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(c) Pester Lloyd / 42 - 2014 BOULEVARD 16.10.2014

 

Wenn der Teufel Feder führt: Ist der Kardinal aus Ungarn ein Fall für die Heilige Inquisition?

Kardinal Péter Erdő hat sich bei seinen Amtskollegen während der vatikanischen "Familiensynode" äußerst unbeliebt gemacht. Ausgerechnet der Oberkatholik aus Orbáns Bollwerk des christlichen Europas, muss sich vor den Katholiban der Welt als liberaler Unruheherd im Reich immerwährender Wahrheiten verteidigen. Wie konnte das passieren, wo doch in seinem Heimatland gerade das Himmelreich ausbricht? Eine Absolution.

Kardinal Péter Erdő verärgert die Hardliner im Vatikan.

Erdő ist derzeit sozusagen als Schriftführer eingeteilt, bei der im Vatikan abgehaltenen bischöflichen "Familiensynode" mit dem inoffiziellen Arbeitstitel: "Sex, Drugs and Rock`n`Roll". Dabei sollen 120 Bischöfe und Kardinäle ventilieren, wie die kirchliche Lehre so an die Lebenswirklichkeit anzupassen sei, dass man die Schafe bei der Herde behält, auch wenn sie mitunter kopulieren wie die Karnickel - und ohne dabei "immerwährende Wahrheiten" oder "das Wort Gottes" zu verraten.

Im Vorfeld gab es dazu lustige Umfragen in den Gemeinden der Welt, u.a., ob denn vorehelicher "Verkehr" tatsächlich ein Thema sei. Ja, "flächendeckend" blöckte es zurück. Weitere Themen waren, wie man mit Homosexuellen und deren Ansprüchen auf Kindererziehung umgehen wolle und anderen Themen, zu denen die Kirche weder eine Expertise aufweist, noch irgendeine Zuständigkeit hat.

Bei der Vergabe der heiligen Sakramente, also einer rein vereinsinternen Angelegenheit, an Geschöpfe, die den heiligen Bund der Ehe zuerst verraten haben (Scheidung), um ihn dann nochmals einzugehen, schon da scheiden sich die geistlichen Geister. Man kann sich vorstellen, dass das Erstaunen unter den Hirten über sonstige "Realitäten" der profanen Welt nicht gering und der Widerstand unter den Anhängern der reinen Lehre entsprechend stärker ist.

Erdö, der beim letzten Konklave als halbwegs papapible, ja Geheimfavorit galt, scheint sich bei seinem Chef ("Wer bin ich, um über Homosexuelle zu urteilen...") offenbar beliebt machen zu wollen, denn das Protokoll von der ersten Sitzungsperiode enthält fast nur - für vatikanische Verhältnisse - nach vorne - also ins richtige Leben - weisende Aspekte der Debatte.

Da ist die Rede von "mutigen pastoralen Schritten", die man angehen müsse, ja Homosexuellen sollte man einen warmen, "brüderlichen Platz" in den Gemeinden "anbieten". Zwar könne man, so stehts im Bericht, nie und nimmer eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft als Ehe anerkennen, doch hätten auch diese "andersartigen Beziehungen" "Gaben und Qualitäten", ja "positive Aspekte".

 

"Unwürdig, schändlich, vollkommen falsch" - sei Erdös Zwischenbericht, tönt es vom deutschen Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Chef der Glaubenskongegration, formerly known as "Inquisition" und damit sozuagen geistiger Erbe Ratzingers. Erdö hätte "alle Stimmen", die gegen die Liberalisierungen seien und damit "das Wort Gottes" und die "Anweisungen Jesu` in der Heilgen Schrift" verteidigten, schlicht unterschlagen. Ihm sprang sogleich der Pole Gadecki bei, er habe in dem Bericht "Spuren einer gegen die Ehe gerichteten Ideologie" gefunden. Und fasst zusammen: dass man bestimmte "Sonderfälle" zwar diskutieren könne, sie aber nicht als Teil der "Wahrheit" darstellen dürfe, die "sich nun einmal nicht verändern lässt." Amen.

Erdö und sein “Parteisekretär” Semjén.

Erdö sind solche Töne nicht unbekannt, denn es ist die heimatliche Melodie. Zu Hause in Ungarn werden diese Choräle nicht nur von seinen Priestern, sondern vor allem vom politischen Arm der katholischen Kirche, der KDNP, ein Anhängsel von Orbáns Fidesz verbreitet.

