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(c) Pester Lloyd / 04 - 2013   TSCHECHIEN 21.01.2013

 

Vom Hopfen zur Vanilleschote?

Bierkultur in Tschechien zwischen Tradition, Marktzwängen und Moden

Tschechien ist die Geburtsstätte des Pilsner Bieres und Heimat der trinkfreudigsten Menschen weltweit, zumindest wenn man den Genuss des kühlen Blonden betrachtet. Doch äußerst ambivalente Trends zeichnen sich in Tschechiens Bierkultur ab: Nach dem Rückgang des Konsums steigt dieser nun wieder, Mikrobrauereien boomen und Tschechen trinkt plötzlich Sauerkirsch- und Vanillebier.

Tschechien steht für exzellentes Bier, der Tscheche nennt sein Bier ganz zu Recht ein Kulturgut seines Landes und Tschechien gilt als eine der größten Biernationen weltweit. Hier wurde am 11. November 1842, wenn auch durch einen Bayern, das erste je nach Pilsner Art gebraute Bier ausgeschenkt, das Pilsner Urquell. Der vom bayrischen Braumeister Josef Groll hergestellte goldene Tropfen ist heute Tschechiens Bier Nummer eins und wird in über 60 Ländern vertrieben. Nirgendwo ist der Bierkonsum pro Kopf höher. Im Jahr 2009 trank beispielsweise jeder Tscheche durchschnittlich 159 Liter Bier. Auf Platz zwei folgten weit abgeschlagen die Deutschen mit einem pro-Kopf-Konsum von rund 110 Litern.

Unruhige Zeiten für Tschechische Brauereien

Doch so groß die Tradition auch ist, die Gegenwart ist keine leichte. Der Bierkonsum ist über die Jahre gesunken und abgesehen von Budweiser Budvar wurden alle großen Brauereien Tschechiens an Großkonzerne verkauft. So gehören beispielsweise die Marken Pilsner Urquell, Gambrinus, Radegast und Kozel zum Global Player SABMiller, dem zweitgrößten Brauereikonzern der Welt. Die Brauereigruppe Plzenský Prazdroj, unter deren Dach sich Pilsner Urquell, Gambrinus und Radegast befinden, und die damit ebenfalls zu SABMiller gehört, musste gar Einbußen verzeichnen. So sank im Geschäftsjahr 2010/2011 im Vergleich zum Vorjahr der Umsatz um 5,5%; der Gewinn vor Steuern war sogar um 10,8% niedriger. Der einzige, in der Hand des Staates befindliche Konzern Budweiser Budvar stand 2012 kurz vor der Privatisierung, was heftige Proteste auslöste. Viele wollten wenigstens die letzte Großbrauerei des Kulturgutes in tschechischem Besitz halten.

Im Jahr 2010 lag der Pro-Kopf-Konsum in Tschechien nur noch bei 132 Litern, ein massiver Rückgang im Vergleich zu den 2009 durchschnittlich konsumierten 159 Litern Bier. Das Jahr 2011 war hingegen wieder ein Jahr des Wachstums für die tschechischen Brauereien. Woran liegen diese Entwicklungen?

2010: Langsamer Niedergang der tschechischen Bierkultur?

Man könnte versuchen dies mit Trends in der Bierkultur zu erklären. Zunächst spielt aber auch die Wirtschaftskrise für den tschechischen Bierkonsumenten eine Rolle. Hinzu kommt, dass die Regierung die Biersteuer ab dem 1. Januar 2010 um 50% erhöhte, was gleich zwei Folgen für die Bierkultur hatte. Einerseits mussten die Preise wieder angehoben werden, weshalb man den halben Liter Bier für einen Euro insbesondere in größeren Städten nur noch selten findet. Folglich wird auch der Kneipenbesuch seltener. Früher war dieser Hort des Zusammentreffens ein fester Bestandteil der tschechischen Bierkultur, wo Bier um Bier verköstigt, über Gott und die Welt geredet, wo gelacht und debattiert wurde und wo der Wirt einem, ohne das man den Mund aufgemacht hatte, ein neues frisch gezapftes Pils an den Tisch brachte.

Etwa im Jahr 2010 verschob sich nun der Bierkonsum verstärkt in die eigenen vier Wände und damit auch vom Fassbier zum billigen Flaschenbier aus dem Supermarkt. Während 2009 noch mehr als die Hölfte Fassbier getrunken wurde, sank dessen Anteil im Jahre 2010 schon auf 43%. Wobei hier Flaschenbier nicht gleich Flaschenbier ist. So nimmt der Verkauf von Bier in PET-Flaschen zu; im Jahr 2011 verdoppelte dieser sich sogar auf 6%. So klein die Zahl auch erscheinen mag, die Geschwindigkeit des Wachstums ist hier der entscheidende Faktor. Für 2012 liegen noch keine Zahlen vor.

