(c) Pester Lloyd / 03 - 2012
POLITIK 22.01.2012
Sonderfahrt nach Budapest
Zehntausende marschieren gegen die EU und für die Regierung in Ungarn - FOTO- & UPDATE 23.1. + VIDEO
Regierungsnahe Unternehmer und Journalisten organisierten am Samstag einen "Friedensmarsch für Ungarn", um ein Gegengewicht zu den Protestveranstaltungen
der letzten Wochen und eine "breite Unterstützung für unseren Ministerpräsidenten" zu präsentieren. Um auf genügend Masse zu kommen, trommelten
Fidesz-Funktionäre auf den Dörfern und wurden Sonderfahrten nach Budapest organisiert. Es wurden mehrere Zehntausend - und es wurde eine Anti-Europademonstration.
Update “Größte Demo aller Zeiten” Regierungssprecher Demos für Pressefreiheit + Klubrádió & Anti-Schmitt
Der Budapester Heldenplatz kurz vor 16 Uhr am Samstag. Foto: MTI
Die Angaben über die Teilnehmerzahlen gehen diesmal wieder weit auseinander. Die
Schätzungen unserer Berichterstatter vor Ort decken sich mit den ersten Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MTI von “mehreren Zehntausend”, wobei uns die Menge
deutlich größer erschien als bei der Oppositionsdemo am 2.1., die wir auf 40.000 bis 50.000 einschätzten. Eine Zahl von 80.000 halten wir für realistisch, bis knapp über
100.000 für möglich, eine Festlegung darauf wie bei reuters, dpa aber für unseriös. Immerhin waren die Massen diesmal ausführlich im Staatsfernsehen sichtbar, am 2.1. ließ
man sie “wegen eines technischen Fehlers” einfach verschwinden. Die Regierung sprach am Tag darauf von “maximal 8.000”, die Veranstalter von gestern überschlugen sich mit
“über 400.000” und steigerten sich am Sonntag nochmals auf “über eine halbe Million”...
Verschwommene Feindbilder
Ein Fahnenmeer aus Nationalflaggen und mehrere zehntausend Menschen marschierten,
eher spazierten, geordnet und unter mehrmaligem Absingen der Nationalhymne den Andrássy Boulevard entlang, Richtung Parlament, wo eine Abschlusskundgebung stattfand.
Ältere Semester dominierten, aber es waren auch ganze Familien gekommen.
Foto: Philipp Karl (c) Pester Lloyd
Auch "Abordnungen" von außerhalb waren zu sehen, darunter eine Gruppe aus München
sowie nicht wenige Leute aus Polen, weiterhin etliche Delegationen von ethnischen Ungarn aus Siebenbürgen, Rumänien. Auch Abordnungen ungarischer Roma wurden mit
entpsrechenden Schildern gesichtet, allerdings stellte sich bei einer Nachfrage durch eine Reporterin der “Népszabadság” (Ringiers linkes Kampflblatt) heraus, dass manche gar
nicht wussten, weshalb sie hier waren: “Da müssen Sie unseren Begleiter fragen.” Vielleicht war das ja auch eine kommunale Beschäftigungsmaßnahme.
Auf Transparenten wurden dem Premier und der Nation gehuldigt, es hieß “Genug mit
Lügen und Diffamierung. Die ungarischen Bürger und unser Ministerpräsident sind Demokraten.” Es tauchten eine Viezahl von europafeindlichen sowei antisemtischen
Transparenten, bei denen u.a. die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton und der EU-Kommissionspräsident Barroso in eine Reihe mit Hitler und Stalin, die EU mit der
Sowjetunion gleichgestellt wurden. Siehe unteres Foto, sowie weitere am Ende des Textes.
Foto: Philipp Karl (c) Pester Lloyd
Die "Unabhängikeit Ungarns" sein "Freiheitskampf" gegen die "Attacken aus dem linken
Lager", die "fremden Mächte", die Ungarn "kolonialisieren wollen", standen im Mittelpunkt, wobei die Grenzen im Feindeslager zwischen EU, IWF, Finanzmarkt bis hin
zur jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung ziemlich verschwommen waren. Einig waren sich die Demonstranten in ihrer EU-Feindlichkeit und ihrer unbedingten
Unterstützung für “ihren” Viktor Orbán, der zum Teil mit Transparenten, die an Altäre erinnerten, geehrt wurde. Wie Orbán die Stimmung dieser Demo mit seiner Aussage von
Straßburg und danach in Einklang bringen will, “wir Ungarn sind europäische Demokraten”, bleibt abzuwarten.