Zuletzt erregte sich die Pressestelle der Partei, dass der ungarische Fußballverband aufgrund bestehender EU-Antidiskriminierungsregeln Familien-Stadion-Abos auch an eingetragene Partnerschaften gleichen Geschlechts vergibt. "Bestürzt" war man. Man generierte EU-Mittel unter falscher Flagge, um damit in einer Plakatkampagne Frauen, die - warum auch immer - abtreiben, in aller Öffentlichkeit zu beleidigen. Mehr noch: KDNP-Chef und Vizepremier Semjén, quasi als katholischer Glaubensminister eingeteilt, nannte Homosexualität erst kürzlich wieder eine "abartige Lebensweise". Teilnehmer der Budapest Pride empfiehlt die Partei “Behandlung” und setzt Schwule mit Kinderschändern gleich. Die das betreffenden Verhältnisse in Ungarn unter Orbán changieren derzeit irgendwo zwischen Vatikan, Russland und Mittelalter.

Der frömmelnde Politkommissar Semjén, als Präsident des Jagdverbandes auch "Reichsjägermeister", sorgt u.a. dafür, dass die Klassenfahrten ungarischer Schüler nicht mehr an den Balaton gehen, sondern an "Wallfahrtsorte des Ungarntums", also ins rumänische Siebenbürgen, wo man mit Klosterbrüdern am Lagerfeuer transpiriert.

Reconquista orbána

Während Semjén also Anführer der ungarischen Katholiban ist, haben die Reformierten bzw. Kalvinisten mit Orbán selbst und dessen Ministerpfarrer Balog ihre Cheflobbyisten ganz im weltlichen obersten Stockwerk sitzen. Seit 2010 betreiben die Drei einen Kniefall vor dem Klerus, eine regelrechte Reconquista, in einem Land, dessen Volk immer säkularer wird, 20 Prozentpunkte ging seit der Wende das Bekenntnis zu einer Religion zurück, - trotz wieder steigender Armut und Zukunftsängsten, die gleichermaßen Nährboden für Extremisten wie Seelenquacksalber aller Ausprägungen sind. Dabei orientiert man sich an den 3G des Herrschens: Geld - Gesetz - Glaube.

Unterm Ratzinger hätts sowas nicht gegeben... Orbán mit Papa Ratzi...

> Die beiden großen Kirchen wurden quasi wieder zu Staatskirchen aufgemöbelt, auch mit einem neuen Kirchengesetz privilegiert, das vom eigenen Verfassungsgericht wie von EU-Kommission und EuGh der Bannstrahl ereilte.

> Die beiden großen Kirchen erhielten Ländereien und "Schadensersatz" für von den "Kommunisten" Enteignetes, sind Exklusivpartner des Staates bei der Vergabe von Mitteln für das Hospizwesen, die Obdachlosen- und Armenhilfe. 2013 hat Orbán 15 Mio. EUR Fremdwährungskredite aus der staatlichen "Privatschatulle" getilgt.

> Katholische und Reformierte Kirchen erhalten unompliziert Kreditlinien zur Kofinanzierung von EU-finanzierten Renovierungs- und Restaurierungsprojekte und sogar billiges Pachtland aus dem sonst für Fidesz-Günstlinge reservierten staatlichen Bodenfonds. So werden Kircheneinheiten immer häufiger zu mächtigen und steuerprivilegierten ökonomischen Playern in ihren jeweiligen Regionen - auch zum Nachteil alteingesessener Bauern, die sich plötzlich in feudalen Abhängigkeiten wiederfinden, die man seit den Árpáden nicht mehr hatte.

> Erst
kürzlich hat Semjén dafür gesorgt, dass der Staat quasi durch die Hintertür eine konfessionsunabhängige Kirchensteuer einführt. So wird den privilegierten Kirchen die Differenz zwischen 1% aller Einkommenssteuereinnahmen und jenem Teil, der von den Steuerzahlern freiwillig abgeführt wird, nachgezahlt.

Zum Dank für diese Aufwertung, resp. "Rückeinsetzung in die historischen Rechte", lässt Erdö seine Priester die Gläubigen in den Gemeinden recht deutlich ausrichten, wem sie Gehorsam schulden und wen man des Seelenheils zuliebe lieber nicht wählen sollte. Ab und an finden sich auch katholische Pfarrer, die in der Adventszeit von den Jobbik-Nazis errichtete Straßenkreuze segnen. Immerhin, hier ging Erdö dazwischen. Dieses Feld überlässt man in Ungarn doch lieber den Kalvinisten.

