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(c) Pester Lloyd / 24 - 2012     KULTUR 14.06.2012

 

Schwanengesang eines Kulturkämpfers

Rücktritt des Kulturministers von Ungarn in großer Pose

Der für "Kultur und Nationales Erbe" zuständige Staatssekretär, de facto Kulturminister Géza Szőcs, ist am Mittwoch "auf eigenen Wunsch" zurückgetreten. Zum Abschied legte er der Öffentlichkeit einen Schwanengesang von geradezu rührender Unbescheidenheit vor, der einen ungefähren Einblick in die nebulöse Gedankenwelt der ungarischen Nationalkonservativen gibt. Er, der Freigeist, wollte alle nur mit Kultur versöhnen. Zurückbleibt bleibt ein kulturelles Schlachtfeld. Ein “Kriegsbericht”.

Der für "Kultur und nationales Kulturerbe" zuständige Staatssekretär, de facto Kulturminister, Géza Szőcs, ist am Mittwoch "auf eigenen Wunsch" zurückgetreten, Premier Orbán "akzeptierte das Rücktrittsgesuch", so die offizielle Verlautbarung, und bat Szőcs zukünftig als kultureller Chefberater des Regierungschefs tätig zu bleiben, womit Orbán sein informelles Schattenkabinett weiter vergrößert. Szőcs zog selbstredend eine positive Bilanz seiner zweijährigen Tätigkeit, "viel wurde erreicht", vor allem die kulturelle Präsentation seines Landes während der EU-Ratspräsidentschaft und in "der Phase der brutalen Angriffe" gegen Ungarn, hätten positiven Effekt (Trianon-Teppich, Pálinka-Automat für EU-Parlamentarier?) für das Land gemacht, so Szőcs in seiner Rücktrittserklärung.

>>> eine Linksammlung zu den “Kulturkämpfen” finden Sie am Ende des Textes

Freidenker verteidigte Links wie Rechts...

 

Szőcs spielt sich in seiner vor Selbstzufriedenheit geradezu triefenden Abtrittserklärung zum Freiheitskämpfer für die Bedrängten auf. Er hätte sich für den Erhalt der vom Abriss bedrohten Attila József Statue eingesetzt ebenso wie er "beschuldigte Philosophen" in Schutz genommen habe (siehe Budais Philosophenhatz). Er habe dargestellt, dass die literarische Tätigkeit des István Csurka (ein kürzlich verstorbener Naziführer) von seiner dramatischen zu trennen sei, wie er auch würdigt, dass Siebenbürgen (Szőcs` Heimat) einmal eine namhafte Rolle im Werk von Tamás Gáspár Miklós (kommunistischer Philosoph und Autor) gespielt hat. Er habe nicht den Direktor des Nationaltheaters ausgetauscht (ein schwuler Linker, heftigst befehdet von der Rechten), als dies gefordert wurde, er sehe aber auch im Werk von József Nyirö (antisemitischer Politiker der 40er aus Siebenbürgen, Blut-und-Boden-Schriftsteller, dessen neulich geplante Urnenüberführung zu heftigem Streit mit Rumänien führte) nicht die Spur von "hasserfüllten oder inhumanen Worten". In diesem Sinne sei er ein Freidenker gewesen und geblieben.

Staatskunst und Prestigeexport

Die in Politik und Wirtschaft betriebene "Ostöffnung" auch zu undemokratischen Staaten und Diktaturen fand auch in der Kultur ihren Niederschlag. Szőcs betonte besonders stolz, dass ohne "seine" neue Politik es niemals möglich gewesen wäre, dass "dreißig zeitgenössische ungarische Künstler im größten Museum für Zeitgenössische Kunst in Peking" gezeigt werden konnten, so dass auch der "dortige Kunsthandel auf die ungarische Szene aufmerksam" geworden ist. Vor allem aber habe die Kulturpolitik "Instrumente geschaffen, um die intellektuelle und spirituelle Einheit der Nation zu stärken", freut sich Szőcs, der es unter den gegebenen Umständen geradezu für eine Sensation hält, das "Andrássy Forum" ins Leben rufen zu können (eine geplante Museumsmeile mit Ausbauten und Querverbindungen um den Heldenplatz bis zur Andrássy út herum).

