeihilfe. Forderungen, die der IWF so nie stellte. Auf den Pro-Regierungsdemos genannten "Friedensmärschen" wird die EU mit der Sowjetunion gleichgesetzt, auch Orbán nannte Brüssel schon das "neue Moskau". Sogar das kalkulierte Scheitern der IWF-Gespräche als größte Waffe im Wahlkampf 2014 wird schon geplant.

Minister Varga (Foto) versucht den IWF via Reuters zumindest besänftigen, weil es direkte Gespräch nicht mehr gibt. Er versucht es zu erklären: wie immer haben die Ausländer, "hat Washington" Ungarn missverstanden, die Medienkampagne sei doch eine "reine Informationsveranstaltung für das einheimische Publikum" gewesen, mit der man "die Agenda und Prioritäten der Regierung erklären" wollte. Im übrigen, "vertraut er darauf", dass die Gespräche mit dem IWF doch in diesem Jahr noch fortgeführt werden können. Noch kürzlich sollte spätestens im Herbst das Abkommen fertig sein...

Dabei ist es nicht einmal die aggressive Anti-Stimmung, die den IWF so kühl werden ließ, sondern der ganz außerordentliche Saustall, den der Nationalwirtschaftsminister als Wirtschafts- und Budgetpolitik bezeichnet. Im Wochentakt gibt es Anpassungen und Korrekturen, Gesetze werden manchmal schneller wieder abgeändert als sie in Kraft treten können, überholen sich sozusagen selbst. Nicht einmal die Grundannahmen für Wachstum, Arbeitsmarkt, Währungskurs, Inflation sind seriös begründbar, geschweige denn die Projektionen für Steuereinnahmen und Ausgabenentwicklung. Wir haben diese “Gulaschwirtschaft” zwischen Wunsch und Wirklichkeit in diesem Beitrag genauer beschrieben, alles weitere finden Sie in den Ressorts, daher wollen wir uns hier auf die IWF-seitigen Fragen beschränken:

Wozu braucht Ungarn eigentlich 15 Milliarden Euro?

Nicht nur Varga, auch andere "Experten" sagen, man könne sich, trotz aller, vor allem währungsseitigen Verletzlichkeit, ganz gut auf den internationalen Märkten finanzieren. Das stimmt für die Forintseite, für die Fremdwährungen nicht. Ungarn sei bei weitem nicht so hilfsbedürftig wie Portugal oder Griechenland, schließlich liegt die Schuldenquote im EU-Schnitt (rund 80% des BIP). Auch das ist richtig.

Doch die Finanzierung der Staatsschuld kostet sein Land immens viel Geld, Varga rechnet vor: jährlich 1.200-1.300 Milliarden Forint, also knapp 5 Milliarden EUR und damit ca. 4,5% des BIP wendet man allein für Zinszahlungen auf Staatsanleihen und andere Schuldpapiere auf. Und die Anleihezinsen bleiben stabil hoch, je nach Laufzeit und Marktlaune liegen sie zur Zeit zwischen 6,5 und nach oben offenen 8%. Geld, das niemals durch eine Wachstumsrate zu erwirtschaften sein wird. An Devisenanleihen wagt sich Ungarn derzeit überhaupt nicht, zu groß ist die Angst, dass die Märkte dem Land eine teure Harke für sein fiskalpolitisches Hazardspiel zeigen. Das einzige, was Ungarns Währung und Zinsen noch vor der Implosion rettet, sind die vergleichsweise hohen Devisenreserven der Zentralbank, auf die Orbán schon länger ein Auge geworfen hat, die jedoch die letzte finanzielle Sicherheit des Landes bedeuten und die auf der hohen Kante bessere Dienste leisten, denn als Einmaleffekt zu verpuffen.

Der IWF ist ziemlich unsympathisch, aber nur ein Teil des Problems

Die IWF-Euro kosten jährlich nur 2%, die Inflation eingerechnet, würde das sogar ein ungefähres Nullsummenspiel für den Schuldner bedeuten. Vor allem aber könnte ein IWF-Abkommen die Anleihezinsen auf den freien Märkten dramatisch senken und dem Haushalt bis zu einem Drittel der jetzigen Refinanzierungskosten ersparen. Es ist also ein lohnender Deal, zumal die strukturellen Forderungen, die der IWF stellt, nicht über das hinausgehen, was jeder Finanzminister, der rechnen kann, ohnehin vorhaben müsste: Kosten im öffentlichen Dienst senken, Subventionen für Staatsbetriebe herunterfahen, Verwaltung straffen, Steuereintreibung effektivieren. - Dass der IWF nicht so nebenbei auch ein ziemlich unsympathisches Instrument ist, um seine Mitgliedsländer auf neoliberaler Schiene zu halten, dass die "Bankenparteien" die EU dominieren und diese damit nicht aus der tödlichen Schuldenlogik ausbrechen können wird, ist wahr, aber nur ein Teil der Erklärung.

