THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 23 - 2014 NACHRICHTEN 02.06.2014

 

Die Entmündigung der Budapester: Regierungspartei in Ungarn formt Stadtparlament zum Ständerat um

Die Wahlen am 6. April waren ein Warnschuss, in 8 der 18 Budapester Wahlbezirke holten linke Kandidaten die - vorerst relative - Mehrheit. Mit einem hemmungslosen Eingriff in demokratische Grundprinzipien, einem weiteren Putsch von Oben, will Orbán dem verhassten liberalen Sumpf in Budapest dauerhaft den Garaus machen. Statt eines Stadtparlamentes schwebt FIDESZ ab Herbst ein Rat der 23 Bezirksbürgermeister plus zwei handvoll Alibi-Mandate vor, - ein ständisch strukturiertes "Oberhaus".

Formen sich Budapest nach ihrem Bilde... OB István Tarlós und sein Chef.

Neben den 23 Bezirksbürgermeistern sollen ab Oktober 2014 lediglich noch der Oberbürgermeister sowie neun weitere Listenkandidaten Sitze im neuen Stadtrat bekommen, der dann in Summe 33 Abgeordnete haben soll, die über 1,7 Mio. Budapester vertreten, so erklärten es die beiden Fidesz-Größen Lajos Kósa und Antal Rogán, immerhin der Fidesz-Vizechef und Bürgermeister von Debrecen (?!) sowie der Fidesz-Fraktionschef im nationalen Parlament. Das neue System sei "effizenter und demokratischer". Punkt.

Die Verkleinerung an sich ist dabei nicht das Problem, sondern die Struktur: zunächst vertreten Bezirke zuerst ihre eigenen Interessen, nicht vorrangig jene, die ganz Budapest betreffen. Stadtentwicklungsprojekte, die über einzelne Bezirke hinausgehen, werden daher aus dem Blickwinkel der Interessen bzw. des Benefits der einzelnen Bezirke bewertet und beschlossen,  - oder eben blockiert.

Ein "Reicher" ist in Orbáns neuer Hauptstadt so viel wert wie sechs "Arme"

Der Hauptgedanke hinter der Finte ist jedoch - wie stets bei Fidesz - machtstrategischer Natur. Man geht zurecht davon aus, dass in den sozial besser gestellten Bezirken, in denen ein größerer Teil vom ständischen System der Orbán-Regierung (z.B. Flat tax) profitiert, von den Fidesz-Kandidaten im Herbst gehalten werden können, während, wie die Direktwahlerfolge am 6. April zeigen, als acht der 18 Budapester Wahlbezirke von Linkskandidaten geholt wurden, ärmere, aber dafür umso bevölkerungsreiche Bezirke eher an die Linke fallen könnten, - vorausgesetzt, und danach sieht es derzeit ohnehin nicht aus, diese wird sich wieder zu einer Wahlallianz durchringen.

Der Wählerwille der meisten Budapester wird nach dem neuen Modus auf diese Weise ausgeschaltet. Denn durch die Mandatsvergabe über die Bezirkschefs ist eine Stimme aus einem einwohnerschwachen Bezirk wie z.B. dem I., II., XII. oder V. mitunter doppelt, sogar dreifach so viel Wert wie eine Stimme z.B. aus dem VIII., XIII. oder X. Bezirk. Am extremsten sticht der Unterschied zwischem dem I. Bezirk (Burgviertel) mit rund 25.000 Einwohnern gegen den XI. (Újbuda) mit fast 140.000 Bewohnern heraus, das Verhältnis beträgt hier also fast 1:6. Es spiegelt in etwa auch das Wertverhältnis, das die ständestaatliche Ideologie "Leistungsträgern" auf der Einen und dem Mob auf der anderen Seite zugesteht. Immerhin kann man die Menschenverachtung in Orbánistan endlich einmal beziffern.

So viel rot gibts sonst nur im kommunistischen Westen. Den Ausgang der nationalen Wahlen in Budapest fand Orbán offensichtlich gar nicht witzig.

Der Oberbürgermeister wird gleich mitentmachtet

Nicht ganz nebenbei untergräbt Orbán auf diese Weise auch die Stellung des Oberbürgermeister, der sich nicht mehr, wie bisher auf seine städtische Parteistruktur als Hausmacht stützen kann, sondern nur noch als Moderator von Bezirkshäuptlingen fungiert, bei denen er sich dann wie auf dem Jahrmarkt Kompromisse für gesamtstädtische Projekte zusammenkaufen darf. Die Animositäten zwischen den gleich eitlen und machtbesessenen Orbán und OB Tarlós sind seit langem bekannt, klar, wer den Kürzeren zieht. Aber auch für einen Machtwechsel sorgt das neue System vor. Viele kleine Fidesz-Bezirkskaiser können sogar einen Sozi (wovor Gott und Istváns Rechte sein möge) auf dem OB-Sessel blockieren.