Erfolgreicher Kampf gegen die “liberale Hegemonie”

Er schreibt sich u.a. die Rettung des eigentlich nie gefährdeten 1956er Institutes, die Umbenennung des Airports in Franz Liszt, das Bestehen aller großen Orchester auf die Habenseite, unterschlägt aber die Folgen seiner eigentlichen Agenda: Mit Szőcs als Exekutor des Regierungswillens fand eine beispiellose Zentralisierung der Kultur hin zu einer Staatskultur mit nationalistischer Ausrichtung, ein regelrechter Kulturkampf gegen die behauptete verwestlichte, "liberale Kulturhegemonie" statt. In diesem Kampf dokumentiert sich am buntesten das Bestreben der Segregation nicht national gesinnter Strömungen vom neuen Mainstream. Dieser Spaltung der Gesellschaft diente Szőcs im vollen Bewußtsein, endlich Genugtuung für das “Leiden der Nation” zu erfahren, als williger Vollstrecker. Spaltung durch neu definierte Einheit, Vereinigung durch Ausschluss, das ist das klägliche Paradoxon des ungarischen Nationalkonservativismus Orbánscher Prägung.

Mechanik wie zu Kádárs Zeiten

Seit 2010 wurden gezielt wichtige Kulturinstitutionen mit regierungstreuen Beamten besetzt, namhafte Festivals vom Frühlingsfestival über die Filmwoche bis zum Sziget Festival durch finanzielle Erpressung politisch vereinnahmt und vor allem solche Veranstaltungen und Einrichtungen gefördert, die dem Anspruch der Orbán-Regierung der "Vertretung aller Ungarn im Karpatenbecken" gerecht wurden. Den neuen Machthabern spielte dabei der Umstand in die Hände, dass man fast jede Maßnahme durch die Misswirtschaft und Verfilzungen bei den Vorgängern rechtfertigen konnte. Auch den Kulturabbau und die Kulturgängelung argumentierte man letztlich damit, weil man galubte, ab einem bestimmten Punkt keine Rücksicht mehr auf schlüssige Erklärungen für sein Handeln erbringen zu müssen, wie das bei allen absoluten Herrschaftsformen irgendwann der Fall ist.

Frontalangriff auf freie Künste und Künstler

Sichtbare Spitze der Geschmacklosigkeiten war eine teuer bezahlte Ausstellung von Auftragswerken, die "Ereignisse der jüngeren ungarischen Geschichte" darstellen sollten, in ihrer propagandistischen Kitschigkeit jedoch eher an die Zeiten des Stalinismus erinnerten, denn an Kunst. Gleichzeitig wurde es - in Kooperation mit eilfertigen Lokalpolitikern - der freien Szene so schwer wie möglich gemacht, ihre Strukturen aufrecht zu erhalten. Die Sockelfinanzierung für die freien Theater wurde gestrichen, wichtige Zentren der Off-Szene bzw. der alternativen Künste gegängelt, zusammengestrichen, ausgetrocknet, mit neuen Chefs besetzt oder ganz geschlossen (Stichworte: Tüzraktér, Trafó, Vizraktér, Zöld pardon, Sirály, Merlin Theater, Neues Theater), im Fall (ausgehend von einem anderen Staatssekretär) der Holocaustgedenkstätte schreckte man auch nicht vor offenem, amtlichem Geschichtsrevisionismus zurück.

Die staatliche Filmförderung wurde, sowohl aus politischen Willen der neuen Machthaber wie aus Totalversagen der Vorgänger, zentralisiert und mit neuen Statuen versehen, heute "muss die Massage stimmen", wie der Staatsfilmbeauftragte, der Rambo-Produzent Vajna erläuterte. Kurz: Kulturschaffende arbeiten heute, unter leicht veränderten ideologischen Vorgaben, in einer ähnlichen Mechanik wie in der Kádárzeit.

