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(c) Pester Lloyd / 20 - 2015   POLITIK     12.05.2015

 

Die Betrogenen: Krankenpfleger in Ungarn proben den Aufstand

Rund 10.000 Mitarbeiter des ungarischen Gesundheitswesens, vor allem Pflegerinnen und Pfleger, hielten am Dienstag in Budapest eine Großdemonstration ab. Sie wird kaum die letzte sein. Die Gesundheitsarbeiter wurden von der Regierung kalt lächelnd betrogen und gedemütigt, beim Gehalt, den Arbeitsbedingungen oder, ganz aktuell, der Handgeld-Regelung. Schlagabtausch auch im Parlament.

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Zwei Demozüge, einer vom Budapester Heldenplatz, der andere von der Kettenbrücke, vereinigten sich am Dienstagnahcmittag zum Protest vor dem Ministerium für Humanressourcen in der Arany János, dem auch die Gesundheit untersteht. Es war der größte Aufmarsch einer einzelnen Berufsgruppe seit den Studentenunruhen vor drei Jahren und den Demos der öffentlich Bediensteten 2011.

 

Die Organisatoren, Gewerkschaften und Interessensverbände, nennen den kurzfristig organisierten Aufmarsch einen "Aufschrei um Hilfe" für "bessere Arbeitsbedingungen", ein "Einkommen, von dem man leben kann", die "Heilung des Gesundheitssystems", damit es seiner Aufgabe, eben der Heilung, nachkommen könne.

Man sei tief enttäuscht und "hoffnungslos" von den großen Ankündigungen der Regierung hinsichtlich Gehaltserhöhungen und Schaffung neuer Stellen, auch die angekündigte Verbesserung der beruflichen Fortbildung sei ausgeblieben.

Als demütigend empfinde man zudem die Legalisierung des "Handgeldes", das die Gesundheitsarbeiter so quasi zu Bettlern mache, die man auch noch ins schiefe Licht der Bestechlichkeit rücke. Die Regierung sende damit die Message aus, die Mitarbeiter des Gesundheitswesens sollten selber sehen, wie sie zu ihrem Geld kommen.

Wie viele Fußballstadien müssen noch gebaut werden, bis man auch an das Gesundheitswesen denkt, lautete eine der Fragen, die ziemlich deutlich die Prioritätensetzung der Orbán-Regierung anprangert.

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Die demonstrierende Pflegekräfte - sie kamen aus allen Ecken des Landes - erhalten bei ihren Protesten die Solidarität ihrer Kollegen, sowohl die Ärztekammer als auch die Vereinigung Niedergelassener Ärzte und die Gewerkschaft des medizinisch-technischen Personals unterstützen die Forderungen voll und ganz und kündigten demnächst gemeinsame Aktionen an.

Eine Delegation überbrachte die Liste der Forderungen dem Parlament, wo zeitgleich ein Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition stattfand.

Der zuständige Staatssekretär, Bence Rétvári (KDNP), verteidigte die Regierungspolitik seit 2010 und meinte, die "Sozialisten" hätten die niedrigen Gehälter im Gesundheitswesen wegen ihrer Haushalts- und der Wirtschaftkrise 2008 um 8% gesenkt, während die "heutige Regierung sich bemüht, sie zu erhöhen", dafür seien im nächsten Haushalt 15 Mrd. Forint (rund 50 Mio. EUR) für 43.000 Krankenpfleger und 17.000 Ärzte vorgesehen.

Rechnen wir einmal nach: Das wären dann rund 70 EUR mehr im Monat pro Person, wenn alle gleich viel bekämen. Nach dem bisherigen Verteilungsschlüssel, der Ärzten deutlich mehr Gehaltszuwachs zugesteht als Pflegekräften, würde bei Letzteren monatlich so maximal 10-12 EUR pro Monat mehr hängen bleiben, brutto, versteht sich.

