(c) Pester Lloyd / 03 - 2012
NACHRICHTEN 15.01.2012
Die Liste wird länger
Die EU untersucht noch mehr neue Gesetze aus Ungarn
Weil man gegen den umfassenden und allgemeinen Rechtsstaatsabbau und die antidemokratische Politik der Orbán-Regierung kaum ebenso allgemein wirksame
Instrumente hat, checken Brüssels Beamte unter Hochdruck die vielen neuen ungarischen Gesetze auf Regelverstöße. Nun wird auch das Arbeitsrecht und die
Steuergesetzgebung neu aufgerollt. Jede finanzielle Sanktionierung Budapests hat aber einen Pferdefuß...
Fast zärtlich - zumindest dem Anschein nach - war früher die Beziehung zwischen
EU-Kommissionspräsdient Barroso und Premier Orbán. Das hat sich geändert.
Im Zentrum der Kritik standen bisher lediglich das neue Nationalbankgesetz, bei dem man
fürchtet, die Unabhängigkeit der ungarischen Zentralbank und ihres Gouverneurs könnte durch eine neue Struktur leiden, die neue Datenschutzbehörde sowie die Regelungen rund
um die Neustrukturierung der Richterkammer bzw. Kurie sowie die aus politischer Absicht vorgenommene Absenkung der Altersgrenze der Richter.
Nun könnten aber auch einige weitere der 319 verabschiedeten Gesetze der letzten
eineinhalb Jahre genauer unter die Lupe genommen werden. Das geht aus dem Entwurf zur Tagesordnung der Sitzung der EU-Kommission für den 17. Januar hervor. Sowohl
europäische Gewerkschaftsstrukturen als auch der selbst aus Ungarn stammende EU-Kommissar für Soziales, László Andor, untersuchen derzeit verschiedene
Neuregelungen im Arbeitsrecht, sowohl die Rechte von Gewerkschaften und Betriebsräten betreffend als auch die "Rückführung" von vielen Frührentnern auf den Arbeitsmarkt, die,
bei aller ökonomischen Begründbarkeit auch aus prinzipiellen rechtlichen Überlegungen als problematisch angesehen wird.
"Die drei kritisierten Gesetze sind nur die Spitze eines Eisberges", wird ein hoher
EU-Beamter zitiert. Auch das "Finanzstabilitätsgesetz", das als "Kardinalsgesetz" in der
Verfassung verankert ist, wird in Brüssel derzeit zerpflückt. Kommissionspräsident Barroso hatte Premier Orbán bereits im Dezember gebeten, sich mit der Verabschiedung noch
Zeit zu lassen, zu viel gäbe es hier zu bedenken. Doch dieser verneinte mit Hinweis auf den Termindruck bei der Fertigstellung der Verfassung als ganzem.
In Brüssel hat man vor allem Probleme mit dem Umstand, dass nicht nur die Flat tax auf
alle Einkommen als solche, sondern auch ihre jetzt fixierte Höhe von 16% zukünftig nur mit einer 2/3-Mehrheit änderbar ist. Dies ist nicht "nur" eine Behinderung der
demokratischen Willensbildung für zukünftige Mehrheitsverhältnisse, sondern macht es selbst dieser Regierung, sollte sie einmal ihre jetzige qualifizierte Mehrheit einbüßen,
unmöglich "steuernd" auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren.
Über die in westlichen Medien und auch aus Reihen der EU-Kommission immer häufiger
kolportierte "Kompromissbereitschaft" der Ungarn bei den kritischen Fragen, braucht man sich keinerlei Illusion hinzugeben. Die Regierung hat längst klar gemacht, dass die keine
formalen Antworten nach Brüssel übersenden wird, solange keine offiziellen Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden. Man wird sich also nur
unausweichlichem Druck beugen, während ein EU-Sprecher noch am Dienstag meinte, "dass es keiner langen und schwierigen Prozeduren braucht", da "Ungarn schnell
Maßnahmen zur Klärung einleiten wird." Entgenkommen wird Budapest nur - vielleicht auch nur zum Schein - dem IWF, bis eine neue Vereinbarung unter Dach und Fach ist. Die
Mängelliste des IWF ist indes deutlich kürzer und bezieht sich nur auf Gesetze, die den allgemeinen Spielregeln der Finanzmärkte zuwiderlaufen.
Bleibt die Haltung der ungarischen Regierung bei den anderen Fragen so stur, scheint
zumindest die Weiterführung des Verfahrens wegen des ausufernden Budgetdefizits beschlossene Sache, auch, weil man darin über die am klarsten definierten Abläufe und
Sanktionsmechanismen verfügt, an deren Ende eine empfindliche Geldbuße steht.
Die Sache hat aber einen schwerwiegenden Pferdefuß. Die
EU sollte sich vor Verhängung einer Strafe zunächst einige Paragraphen aus dem "Finanzstabilitätsgesetz" Ungarns durchlesen, in dem sich der Staat
das Recht gesichert hat, sämtliche EU-Strafen an Bürger oder Unternehmen durch Sondersteuern weiterzugeben. So könnte es also sein, dass man die falschen bestraft und
am Ende selbst wieder einmal als Buhmann dasteht, weil die Regierung in Budapest die Schuld für künftige Mehrbelastungen an die EU abwälzen kann, um selbst dann noch
politisches Kleingeld einzusammeln.
Eine Aufstellung problematischer Gesetze und Maßnahmen der Regierung Orbán:
Sündenregister: Maßnahmen und Gesetze der Orbán-Regierung auf einen Blick - 6.1.
Mehr zu den Konflikten und Lösungsversuchen zwischen EU, IWF und Ungarn:
Galgenfrist ohne Galgen - Taktische Manöver zwischen Ungarn, EU und IWF - 13.1. http://www.pesterlloyd.net/2012_02/02taktikgalgen/02taktikgalgen.html
EU-Kommission erwägt Geldentzug für Ungarn - 12.1. http://www.pesterlloyd.net/2012_02/02eukommission/02eukommission.html
Wege aus dem Chaos
- Was hilft Ungarn: forcierte Staatspleite oder entwaffnende Solidarität? - 9.1. http://www.pesterlloyd.net/2012_02/02wegausdemchaos/02wegausdemchaos.html
red.
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