Vertretung von Minderheiteninteressen entfällt

Kleinere Parteien brauchen bei dieser Konstellation eigentlich gar nicht erst antreten, denn die natürliche Schwelle zur Erringung eines der neun freien Mandate wird dann zweistellig. Somit entfällt auch die Vertretung von Minderheiteninteressen, also z.B. nervige grüne Anliegen, alternative Kultur und anderer Quatsch, der Ungarn nur auf seinem Weg ins nationale Paradies aufhalten könnte. Fidesz hingegen erzwingt praktisch die ihr genehme Blockbildung. Denn ist das links-liberale Lager dazu gezwungen, sich zu einen, um im neuen System überhaupt eine Chance auf Vertretung zu haben, muss es solche Figuren wie Gyurcsány zwangsläufig mit aufnehmen, was wiederum das potentielle Protestpotential, für das dieser unwählbar bleibt, auf die rechte Seite an Jobbik bindet oder der Wahl fern bleibt. Fidesz ist Beides lieber als eine Stimme links von ihm.

Die Budapester sind schon lange nicht mehr die Herren in ihrem Haus...

Doch selbst, wenn die Systemumstellung noch nicht genügt, hat die Zentralregierung bereits mehrfach gezeigt, wie man mit lokalen oder städtischen Belangen umgeht: die
Margareteninsel, Teil des XIII. (einzigen rot regierten) Bezirkes wurde kurzerhand verstaatlicht, um dort "Entwicklungsprojekte" voranzubringen, den Bruch auch internationalen Rechts (die Konvention des Europarats über die kommunale Selbstverwaltung sieht bei so etwas ein Referendum vor...) nahm man kalt lächelnd in Kauf. Ebenso verfuhr man mit der Schiffsbau-Insel, die man, nachdem ein ausländischer Investor mit seinem idiotischen "Trauminsel"-Projekt gescheitert war, nicht etwa an den Bezirk zurückgab, sondern dem Staat einverleibte. Auch die notwendigen (Grün)-flächen des Stadtwäldchens, die man für die Errichtung der "Kulturhauptstadt Hungária", wie man das neue Museumsquartier nur bezeichnen kann, nötig erschienen, requirierte man einfach im "nationalen Interesse". Gerichtliche Einsprüche überging man mit "Gesetzesanpassungen".

Ob ein Skigebiet auf dem 320 Tage im Jahr schneefreien Normafa, die Enteignung der Betreiber der
Zitadelle auf dem Gellért-Berg, die Schließung des kinderfreundlichen und kulturhistorisch einmaligen Vidám-Vergnügungsparks oder die Errichtung eines Olympia-Zentrums auch ohne Olympia oder neuer Großstadions, ob im Weltmaßstab oder nur zum Vergnügen der Fidesz-Fußballmafia, die Budapester Bevölkerung wird längst nicht mehr gefragt, wie ihre Stadt aussehen soll, geschweige denn gehört sie den Budapestern noch. Dass die No-Go-Areas für Obdachlose praktisch die gesamte Innenstadt umfassen und - von der Verfassung gestützt - die Obdachlosigkeit per se als Straftat behandeln, ist in diesem Zusammenhang nur konsequent.

Arbeitsfaule nennen so etwas “Street Art”. Hätten Sie die 2/3-Mehrheit nennten Sie das “Frechheit”. Und solche Leute sollen über die Hauptstadt aller Ungarn bestimmen dürfen?

Einspruch vor Verfassungsgericht geplant - aber sinnlos

Der Umstand der Ungleichstellung von Wählerstimmen in der neuen Regierungsstruktur für Budapest ermutigt die Opposition, gegen das Vorhaben vors Verfassungsgericht zu ziehen, um den Versuch des
erneuten konstitutionellen Putsches von Oben dort für nichtig erklären zu lassen. Die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht, allerdings ist aus der Vergangenheit bekannt, dass die Regierungspartei nicht zögern wird, ihren Willen notfalls durch eine Verfassungsänderung durchzusetzen.

Dass auch dieser neuerliche Puzzlestein des Demokratieabbaus in Brüssel keine spürbare Gegenbewegung hervorrufen wird, obwohl hier wiederum Grundrechte des Souveräns angegriffen und Grundrechtsverstöße erneut in Verfassungsrang gehoben werden, davon kann angesichts der Paktiererei der konservativen "Demokraten" ausgegangen werden, die sich dann auf "Nichtzuständigkeit" berufen.

Andersartiges "vernichten"

Neben Budapest grassiert das "liberale Virus" derzeit lediglich noch in Szeged, wo einer der heißen Kandidaten für den vakanten MSZP-Vorsitz László Botka als Bürgermeisters ausharrt und in einem Wahlbezirk in Miskolc. Das "rote Budapest", das 2010 überhaupt nur durch die Uneinigkeit der demokratischen Opposition und die grenzenlose Borniertheit der sozialliberalen Platzhirschen in orange umgetüncht werden konnte, es ist noch nicht geschlagen. Das subversive Potential der Stadt schwieg 2010, verschwand aber nicht. Dieses, den Fidesz-Nationalisten nicht nur suspekte, sondern im Grunde verhasste Budapest der Alternativen, Intellektuellen, Freiheitsliebenden oder - aus aktuellem Anlass - diese "Schwulenlobby" (Orbáns "Kultur"-Beauftragter Kérényi) schlicht: das Budapest der Anderen, ist ein Dorn im Fidesz-Auge und auf der politischen Landkarte.

Wie alles bei Fidesz bekommt die Aktion "Entmündigung der Budapester" so nicht nur eine politische, sondern auch eine emotionale Dimension. Dieses "Andere" nämlich, gehört, wie sagte das Orbán so deutlich über die Linke und meinte damit alles Nicht-Nationalistische allgemein: "dauerhaft vernichtet" oder ist zumindest nicht mehr Teil der Nation.

red., cs.sz., m.s.

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