Nibelungentreue für den Wirtschaftsclown

Ungarn leidet vor allem an Kompetenzmangel in der Spitze, an Wirtschafts- und Finanzminister György Matolcsy hängt Premier Orbán aus unerfindlichen Gründen - trotz täglicher Unfähigkeitsbweise - geradezu nibelungisch. Zwei Erklärungsmuster gibt es dafür: Mittelmaß muss sich mit noch schwächeren Figure umgeben, um vor sich selbst bestehen zu können oder: Matolcsy wird als finales Bauernopfer konserviert, wenn das Volk irgendwann den Taschenrechner bei Seite legt und zur Mistgabel greift.

Matolcsy kostete Land und Leute schon Milliarden. Seine waghalsigen Äußerungen, so tapsig-komödiantisch sie aufgenommen werden, haben doch die Fähigkeit den Forint um ganze Prozentpunkte wandern zu lassen, meist nach unten, was die Hunderttausenden Schuldner von Forex-Krediten immer teuerer zu stehen kommt. Für ihn ist "die Krise vorbei" und dennoch belegt er - ohne rot zu werden - fast jede Woche durch eine neue Notmaßnahme das Gegenteil und die eigene Unfähigkeit. Die Zielvorgaben in seinem Hause entspringen reinen Wunschvorstellungen und den Anordnungen Orbáns, müssen sie nachher korrigiert werden, werden sie eben korrigiert. Es lebe die Planwirtschaft!

Nationalwirtschaftsminister Matolcsy am Dienstag im Parlament. Budgetdebatte: Er werde "nicht ruhen, bis er jeden Quadratmeter des Landes und jeden ehrlichen Ungarn von dessen Schulden befreit" habe, auch wenn Ungarn "heute noch bis zum Hals in Schulden steckt, man uns zwingt hohe Zinsen zu zahlen und ausländische Spekulanten mit unseren Staatsanleihen spielen...". Wir aber, werden "den Kampf um die Freiheit von Schulden gewinnen...". Sein Rücektritt wäre für Ungarn schon ein Teilsieg. Doch er sieht das anders: "Die Sozialisten" haben von 2002-2010 versäumt die Wirtschaft zu stimulieren und Jobs zu schaffen, die Familien zu entlasten oder die Löhne anzuheben (diese Regierung behauptet entgegen der Faktenlage, sie hätte all das getan, Anm.), stattdessen "steckten sie das Geld in die Taschen der Banken, der Finanzinvestoren und der Marktspekulanten".

Problemverlagerung und Fremschuldthesen bringen keine Lösung

Tatsächlich sind Ungarns Schulden binnen acht Jahren um 120% gestiegen bzw. von 53% des BIP auf über 80%. Doch diese Regierung konnte sie nur nominal um einige Punkte senken, in dem man die Beiträge zur ehedem obligaten privaten Rentenversicherung verstaatlichte, man könnte auch sagen enteignete. Ein gigantischer Einmaleffekt von rund 10% des BIP, der, im Gegensatz zu den Rentenansprüchen, längst verpufft ist. In der Regierungsrhetorik kommt wieder der IWF ins Spiel, denn der 20 Mrd. EUR-Notkredit von 2008 "spielt bei diesem Schuldenberg" auch eine Rolle, vermerkte Fidesz-Fraktionschef Rogán im Parlament. Dass Ungarn damals nur über EU-IWF überhaupt noch Geld bekam, verschweigt er, ebenso die vergleichsweise günstigen Bedingungen.

 

Die Grundprobleme können jedoch weder Rogán, noch Matolcsy, Varga oder gar Orbán selbst auflösen: die klientelorientierte Wirtschaftspolitik dieser Regierung verhindert das bisschen mögliche Wachstum, die perspektivlose Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung schwächt den Arbeitsmarkt und konserviert das Problem in sinnloser “kommunaler Beschäftigung”, die ständische Steuerpolitik verringert das verfügbare Einkommen der Menschen, damit Konsum und Unternehmergeist, Sondersteuern für Banken verschärfen die Kreditklemme (wenn auch die Banken, die derzeit wieder Milliarden aus Ungarn abziehen, daran selbst die größere Schuld tragen) und die Unvorhersagbarkeit der Politik schwächt Ungarns Position gegenüber Investoren und Märkten. Die politischen Ausfahrten Orbáns tun ihr Übriges, um Verständnis und Vertrauen in das Land zu unterminieren. Ein bisschen Rechtsstaat braucht sogar der risikofreudigste Kapitalist, um Willens zu sein, “sein” Geld zu investieren...

Eurokrise und globale Verwerfungen vertiefen diese Probleme natürlich, schaffen sie aber nicht. Doch kann diese Regierung sich ihr Scheitern, das aufgrund ihrer ideologischen Fixierung zwingend programmiert ist, nicht eingestehen und muss daher äußere Feinde als Erklärung heranziehen, auch wenn man damit in der Abwärtsspirale gefangen bleibt.

red. / cs.sz.

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