Kinder als zentrale Zielgruppe

Den größten und damit gefährlichsten Einfluss aber erhalten die Kirchen in Ungarn seit einigen Jahren im Bereich des Pflichtschulwesens. Waren es bis 2010 nur ein paar Dutzend, 2011 schon 450, betreiben die beiden großen Kirchen, voran die katholische bereits über eintausend Schulen, die vom staatlichen Schulamt KLIK aus den Händen der Kommunen gerissen und an den Klerus übergeben wurden. KLIK ist mit der aufgetragenen Zentralisierung von Anfang an völlig überlastet, die erste Chefin hat bereits hingeschmissen, Gelder verflüchtigen sich, bei Lehrplänen und -materialien herrscht babylonisches Chaos, Lehrer werden mit "Karrieremodellen" zum Gehorsam gezwungen, doch Ruhe bekommt man nicht hinein.

Da ist man froh, dass man immer mehr Schulen an einen Träger abgeben kann, der außerhalb fast jeder Kontrolle stehende Strukturen führt, jahrhundertelange Erfahrung in vertikaler Machtausbüung besitzt und bei dem vor allem keine Gefahr besteht, dass sich die Schüler mit dem Virus der freiheitlichen Selbstbestimmtheit und anderen Zivilisationskrankheiten anstecken.

Die reine Lehre verschwimmt, aber die Kirche behält Oberwasser

Der zentralstaatliche Pflichtlehrplan, das "Nationale Curriculum", gilt auch dort, einschließlich Lehrbüchern mit Texten offen antisemitischer Blut-und-Boden-Schriftsteller, der Verkündigung der Homosexualität als "Todsünde", Brandpredigten gegen die westliche Dekadenz. Gebete morgens, mittags und nachmittags, sind - je nach Direktor - auch an staatlichen Schulen Gang und Gäbe und am "Tag der Einheit des Ungarntums", an dem landesweit an den Schulen die "Allungarische Hymne" gesungen und Brot aus dem Korn aus allen Trianon-Gebieten gesegnet und verspeist wird, verschwimmt die katholische Lehre mit der auferstehenden Rassentheologie einer heiligen Vorsehung für das Magyarentum.

Kriminelle Traditionen

Bereits mehrfach haben Gerichte die Segregation von Romakindern und sogar die Einrichtung eigener, von den "normalen" abgetrennten Romaschulen - auch und gerade unter kirchlicher Trägerschaft - als Rechtsbruch abgeurteilt. Die Richter fanden dabei sehr klare Worte und brandmarkten diese Praxis als ein Erziehungskonzept, das die Menschen in zwei Klassen teilt - noch unchristlicher kann es eigentlich nicht sein. Allerdings, das Bestreben, "ungehobelten Wilden" christliche Tugend - und was immer man damit alles meint - einzutrichtern - hat bekanntliche eine lange, grausame und kriminelle Tradition bei der Truppe mit dem Kreuz. Ministerpfarrer Balog sorgte durch Gesetzesänderungen dafür, dass die gerichtlich beeinspruchte Praxis als "Teil der Förderung im Rahmen der nationalen Romastrategie" im Nachhinein legalisiert wird und echauffiert sich über die Unmenschen, die diese Art der Nächstenliebe nicht begreifen können.

Am Anfang war das Wort...

 

Großinquisitor Müller mag all so beruhigt sein. In Erdös Gefilden läuft alles nach Gottes Plan, auch wenn hie und da nicht immer nach der reinen Lehre. Doch besser irgendwelchen Mist glauben, als in der ewigen Verdammnis der Ungläubigen untergehen. Oder nicht? Vielleicht hat dem Kardinal bei dem verunglückten Bericht an diesen eigenartigen Papst der Teufel Ehrgeiz die Feder geführt, ihn die pathologische Beflissenheit (s)einem Führer gegenüber übermannt, - doch ein Abweichen vom Pfad katholischer Prinzipientreue ist bei diesem Mann gewiss nicht zu befürchten.

Immerhin befindet er die Realität liberaler Gesellschaften eine "systematische Christenfeindlichkeit", wacht die “Heilige Rechte” über die Treue zum Glauben und kommt er doch aus dem einzigen Land Europas, in dem die Verfassung mit einem "Nationalen Glaubensbekenntnis" beginnt und "Gott" das erste Wort ist, dem man höchstens noch ein "Oh!" voranstellen könnte.

red. / m.s.

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