THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 49 - 2013 POLITIK  06.12.2013

 

Aktion "Blut und Boden"

500.000 neue Ungarn binnen zweieinhalb Jahren

In einer hochpathetischen Zeremonie wurde am Donnerstag im Parlament in Budapest der 499.999. und 500.000 ungarische Pass, nach dem seit Januar 2011 geltenden vereinfachten Vergabesystem an einen Frainziskanermönch und seine Mutter überreicht. Dahinter stehen wahlstrategische und ideologische Ziele. Allerdings sorgen die "Nationenschützer" auch für allerlei Wirbel, in den Nachbarländern, in der EU, aber auch zu Hause.

Premier Orbán sprach bei der operettig ausstaffierten Feierstunde davon, dass Ungarn unter seiner Regierung "die Ketten von den Toren des Landes" genommen habe und "weit offen steht, für alle, die sich als Ungarn bekennen." Der Regierungschef weiter: "Wir glauben, dass alle Ungarn, die die Stürme des 20. Jahrhunderts über die ganze Welt verstreut haben, unabhängig von ihrem Wohnsitz, Mitglieder unserer Nation sind." Diese Äußerung Orbáns dokumentiert erneut das von Fidesz betriebene völkische Nationenbild, das auch in der neuen Verfassung verankert wurde. Dort werden die Ungarn, also Magyaren der Welt als der nationenbildende Teil, die im Lande lebenden Minderheiten, also auch die Ungarndeutschen, Roma und jüdischen Ungarn lediglich als "staatsbildender" Teil definiert, also letztlich aus der Nation ausgeschlossen.

Vizepremier Semjén beschwor, dass dieses Projekt die "Einheit der ungarischen Nation unter dem Schirm des Rechtsstaates vollzieht" und zieh die linke Opposition noch einmal des "Verrats der nationalen Werte", als diese mit ihrer Propaganda in einem Referendum 2004 die neue Staatsbürgerschaft ablehnen ließ. Das von Fidesz damals eingereichte Referendum war wegen mangelnder Beteiligung erfolglos, zudem machte die MSZP den Bürgern Angst, dass massenhaft Rumänienungarn etc. für Sozialleistungen und Arbeitsplätze ins neue EU-Land Ungarn strömen könnten. Die MSZP hat sich mittlerweile bei einer Veranstaltung in Siebenbürgen für ihr damaliges Verhalten entschuldigt, - aber wohl eher, weil man nun auch in Rumänien und der Slowakei um Wählerstimmen buhlen muss.

Die Staatsbürgerschaftsaktion, mit der das aktive Wahlrecht in Ungarn verbunden ist, was auch zu rechtlichen Divergenzen mit Blick auf faire Wahlbedingungen für alle führte
http://www.pesterlloyd.net/html/1347szekelyblockiert.html, kam bei manchen Nachbarländern gar nicht gut an. So reagierte vor allem die Slowakei sehr verärgert und sieht darin einen Angriff auf die eigene Staatlichkeit und die Loyalität ihrer Bürger. In mehreren Fällen entzogen die slowakischen Behörden Beziehern der ungarischen Pässe die slowakische Staatsbürgerschaft, was von ungarischer Seite entsprechend bestürzt gewürdigt wurde.

Rumänien hielt sich mit Kritik an der ungarischen Nationenpolitik auffallend zurück, - wegen gleichartiger Ambitionen in Moldawien. Allerdings goutieren die Rumänien die aktive und massive Unterstützung der Separatistenbewegung der Székler rund um den Pfarrer Tökés überhaupt nicht. Fidesz-Politiker propagieren regelmäßig auf rumänischem Territorium, Orbán gab sogar Wahlempfehlungen für rumänische Wahlen und Referenden ab. Eine Verwaltungsreform soll - Ungarn meint, aus Rache - dafür sorgen, dass es künftig keine Bezirke mehr mit hungarorumänischer Mehrheitsbevölkerung gibt, dem Separatistenführer Tökés wurde eine staatliche Auszeichnung aberkannt. Während der jährlichen Märsche für "territoriale Autonomie" der Székler
http://www.pesterlloyd.net/html/1344szeklermarsch.html (die nur einen Teil der Rumänienungarn darstellen), wurden auch am ungarischen Parlament die Flagge der Volksgruppe gehisst.

Verhandelt wird regierungsseitig nur noch mit den Hardcore-Parteien der ethnischen Ungarn in den Nachbarländern, die Spaltung und Schwächung der Vertretung offen in Kauf nehmend. Nicht wenige Beobachter, selbst in den zwangsbeglückten Communitys im Vortrianonland, bemerken jedoch, dass die Orbán-Semjén-Politik ihnen, die über Jahrzehnte vor allem in Pragmatismus mit den Regierungen trainiert waren, einen echten Bärendienst erweist und ihr hart erkämpftes Standing gefährdet. Doch die "Vorteile" - zumindest aus Fidesz-Sicht - überwiegen: Verbreiterung der Wählerbasis und Promotion eines realitätsfernen, aber im komplexbeladenen Ungarn gut ankommenden Nationenbildes als neue, staatstragende Ideologie als Ablenkung von der alltäglichen Gaunerei. Dass Orbán dabei nicht nur taktisch und strategisch plant und agiert, sondern offenbar wirklich von seiner höheren Sendung überzeugt ist, hat er nicht nur einmal belegt
http://www.pesterlloyd.net/html/1240blutundbodenkinderbuch.html .

Um die Wunschquoten zu erreichen, übt man sich in sonst seltener Toleranz: etliche Fälle werden berichtet, in der auch Serben und Ukrainer mit nur marginalsten Ungarischkenntnissen oder mit Hilfe von direkt hinter ihnen stehenden Einflüsterern durch die Schwurzeremonien gebracht wurden. Ukraino-Ungarn ohne Ungarischkenntnisse stürmten die Arztpraxen in Ostungarn, die neuen Pässe ermöglichen ihnen kostenfreie Behandlung in Ungarn, was zum Unmut der ansässigen Bevölkerung führte. Vor allem auch der schwarze Arbeitsmarkt in Ungarn profitiert von der Passregelung, da nun billigste Arbeitskräfte für Hotelerie, Bau etc. sich legal in Ungarn bewegen können, mit entsprechenden Auswirkungen auf un- bzw. schlechtqualifizierte Arbeitskräfte in Kernungarn.

 

Die massenhafte Vergabe von ungarischen, also EU-Pässen an Nicht-EU-Bürger (hier vor allem Serbien und Ukraine), stellt, nach Auffassung nicht weniger Rechtsexperten außerdem einen formalen Verstoß gegen das Schengen-Abkommen dar, ebenso der Verkauf von Pässen über Off-Shore-Gesellschaften für Staatsanleihen http://www.pesterlloyd.net/html/1322offshorepaesse.html . Letzteres betreibt auch Malta und musste sich dafür kürzlich durch die europäische Presse jagen lassen, - ungarische Pässe sind aber schon seit längerem und billiger zu haben. Die EU-Kommission wird das Thema jedoch juristisch kaum angehen, da es mit Blick auf etliche Doppelpass- und Minderheitenproblematiken schlicht ein zu heißes Eisen darstellt.

Insgesamt haben nach offiziellen Angaben seit 3. Januar 2011 540.000 Menschen die ungarische Staatsbürgerschaft beantragt, also mehr als 5% der Bevölkerungszahl des Kernlandes. Die Anträge kamen aus 90 Ländern, davon neben den europäischen rund 2000 aus Nordamerika, 400 aus Südamerika, 500 aus Australien und 2.000 aus Asien.

cssz.

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