Hinzu kommt, dass es unter den "Sozis" für geringe Einkommen noch einen Steuerfreibettrag gab, der seit der Flat tax entfällt und die Verbrauchssteuern niedriger und wenigere waren. Tatsächlich erhält man heute im unteren Einkommenssegment also deutlich weniger Netto als noch vor 5 Jahren, während die höheren Einkommensgruppen zweistellige Zuwächse verzeichneten.

20retvari (Andere)Somit wurden auch die von der Regierung Orbán umgesetzten Gehaltserhöhungen - die ohnehin sehr niedrig, über Sondersteuern finanziert und sehr selektiv waren - durch steuerliche Maßnahmen derselben Regierung wieder aufgefressen.

Gleichzeitig gelang es durch an die die Gehaltserhöhungen geknüpfte "Karrieremodelle" die Berufsgruppen zu spalten, Tarifverträge zu sprengen und Regionen wie Fachbereiche gegeneinander zu hetzen. Auch gegen diesen Betrug und inszenierten Verteilungskampf gehen die Betroffenen nun auf die Straße, um der Regierung Einheit zu demonstrieren.

Richtig ist indes, dass das Gesundheitswesen, anders als z.B. in Tschechien, von allen Nachwenderegierungen Ungarns grob vernachlässigt worden ist.

Stolz verkündete Staatssekretär Rétvári (Foto) noch, dass die Zahl der Ärzte, die ins Ausland abgewandert sind "von 1.200 pro Jahr vor vier Jahren auf 948 im Vorjahr" gesunken sei. Das war das passende Stichwort: "Na klar", tönte die Opposition hämisch zurück, "es gibt kaum noch welche, die gehen könnten". Rétvári, der als fachlich völlig überfordert und reiner Vertreter der Interessen seiner christlich-fundamentalistischen Kleinpartei gilt, fasste auf ganzer Linie heftige Kritik ab und unterließ zum Schluss sogar Erwiderungen.

Das ganze als "Gesundheitsreform" benannte Konstrukt sei eine einzige Lüge gewesen, der Regierungspartei ging es nur darum, die Krankenhäuser zu verstaatlichen, um lukrative Zulieferaufrtäge (Medikamenten-Handelsmonopol, Catering, Sicherheitsdienste, Wäscheservice, Fahrtendienste etc.) an Günstlinge vergeben zu können. Ansonsten lasse man die Krankenhäuser und das Gesundheitssystem insgesamt "am Tropf verdorren".

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Je nach Rechnung fehlten, so die Einschätzung von Fachleuten, 3.000 bis 4.000 (MEZP sagt 6.000, Jobbik meint 10.000) Pflegekräfte, was bedeutet, dass die bestehenden für das gleiche Geld mehr leisten müssten und am Rande des Zumutbaren tätig seien. Laut Zentralamt für Statistik, rechnte Lajos Kórozs von der MSZP vor, verdient eine "Krankenschwester im Monat im Schnitt 97.000 Forint (317 EUR) - brutto!", selbst nach 40 Berufsjahren bleibt dieses Einkommen noch unter 160.000 Forint monatlich.

 

Vertreter der LMP und anderer liberaler Kleinparteien nannten das Thema ein "brennendes Problem", der Sektor steht - einmal mehr - kurz vor dem Kollaps. Es fehle an allem: an Personal, medizinischer Ausrüstung, in manchen Regionen sogar an Medikamenten. In dieser Lage falle Kanzler Lázár nichts Besseres ein als den Bau eines neuen "Mega-Krankenhauses" anzukündigen, was noch mehr Ressourcen in die Hauptstadt zieht und die Probleme bei der Versorgung auf dem Lande verschärft. Der Bau dieses Prestige-Projektes ist übrigens auf dem Gelände einer alten Klinik in Óbuda geplant. Selbst der dortige Fidesz-Bürgermeister, für dessen Bezirk das Projekt natürlich ein Gewinn wäre, würde darauf lieber verzichten, "zu Gunsten von Investitionen ins gesamte Gesundheitssystem"...

Mehr zum
Zustand des Gesundheitswesens und zur Gesundheitspolitik erfahren Sie in diesem Beitrag bzw. in den darunter stehenden Links

red. / cs.sz.

 

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