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(c) Pester Lloyd / 25 - 2013   GESELLSCHAFT 20.06.2013

 

Alltägliche Tragödien

Impressionen zu einem Systemfehler: Zwangsräumung in Ungarn in Wort und Bild

Während die Menschen in Budapest gegen das Hochwasser kämpften, viele wegen Naturgewalten ihr zu Hause verloren oder mit großen Schäden belastet werden, spielte sich im X. Bezirk der ungarischen Hauptstadt, in Köbánya, eine schon alltägliche Tragödie ab. Die Bezirksverwaltung setzte gewaltsam die angeordnete Zwangsräumung gegen eine Familie durch. Das Besondere an dem Fall: es waren nicht die Schulden aus Fremdwährungskrediten, sondern die Wohnnebenkosten, die eine Familie mit zehn Kindern ruinierte und die - vom Staat alleingelassen - nun der Obdachlosigkeit entgegensieht.

Das Drama begann 2006. Die alleinerziehende Mutter verlor ihre Arbeit, konnte bis dahin aber alle Rechnungen bezahlen. Nun drückten vor allem die stetig steigenden Fernheizungskosten der thermisch undichten Plattenbauten, die enorm viel verbrauchten. So haben sich über die Jahre umgerechnet rund 5.000 Euro Rückstände angesammelt. Zusammen mit Zinsen und Zinseszinsen, Mahngebühren, Bearbeitungs- und Vollstreckungskosten etc. etc. häufte sich ein Berg von über 10.000 Euro an, unbezwingbar für die vielköpfige Familie Faragó. Seit Jahren ist die Mutter arbeitsunfähig, die staatlichen Zuwendungen reichen nicht mal für das Nötigste. Unterstützer aus der Nachbarschaft und Aktivisten wiesen immer wieder darauf hin, dass die Familie nicht einmal die Gelder bekommt, die ihr laut Gesetz zustehen. Doch Geld für einen Anwalt, gar eine Klage ist erst recht keines da.

Gespräche, Bitten und Verhandlungen mit dem Bezirksbürgermeister führten zu nichts. Dabei gibt es Fonds, Möglichkeiten und Ermessensspielräume auch in sozial prekären Situationen so zu agieren, dass mit das Schlimmste, was Kindern passieren kann, die Obdachlosigkeit oder Heimeinweisung zu verhindern wäre. Doch weder die "sozialistischen" Vorgängerregierungen, noch die Regierung des "nationalen Zusammenhalts", die so viel Wert auf eine hohe Geburtenrate legt, konnte oder wollte der Familie Faragó noch helfen, nicht einmal mit einer Perspektive zur Selbsthilfe.

Das ist natürlich kein ungarisches Spezifikum. Fälle, da Menschen durch das soziale Raster fallen, gibt es überall auch in Europa. Doch die Art und Weise darauf zu reagieren, unterscheidet sich, nicht von Land zu Land, aber von Stadt zu Stadt, von Mensch zu Mensch, von Behörde zu Behörde. Das Problem ist also strukturell, systemisch sozusagen. In Ungarn sind aktuell 170.000 bis 200.000 Wohnungen von Zwangsversteigerung bedroht und damit bis zu 600.000 Menschen von Zwangsräumung. Eine Lösung, ein System gibt es für sie nicht. Ungarn hat bis heute ja noch nicht einmal ein echtes bürgerliches Insolvenzrecht, um wenigstens Fälle, wie den der Faragós in geordnete Bahnen zu bringen, ohne einen sozialen Totalabsturz zu riskieren.

Am 11. Juni war es dann so weit, um 8 Uhr früh, während das ganze Land auf die Donau starrte, erschien die Polizei mit der "Amtsperson" und wollte die Familie aus der Wohnung holen. Doch zwei Dutzend Aktivisten gegen Zwangsräumung, aber auch Nachbarn mit Herz, blockierten den Zugang. Ihre Demonstration hielt das Viertel den ganzen Tag in Atem, am Nachmittag rückten 40 Polizisten an, um dem "Spuk" ein Ende zu bereiten. Die Demonstranten verlangten einen zweimonatigen Aufschub, doch darauf ging man nicht ein, dann verbarrikadierten sie die Wohnung von innen und außen und leisteten "passiven" Widerstand. Natürlich nutzte auch der nichts. Anwohner buhten die Beamten aus, applaudierten den Opfern. Noch 800 Räumungen stehen bis Jahresende auf dem Soll-Plan des X. Bezirkes. Bei einer zeitgleichen Räumung eines Forex-Schuldners rückte sogar die Antiterroreinheit TÉK an, die wegen ihrer weitreichenden Vollmachten auch Orbáns Privatarmee genannt wird...

 

Werbespot der österreichischen Raiffeisen-Bank in Ungarn (mit engl. Untertiteln) für die Vergabe von Fremdwährungs-Hypothekenkrediten. Ihr Einkommen interessiert nicht, nur der Wert der Immobilie. Dass der genauso schwanken kann wie der Forintkurs, was die Einkommensverhältnisse dann plötzlich doch sehr wichtig macht: das spielte 2007 keine Rolle, Hauptsache Marktanteile. Damit gerieten auch zigtausende Familien, die nicht, wie die Faragós ohnehin am sozialen Rand standen in den Ruin...

Nach der Räumung steht die Familie Faragó vor dem Haus und wusste nicht wohin. Für ein paar Wochen kann sie in einem Hostel unterschlüpfen, dessen Besitzerin Bürgerrechtsaktivistin ist. Die 3 minderjährigen Kinder der Familie sind "verschwunden", offenbar zu Bekannten versteckt, weil man sonst die Mitnahme durch das Jugendamt und den Entzug der Sorgerechtes fürchtet, nach ihnen fahndet die Polizei. Ein Kind im Kinderheim, das kostet die Eltern rund 190 EUR im Monat. Der Rest der Familie kann allerdings nur für eine kurze Zeit in dem Hostel bleiben, wenn sie nicht bald etwas findet, droht die Obdachlosigkeit, mit der verfassungsmäßigen Folge der Kriminalisierung.

 

 

In Spanien verweigert die Schlossergilde mittlerweile ihre Mithilfe bei der Hausöffnung, dort protestieren nicht Dutzende, sondern ganze Straßenzüge gegen die "Delogierungen". Verhindern können sie sie trotzdem nicht. Mögen die Gründe und Hintergründe die zu solchen Auswüchsen staatlicher Asozialität führen, auch vielschichtig sein und auch die Schuldner zu der Entwicklung beigetragen haben. Worauf die Bürgerrechtler hinweisen, ist die Frage der Prioritäten: wieso sind Milliarden in Europa für die Bankenrettung da, wieso Abermillionen in Ungarn für ein neues Fußballstadion oder für ungarische Gymnasien in der Ukraine oder in Siebenbürgen, wieso aber keine Gelder, um Familien vor dem totalen Absturz zu beschützen?

Wie die Regierung mit dem hunderttausendfachen Ruin aus Forex-Krediten umgeht, haben wir im Beitrag “Faule Kredite, fauler Staat” näher dargestellt, darin auch weiterführende Links zum Thema.

Eine mehrsprachige Webseite zu dem Problemkreis findet sich hier:
http://www.kaig-hu-arg.com/lostpropertywastedlife/

Recherche und Fotos: Andrea Krizsai, Text: red.

 

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