Funktionäre gingen von Tür zu Tür
Diese Veranstaltung sollte dezidiert keine Fidesz-Demo sein, so sagte Orbán-Sprecher
Péter Szijjártó zuvor, dass "man sich freuen wird, dort ganz normale Bürger zu sehen". Daher werde auch Orbán selbst, wie auch kein anderer Fidesz-Funktionär auftreten.
Allerdings war die Rückeroberung der Straße vorher bereits Thema einer Fidesz-Vorstandssitzung. Ein erster Versuch vor ein paar Tagen, war ein ziemlicher Rohrkrepierer, wiewohl ein Fidesz-Bürgermeister etxra ein Gebet entworfen hatte. Noch
größerer Aufwand wird für den Nationalfeiertag des 15. März betrieben, wo man es der Opposition gleich ganz unmöglich machen will, Präsenz im öffentlichen Raum zu zeigen.
Pro-Regierungsdemo bedeutet in Ungarn heute automatisch Anti-EU-Demo
Foto: Philipp Karl (c) Pester Lloyd
Wie uns mehrere Leser aus verschiedenen Orten Ungarns, vom Balaton, bei Györ, im
Umland von Szeged und Debrecen sowie aus der Nähe von Kecskemét berichten, waren jedoch Fidesz-Bügermeister und andere Funktionäre eifrig damit beschäftigt, von Tür zu
Tür zu gehen und Parteimitglieder wie auch andere Bürger zur Mitfahrt in einem der vielen bereitgestellten Sonderbusse nach Budapest zu bewegen. Einige führten dabei
regelrechte Listen, dabei sollen auch wieder, wie bereits im letzten Oktober, "Aufwandsentschädigungen" resp. "Fahrgelder" bezahlt worden sein, berichten uns
glaubhaft Augenzeugen. Es gibt Aussagen von Nachbarn, die “lieber nicht mitfahren wollten”, aber in der dörfliche Gemeinschaft fürchten ausgegrenzt zu werden. “Hier
kennt jeder jeden, das gibt am Ende nur Gerede”.
Die "ganz normalen Bürger"
Im Demo-Aufruf der "ganz normalen Bürger" hieß es, dass man keine Parteisymbole
wünsche, die Leute sollen ihren feinsten Anzug anziehen und eine Kerze mitbringen. Organisiert wird der Marsch u.a. vom Chef des antisemitischen Hetzblattes "Magyar
Demokrata", dem Eigentümer der rechtsnationalen "Magyar Hírlap", dem schwerreichen Unternehmer Gábor Széles (u.a. Ikarus, Videoton) sowie seinem Mitarbeiter, Zsolt Bayer,
Orbán-Freund, Fidesz-Mitgründer und der bekannteste Hassprediger des Landes, der schon einmal bedauerte, dass nach den Säuberungsaktionen nach der Räterepublik "nicht
genügend Genickschüsse" gefallen sind. Für diese Kundgebung gab es freilich keine behördlichen Bedenken oder Vorreservierungen.
Orbán-Sprecher: Größte Demo der Geschichte
UPDATE, 23.1. "Wir freuen uns, zu sehen, dass es so viele Menschen für wichtig erachteten
für Ungarn einzustehen... Es war uns eine Freude, durch die größte Demonstration in der ungarischen Geschichte zu sehen, dass der breite Zusammenhalt, der in der Zeit der
Parlamentswahlen 2010 geschaffen wurde und der die Erneuerung und Reformierung Ungarns ermöglichte, fortlebt." so Orbáns Sprecher Péter Szijjártó am Sonntag vor der
Presse. Das Innenministerium meldete 400.000 Teilnehmer und fügte hinzu, "dass in der lebenden Erinnerung des Landes noch nie so eine große Menschenmenge für die Regierung
und ihre Politik demonstriert" habe. Die Fidesz-"Europaparlamentarier" dankten, die Teilnehmer hätten "eine passende und machtvolle Antwort auf die Hetzkampagne von
linken Kräften" gegeben. "Die unbegründeten Vorwürfe wurden in Ungarn und außerhalb gehört, die Infragestellung Ungarns demokratischen Wertesystems ist ein Angriff auf die
Ehre der Ungarn", heißt es in einer Aussendung.
red.
Weitere Eindrücke von der Demo
Fotos: Hannah Hecker, Videos: Philipp Karl (c) Pester Lloyd
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