THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 20 - 2014   GESELLSCHAFT 14.05.2014

 

Urteil ohne Genugtuung: Erstmals wurde in Ungarn ein stalinistischer Ex-Minister für seine Verbrechen verurteilt

Béla Biszku war von 1957 bis 1961 Innenminister der Kádár-Regierung und zuvor als Leiter eines Standrechtskomitees bei der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 maßgeblich für die oft tödliche Hatz auf Oppositionelle verantwortlich. Er wurde am Dienstag zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt, wegen "Kriegsverbrechen" und "Anstiftung zum Mord". Ein klarer Fall? Nicht in im heutigen Ungarn...

Béla Biszku als 92jähriger vor Gericht.

Biszku ist das erste Regierungsmitglied der Vorwendezeit, das in Ungarn verurteilt wurde. Die Sachlage ist klar, an der persönlichen Schuld des Angeklagten gibt es keine Zweifel. Dennoch wirft der Prozess eine Reihe Fragen auf, die - je nach politischem Standpunkt - in Ungarn ganz unterschiedlich beantwortet werden oder aber offen bleiben. Und es ist bezeichnend, dass man in Ungarn heute nicht einmal mehr in der Lage zu sein scheint, einen überführten Verbrecher vor Gericht zu stellen, ohne dass dabei politische Gefechte geführt werden.

Und - deutlich agiler - Anfang der 60er Jahre an der Seite Kádárs...

Es sind weder das Verfahren selbst, noch das Urteil, aber die Umstände, die zu beidem führten: Obwohl Biszkus Rolle in der Kádárzeit und bei der Verfolgung Oppositioneller bekannt war, wurde dem heute 92jährigen seit 1989 weder ein Prozess gemacht, noch ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Eine "Leistung", die die konservativen, die sozial-liberalen und die erste Orbán-Regierung seit 1989 gemeinsam vollbracht haben.

Erst 2011 begannen Ermittlungen, nachdem die Orbán-Regierung 2010, in Folge eines Dokumentarfilms über Biszku, bei dem er seinen Einsatz damals als richtig bezeichnete, ein Gesetz verabschiedete, das "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" von der Verjährung ausschließt. Das sind sie jedoch nach völkerrechtlichen Übereinkommen, die auch in Ungarn gelten, ohnehin. Außerdem stellt sich dann die Frage, warum der Mann bei einer Verurteilung wegen der Beteiligung an “Kriegsverbrechen” in diesem Ausmaß "nur" ein paar Jahre Haft erhält, während jeder Hühnerdieb und Kiffer im Wiederholungsfalle heute mit einer bis zu doppelt so langen Strafe rechnen darf. Der Staatsanwalt forderte auch “lebenslang” und ging unmittelbar nach Urteilsverkündung in Berufung.

Diese Unstimmigkeiten sind es unter anderem, die aus Sicht der Opposition den Verdacht erhärten, dass Verfahren und Urteil politischen Motiven der Orbán-Regierung folgen und sowohl der Gleichstellung der Verbrechen des Stalinismus in Ungarn mit denen des Nazismus (also der Relativierung des Letzteren) wie auch der Kriminalisierung der heutigen linken Opposition im Lande dienen sollen.

In einem weiteren Gesetz ließ die Fidesz-Mehrheit nämlich 2011 feststellen, dass die heutigen "Sozialisten" der MSZP als Nachfolger der ehemaligen Staatspartei MSZMP anzusehen seien und für deren Vergehen verantwortlich gemacht werden können. Das gleiche - die Übernahme der Verantwortlichkeiten - gelte für ihre Mitglieder (also auch solche, die u.U. 1989 noch gar nicht geboren waren). Daraufhin strich man hunderten Ex-Kadern und Stasispitzeln die Renten zusammen, verhindert aber gleichzeitig vehement eine vollständige Akteneinsicht, weil man weiß, dass es genug "Verantwortliche" dieser Art auch in den eigenen Reihen gibt. Dieses "Sozialistengesetz" sorgte auch bei neutralen Beobachtern für einiges Entsetzen, folgt es nämlich der - für die NS-Verbrechen vehement von der Nation gewiesenen - Kollektivschuldthese.

Beobachter verweisen auch auf kürzlich geführte Prozesse gegen zwei Nazi-Kriegsverbrecher (die Fälle Képíró und Csatáry, Verteidiger war jeweils ein Jobbik-Anwalt), die sich beide zwar mittlerweile durch den Tod der Angeklagten (2011 und 2013) erledigt hatten, wobei aber einer zuvor erstinstanzlich mit einem Freispruch endete, obwohl zumindest die "Mittäterschaft" dort genauso erwiesen war wie bei Biszku. Bei beiden wurden Ermittlungen erst auf internationalen Druck eingeleitet, Képíró lebte über ein Jahrzehnt unbehelligt in Budapest. Auch das eine Gemeinschaftsleistung von “Links” und Rechts in Ungarn.

 

Die Regierung verweist jeweils auf die "Unabhängigkeit" der Gerichte und empfindet das jetzt gefällte Urteil als "eine große Genugtuung" für die Opfer und ihre Nachkommen. Der Verteidiger Biszkus bestritt zwar nicht direkt die Verantwortlichkeiten in Biszkus Handeln, konnte aber aufgrund der von Fidesz geschaffenen Gesetzesgrundlage keine Basis für die Rechtmäßigkeit der Anklage erkennen, da es einen Rechtsgrundsatz darstellt, dass niemand für Handlungen bestraft werden kann, die zum Tatzeitpunkt in dem gültigen Rechtssystem nicht strafbar waren. Dieser Argumentation hatte die Regierung durch ihre retroaktive Gesetzesinitiative überhaupt erst ermöglicht, denn Mord und Anstiftung zum Mord waren auch im “kommunistischen” Ungarn strafbewährt und verjährungsunfähig und hätten auch auf dieser Grundlage behandelt werden können.

Die Staatsanwaltschaft konnte sich also - rechtsstaatlich genau - durchaus auf die damalige Gesetzeslage - oder falls nötig - auf höheres Völkerrecht beziehen können, was einen sauberen, von politischen Nebengedanken freien Prozess leicht ermöglicht hätte, doch offenbar ist ihre Unabhängigkeit nicht so vollständig, wie von der Regierung behauptet. Dass die Aufarbeitung dieser dunklen Zeit der ungarischen Geschichte, die Orbán knapp und im Duktus der Täter von anno dazumal mit der "endgültigen Ausmerzung des Kommunismus" bezeichnet, wieder zu Instrumentalisierungen genutzt wird, darin wird wohl kaum ein Opfer oder sein Nachfahre eine echte Genugtuung finden können.

Die neonazistische Jobbik begrüßte das Urteil - gegen den jüdischstämmigen Biszku, wie die Anhängerschaft gern hervorkehrt - überschwänglich und will in der “konsequenten Verfolgung kommunistischer Verbrechen” durch die Orbán-Regierung die Umsetzung von ”Jobbik-Politik” erblicken.

red., m.s.

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