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(c) Pester Lloyd / 48 - 2012   NACHRICHTEN 28.11.2012

 

Narrenfreiheit für Verbrecher?

"Judenlisten"-Sager in Ungarn: Proteste, aber keine Konsequenzen + Kommentar

Rassistische Ausfälle wie jener von Gyöngyösi sind von seiten der Jobbik-Abgeordneten an der Tagesordnung und bleiben stets ohne wirkliche Konsequenzen. Die Allianz des Antifaschismus besteht nur als Lippenbekenntnis, denn Jobbik erfüllt eine Funktion als Ventil und hat ein interessantes Wählerpotential für die Regierenden. Die gemeinsame Aktion der Demokraten fällt deshalb aus, die Gyöngyösis dürfen sich in Ungarn zu Hause fühlen...

“Ich möchte auf die Jobbik-Liste aufgenommen werden” fordert dieser Demonstrant am Dienstagnachmittag vor dem Parlament in Budapest. Foto: MTI

Die Entwicklungen im Gyöngyösi-Skandal seit Dienstagnachmittag: Fraktionsübergreifende Ablehnung, Minister, Staatspräsident, Regierung verurteilen "auf das Schärfste", Proteste und Stellungnahmen ebenfalls von diversen Botschaften, darunter USA, Israel, dem Simon Wiesenthal Center, den Jüdischen Dachverbänden in Ungarn. Diesmal auch großes Presseecho, auch international. Gyöngyösi gab eine Pressekonferenz mit Relativierungen, entschuldigte sich "bei meinen jüdischen Landsleuten" und wollte seine Forderungen nur auf doppelte Staatsbürgerschaften gemeint wissen.

Zwei Kundgebungen fanden am Dienstagnachmittag vor dem Parlament statt, eine rief die Teilnehmer auf, sich als Juden zu kennzeichnen, was etwa Dreihundert, auch Nichtjuden, taten. 300! Unter den Protestierenden waren auch Überlebende des Holocaust. Beim Parlamentstor wurden Petitionen überreicht. Bei einer anderen Kundgebung trafen sich Abgeordnete aller demokratischen Oppositionsfraktionen sowie die Regierungsparteien vor dem Parlament zum Fototermin, auch ein Transparent der außerparlamentarischen Opposition "Gemeinsam 2014" sowie eine Flagge der Roma war zu sehen, um gemeinsam ihren Protest gegen die Äußerungen des Jobbik-Abgeordneten zu demonstrieren.

Die Regierung verurteilt “auf das Schärfste” - am Fließband

Von Parlamentspräsident Kövér, selbst im Umgang mit Antisemiten betont fahrlässig bis vorsetzlich, ist persönlich nichts überliefert, er überließ die Verlautbarungen des Präsidiums seinem MSZP-Vize. Die Webseite "Funky Abgeordneter" reihte die letzten Statements der Regierung bei antsemitischen und anderen rassistischen Ausfällen von Jobbik-Leuten aneinander. Es wird ersichtlich, dass dafür ein Autotext verwendet wird, der nur leicht angepasst zu werden braucht: Antifaschismus auf Knopfdruck sozusagen. Diesemal schob man Dienstagabend noch mal nach, der internationalen Presse wegen?

Die unmittelbare Antwort des Fidesz-Außenamtssprecher Zsolt Németh auf das Ansinnen des Jobbik-Abgeordneten Márton Gyöngyösi einer "Judenliste" hat nicht wenige Beobachter verstört. Anstatt den Antragsteller in die Schranken zu weisen, sagte der Staatssekretär sinngemäß nur, dass die Entscheidungen zur ungarische Israel- bzw. Gazapolitik nicht durch die Staats- oder Volkszugehörigkeit von Abgeordneten oder Regierungsmitgliedern beeinflusst wird. Er hat den Antrag also in gewisser Weise sachlich beantwortet.

Von offiziellen Sanktionen gegen den Abgeordneten Gyöngyösi wird derzeit nichts berichtet, nicht einmal eine Verwarnung des Parlamentspräsidiums hat ihn erreicht, denn dafür war der Vorsitzführende zuständig, zur Redezeit Gyöngyösis war das ein Parteikollege. Wie uns bekannt wurde, haben Privatpersonen und einige Organisationen Anzeige wegen Verhetzung und Hassrede sowie Leugnung bzw. Verharmlosung des Holocaust gestellt. Der Generalstaatsanwalt ist bisher - offiziell - noch nicht tätig geworden, er, bzw. ein anderer zuständig gemachter Staatsanwalt, müsste zunächst die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten beantragen, um überhaupt gegen ihn ermitteln zu können.