Unschlagbar: ein Glas tschechisches Bier, frisch gezapft, hier beim Tschechischen Bierfestival


Ambivalente Rolle von tschechischen Mikrobrauereien

Für den leichten Aufschwung 2011 und 2012 spielen auch Mikrobrauereien eine gewichtige Rolle. Während man sich in Deutschland über Brauereisterben beklagt, was vor allem auf Mikrobrauereien zutrifft, ist in Tschechien hier genau das Gegenteil der Fall. Gab es im Jahre 1990 nur noch eine einzige Mikrobrauerei, stieg deren Zahl nach und nach an. Insbesondere in den letzten Jahren wurden viele dieser Brauereien gegründet, mittlerweile gibt es über 120 in ganz Tschechien – Tendenz steigend.

Grade dem traditionsbewussten Bierliebhaber geht beim Begriff der „Mikrobrauerei“ das Herz auf, sind damit doch die positivsten Dinge verbunden. So wird dort in der Regel nur so viel Bier gebraut, wie vor Ort auch getrunken wird. Folglich kann man kaum frischeres Bier bekommen, da diese in der Regel nicht auf Export setzen. Parallel stehen Mikrobrauereien, v.a. für den deutschen Genießer, für Bier mit langjähriger Tradition und unveränderter Bierqualität der allerersten Güteklasse, für das nur die besten Zutaten aus der Region verwendet werden.

Die strikte Befolgung des Reinheitsgebots von 1516, nach dem zur Bierherstellung nur Hopfen, Malz, Wasser und Hefe verwendet werden dürfen, ist selbstredend. Mit all diesen Elementen wird eine Mikrobrauerei zum romantischen und heimatverbundenen Zufluchtsort des traditionellen Biergenießers, in einer Welt, in der riesige Brauereikonzerne als Global Player den Markt beherrschen und die Bierqualität durch Gewinn- und Effektivitätsstreben der Konzerne zu sinken droht.

Aber nun zurück zu den tschechischen Mikrobrauereien. Diese stimmen weitestgehend mit dem gezeichneten Bild überein, aber eben nicht komplett. Ein Grund weshalb die Mikrobrauereien so an Bedeutung gewannen und gewinnen liegt daran, dass sie eine Marktlücke gefunden haben, die dem tschechischen Bürger zusagt. So erfreuen sich allerlei Mischbiere stark wachsender Beliebtheit. Die Rede ist hier nicht nur vom allseits bekannten Radler, dessen Vertrieb übrigens in der Tat sehr stark zunimmt. Im Jahr 2011 war die Nachfrage bei (der Großbrauereibrauerei) Staropramen nach dem Bier-Limonade-Mix so groß, dass die Produktionskapazitäten nicht ausreichten.

 

Tschechische Mikrobrauereien sind beim Mischbier der absolute Vorreiter und bieten dem Kunden eine Vielzahl von Variationen an. Wo das Reinheitsgebot mit Radler noch in mittlerweile gesellschaftlich akzeptiertem Ausmaß umgangen wird, so muss der traditionsbewusste Biertrinker beim Angebot von Brennnessel,- Sauerkirsch-, Vanille- oder Champagnerbier doch kräftig schlucken. Den Vorstellungen nach den Variationen sind keine Grenzen gesetzt. Wobei man die tschechische Brauereiwirtschaft hier keineswegs vollends verteufeln sollte. Auf der Suche nach dem Stopp des Falls, wurde nach Lösungen gesucht, die den Bürger ansprechen. Aktuell wurde diese mit dem Angebot von Mischbieren verschiedenster Variationen gefunden.

Sauerkirsch- und Vanillebier als Kulturgut?

Wie man auch immer die Situation bewerten mag, zumindest erscheint sie ambivalent. Auf der einen Seite geht wieder bergauf mit der Bierwirtschaft Tschechiens, andererseits mag so mancher die Frage stellen, zu welchem Preis das zum Teil geschieht. Wie stark schließt sich in diesem Fall Tradition und Innovation aus und inwiefern kann dies hier überhaupt zusammen einhergehen? Letztendlich muss jeder die Frage individuell beantworten, ob man tatsächlich Sauerkirsch- und Vanillebier dem tschechischen National- und Kulturgut Bier hinzufügen möchte. Solange man in tschechischen Wirtshäusern noch immer das "echte" Pislner bekommt und man damit in jedem Falle auch die Gefahren des
aktuellen Pansch-Skandals bei Hochprozentigem umschifft, mag dem Bierfreund alles andere Recht sein: „Na zdraví“…

Christopher Schulz

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