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(c) Pester Lloyd / 04 - 2015   POLITIK   19.01.2015

 

Orbán im Interview: "Es gibt keine Auswanderung" aus Ungarn

In der ihm eigenen Logik erklärte Premier Orbán am Sonntag im Kossuth Rádió Behauptungen für "absurd", die von einer "Auswanderung" aus Ungarn sprechen. Es sei eher eine Art ökonomischer Tourismus, behaupet der Premier schlicht. Auch bei der Beschimpfung von Flüchtlingen als quasi organisierte Kriminelle fährt er eifrig fort und vergisst nicht seinen Sieg über den Schweizer Franken zu feiern.

“Da wir in der EU in einer Wirtschaftsgemeinschaft, also einem Binnenmarkt leben”, könne man, wenn ungarische Bürger nach England oder Deutschland zum arbeiten gingen, “nicht von Auswanderung” sprechen. Es handele sich viel mehr um "eine Bewegung auf ökonomischem Gebiet in gegenseitigem Einverständnis", genauso wie es "bei Touristen ist". Jede Bemerkung über "Auswanderung" sei hier "absurd."

Orbáns Logik ist politpsychologisch irgendwo zwischen Ulbrichts “Niemand hat die Absicht...” und Comical Alis Ausspruch angesiedelt, dass die “US-Eindringlinge weinend an den Mauern Bagdads Selbstmord begehen werden”, während im Hintergrund bereits die US-Panzer durch die Straßen fuhren: Seit 2010 haben rund 600.000 Menschen (offiziell 550.000) das Land verlassen. Zwar gab es Auswanderung aus ökonomischen Gründen auch schon zuvor, u.a. forciert durch die Wirtschaftskrise seit 2008/09, doch war diese, auch wegen noch bestehender Zugangsbeschränkgungen, deutlich geringer als in den Jahren danach. Der massive Anstieg seit 2010/2011 ist vor allem durch eine selektive und chaotische Wirtschaftspolitik begründet, die eine echte Wende am Arbeitsmarkt verhinderte. Die Statistiken der vergangenen Jahre belegen, dass die ungarischen Auswanderer immer jünger werden und es sich bei den meisten von ihnen um qualifizierte Fachkräfte und Studierte handelt, die für sich kein Auskommen in Ungarn finden. Auch die Rückkehrwilligkeit hat rapide abgenommen.

Mehr zum Thema:
Die große Flucht: Deprimierende Zahlen und Hintergründe zur Auswanderung aus Ungarn

Die einzigen "Jobs", die Ungarn massenhaft schuf, waren Kommunale Beschäftigungsprogramme für mehr als 300.000 Menschen, die nur rund die Hälfte des "gesetzlichen" Mindestlohnes erhalten. Mit Nachlässen bei den Arbeitgeberanteilen an den Lohnkosten hält man zudem rund 800.000 Stellen in der freien Wirtschaft künstlich am Leben, weitere 700.000 öffentlich Bedienstete binden zusätzlich Steuermilliarden, erforderliche, strukturelle Reformen blieben hier aus, mindestens 200.000 dieser Stellen könnte man zu Gunsten freier Gelder für echte Wirtschaftsförderung einsparen.

Orbán mochte in diesem Zusammenhang auch nicht erklären, warum die von ihm behauptete "Gegenseitigkeit" nicht Hunderttausende Deutsche oder Briten oder wenigstens Rumänen nach Ungarn zieht und warum seine Regierung sogar mit dem Mittel der Verfassung versucht, ungarische Hochschulabsolventen mit Knebelverträgen an die Heimat zu binden.

Dass die halbe Million Menschen, die Ungarn als Wirtschaftsflüchtlinge verließ nicht als "ausgewandert" eingestuft werden, ist auch an der Beschäftigungsstatistik ablesbar, denn alle, die noch einen Wohnsitz oder eine steuerliche Veranlagung in Ungarn haben, werden dort als "Beschäftigte" geführt, was auch zu dem statistischen Jobwunder beitrug, für das sich die Regierung seit Monaten ganz ohne Grund feiert (danach ging die Arbeitslosenquote seit 2012 von damals 12 auf jetzt unter 8% zurück).

In seinem Radiointerview fuhr Orbán auch mit seinem
Flüchtlingsbashing fort, in dem er - anhand der massiv gestiegenen Asylantenzahlen - unterstellte, dass unter den Flüchtlingen "viele von Anwälten geschulte Leute" seien, die "genau wüssten, wie man illegal Grenzen überschreitet und Asylverfahren in die Länge zieht." Ungarn sei zwar ein "christliches Land", das "Mitleid" mit wirklich politisch Verfolgten habe, wolle aber allen anderen "Fremden" klar machen, dass man ihnen hier keine Existenz ermölichen wird.

Ungarn verweigere sich dem "Zwang, zur politisch korrekter Sprache" (etwas, worauf man sich bei jeder Gelegenheit unheimlich viel einbilidet), wie er angeblich in Europa herrsche und sage die "Wahrheit": Ungarn will kein Ziel für Einwanderung werden. (Die Zahl der Asylanträge stieg in Ungarn binnen zwei Jahren um das Zehnfache auf zuletzt 42.000, davon blieben jedoch lediglich 500 Menschen in Ungarn). Man müsse Brüssel daher zwingen, die gemeinschaftlichen Regeln zu ändern (Orbán fordert in Fakt einen "totalen Einwanderungsstopp"). Mehr zum ungarischen "Einwanderungsproblem" sowie der tatsächlichen Regierungspolitik in diesem aktuellen Beitrag.

 

Im Weiteren kostete Orbán in dem Radiogespräch den Sieg seiner "unorthodoxen" Politik bei den Forex-Krediten aus, er habe "Entscheidungen zu Gunsten der Menschen gegen die Banken getroffen", man habe hier sehr "tapfer gehandelt", vor allem sei der Nationalbank von György Matolcsy Dank geschuldet, mehr noch als dem Parlament, denn er habe durch den promten Umtausch der Forex-Kredite in Forint (unter Einsatz der Devisenreserven) den Geist des Forex-Umtauschgesetzes mit Leben erfüllt und so auch den Banken weitere Verluste erspart.

Erste Reaktionen waren entsprechend: die Oppositionsparteien bezeichneten Orbán in einer Aussndung am Sonntagabend als einen "Lügner". Fast alle Ungarn, die ihr Land verlassen haben, mussten das tun, weil sie zu Hause ihre Existenz nicht sichern können. Orbáns andauernde "fremdenfeindliche Hetze" würde außerdem die
Feierlichkeiten im Gedenken an die Befreiung des Budapester Ghettos beschmutzen.

red.

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