Die Nazis treiben die Regierung thematisch und systematisch vor sich her

Das wird jedoch kaum passieren, denn rassistische Ausfälle wie jener von Gyöngyösi sind von seiten der Jobbik-Abgeordneten an der Tagesordnung im Parlament und auf den Straßen und betreffen neben Juden regelmäßig auch "Zigeuner", "Kommunisten" und Homosexuelle. Diese Hasspredigten blieben bisher immer straflos, ebenso wie jene im außerparlamentarischen Bereich, wie z.B. in den einschlägigen Hetzportalen der Ultrarechten, aber auch jene von Orbán-Freund, Friedensmarsch-Aktivist und Fidesz-Mitgründer Bayer in der Magyar Hírlap, der in seiner Kolummne regelmäßig gegen Juden und "Kommunisten" und sämtliche Regierungskritiker hetzt und dafür noch Orden von seiner Partei erhält. Hauptsache man tilgt alle “Kommunisten” aus dem Stadtplan und “hat die Linke zerschlagen” (Orbán) und frömmelt überall ungefragt über die “christlichen Wurzeln”, ohne die Europa untergeht und “Horthy war sicher kein Diktator” (Orbán) und der Zweite Weltkrieg ohnehin nur “ein Bürgerkrieg zwischen christlichen Nationen” (Orbán) und wenn ich “in der Slowakei bin, bin ich in Ungarn” (Kövér)...

Von Nichts kommt nichts, - die Gyöngyösis sind schon überall, sie sitzen in Ämtern, bei der Polizei, in Redaktionsstuben auf Bürgermeistersesseln und daher natürlich auch im Parlament. In ihren Übertreibungen nutzen die organisierten Neonazis der Regierungspartei am meisten, als verbotene “Märtyrer” wären sie eine Gefahr. Denn das Wählerpotential von Jobbik und Fidesz überschneidet sich deutlich stärker als das anderer Parteien.

Deshalb bedient Fidesz auch Jobbik-Themen, weil man mit deren Anhängerschaft kalkuliert, auch wenn das Risiko des Nazismus eigentlich unkalkulierbar ist. Oder glauben Sie, die Horthy-Statuen sprießen von allein aus den Plätzen? Umgekehrt betrachtet: Fidesz hat Angst vor dem möglichen Potential dieser Partei, das auf bis zu 25% der Wählenden geschätzt wird, Fidesz lässt sich bei manchen Themen von Jobbik treiben und lässt es sich gefallen, dass deren als “Garden” benannte Banden hasssprühend und verbal wie körperlich gewalttätig durch die Orte ziehen und die Menschen gegeneinander aufhetzen. Jobbik hat offen den Sturz der Republik proklamiert, sie sind Staatsfeinde. Das sollte doch genügen sie juristisch und gesellschaftlich zu verdammen, wenn Menschenfeind zu sein, noch nicht ausreicht...

Eine praktische Allianz gegen Nazis? Undenkbar.

Jobbik, eine Organisation von Verbrechern, hat eine kalkulierte Narrenfreiheit, solange sie ihre Rolle als Ventil und böser Bube spielt und ihre Funktion erfüllt im Spiel der Macht. Auf die Idee, die Nazis zu stoppen, indem man ihnen den Nährboden entzieht, weil man durch einigendes Handeln aller Demokraten Armut, Perspektivlosigkeit und Alltagsängste zurückdrängt und damit die kranke Propaganda der Nazis wirkungslos macht, auf diese Idee, die eigentlich nichts weiter als eine verdammte Pflicht ist, kommt im gespaltenen Ungarn heute keiner. Sie wirft keine parteipolitischen Früchte ab, sie verlangt Kompromisse: undenkbar. Man müsste sich, “Links” wir Rechts eingestehen, dass man den Nährboden selbst geschaufelt hat. Noch undenkbarer. Schuld sind doch immer die Anderen!

Man echauffiert sich, man solidarisiert sich, dann geht es weiter wie zuvor. Und die EU? Sie wird sich auch echauffieren und solidarisieren. Aber Antisemitismus scheint Sache der Nationalstaaten zu sein, dafür war vor lauter Binnenmarkt wohl kein Platz mehr in den EU-Verträgen. Nur wehe Ungarn, die Telekomsondersteuer wird nicht bald abgeschafft... - Die Gyöngyösis werden weitermachen, weil sie dürfen, weil sie in Ungarn heute schon wieder zu Hause sind und damit auch in Europa.

m.s.

Zum Thema:

Das Präsidium schweigt... - Abgeordneter in Ungarn fordert "Judenzählung" im Parlament

Mehr zum alten/neuen Antisemitismus bei Jobbik und (!) Fidesz

Mehr zu Martón Gyöngyösi

Hintergrund: Wer ist Jobbik?

Die Macht vor Augen (2012) - Neonazis wollen ab 2014 Ungarn regieren
Ungarn auf Abwegen? (2010) - Jobbik ist kein Phänomen, sondern ein Produkt

 

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