Administrativ und charakterlich überfordert

Szőcs` Ablösung stand mit dem Antritt von Zoltán Balog als neuem Minister für "Human Ressources" (Bildung, Gesundheit, Soziales, Kultur, Sport, Jugend) eigentlich fest. Dieser will sich nach und nach eine eigene Mannschaft bilden, nächste auf der Streichliste ist Bildungsstaatssekretärin Hoffmann (vermutlich geht sie im Herbst, wenn das Bildungspaket durchgepeitscht wurde). Szőcs, ein Lyriker aus Siebenbürgen, der sich als Radio Free Europe- Aktivist und Dissident in Rumänien einen Namen machte, dessen Führungsstil wir aber aus erster Hand als nachtragend, rechthaberisch und kleingeistig erleben durften, war zwar auf Linie, aber vor allem administrativ vollkommen überfordert. Bereits im Januar 2011 schmiss sein Stellvertreter, Márton Kálnoki-Gyöngyössy, entnervt hin. Szőcs ist mit der Orbán-Familie, besonders Frau Orbán, gut befreundet, was die Berufung zum "Cheberater" erklären hilft.

 

Im Gespräch für die Nachfolge ist nun László L. Simon als Nachfolger. Dieser leitet die Nationale Kulturstiftung (NKA), in dem alle großen repräsentativen Staatskultureinrichtungen wie in einer Holding zusammengefasst sind, aber auch der Pianist und Chefdirigent des Nationalorchesters, Zoltán Kocsis hat sich durch Linientreue qualifiziert, vermutet wird jedoch eher ein parteifester Technokrat. Wer auch immer folgen wird, eine Liberalisierung und Erweiterung des in mehrfacher Hinsicht verengten Kulturbegriffes der Orbán-Regierung sollte durch den neuen 1. Mann der ungarischen Kultur nicht erwartet werden.

red. / ms.

Wie Feuer und Wasser: Kultur als Widerstand: alternative Projekte im Kulturkampf in Ungarn - Dez. 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_49/49FeuerundWasser/49feuerundwasser.html

Nationalballett: Neue Scharmützel im Kulturkampf um Ungarn - Jan. 2012
http://www.pesterlloyd.net/2012_03/03trafomerlinparti/03trafomerlinparti.html

Giftbecher und Moralapostel: Die "Oralsexaffäre" am Ungarischen Nationaltheater - Mai 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_21/21alfoeldi/21alfoeldi.html

Final Cut: Die Filmförderung in Ungarn als Instrument der Zensur - Interview - Dez. 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_48/48filmfoerderung/48filmfoerderung.html

Goldene Ketten: Regierung spendiert sich ein Filmfestival und einen neuen TV-Kanal - Mai 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_20/20filmfestival/20filmfestival.html

Weiße Westen, schwarze Schafe: Staatlicher Geschichtsrevisionismus in Ungarn - Apr. 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_15/15revisionismus/15revisionismus.html

Nationaltheater am Nationalthetar: Ungarn vs. Rumänien: eine Tragikkomödie in vier Akten - Nov. 2010
http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47nationaltheater/47nationaltheater.html

Hilferuf aus dem OFF - Die unabhängigen Theater in Ungarn fürchten um ihre Existenz - Nov. 2010
http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47offtheater/47offtheater.html

Köpferollen an der Oper: Die Leitung der Ungarischen Staatsoper Budapest wurde gefeuert - Okt. 2010
http://www.pesterlloyd.net/2010_43/431staatsoper/431staatsoper.html

Turiner Pferd & Budapester Angsthase: Béla Tarr kritisiert ungarische Regierung und distanziert sich dann von sich selbst - Feb. 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_08/08tarrskandal/08tarrskandal.html
 

 

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