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(c) Pester Lloyd / 06 - 2013   POLITIK 09.02.2013

 

Selbstermächtigung

Regierung von Ungarn rächt sich am Verfassungsgericht

Auf 26 Seiten werden von den Fidesz-Abgeordneten tiefgreifende Anpassungen angeordnet, die nicht genehme Urteile des Verfassungsgerichtes politisch korrigieren und Widerworte für die Zukunft unterbinden sollen. Sowohl Einzel- wie auch strukturelle Maßnahmen legen ein Gesellschafts- und Demokratiebild offen, das die eigene Verfassung zu einem reinen Anlass- und Ermächtigungsgesetz der Machthaber verkommen lässt und immer weniger von dem einenden und tragenden Charakter eines Grundgesetzes in sich trägt.

Das Imperium schlägt zurück: mit diesen Worten kommentiert das führende (unabhängige) Wochenmagazin des Landes, HVG, seinen Bericht über den umfangreichen Antrag mit Verfassungsänderungen, den die Regierungsparteien Fidesz-KDNP am Freitag ins Parlament einbrachten. Der 26seitige Entwurf, binnen 14 Monaten die vierte größere Änderung an der neuen Verfassung, wurde von allen Fraktionsmitgliedern unterschrieben. So weiß das Land nun wenigstens, was die Abgeordneten auf der dreitätigen Klausur in Gyula noch gemacht haben, außer Pressemitteilungen gegen die linken Volksfeinde zu verfassen.

Von der Kunstwelt zuerst als kitschige Staatskunst im Parteiauftrag verlacht, stellt sich das Werk “Die neue Verfassung” vo Iván Szoko (Ausschnitt) als Werk visionärer Systemkritik heraus. Das Schwert war nicht als ritterlicher Weihetant gedacht, sondern als Richtschwert der Allmacht, das durch das Grundgesetz fährt, wie ein heißes Messer durch Butter...

Themenseite Verfassung

Um mit ein paar "Kleinigkeiten" zu beginnen: beispielsweise wird die nicht unwesentliche Verschärfung des Familienbegriffes festgeschrieben, wonach als Familie eine Beziehung zwischen Mann, Frau und Kind oder einem Elternteil und einem Kind definiert wird. Damit werden kinderlose Ehen nicht mehr als Familie anerkannt, was u.a. steuerliche Folgen und Auswirkungen auf Beihilfen zur Wohnbauförderung hat.

Ebenfalls in den Kerntext der Verfassung werden Bestimmungen der Justizreform aufgenommen, u.a. jener rechtsstaatlich umstrittene Passus, wonach der Präsident der Richterkammer das Recht erhält, Fälle Gerichten zu entziehen und anderen zuzuteilen. Auch das Recht des Parlamentes, religiösen Gruppen die Anerkennung des Kirchenstatus`  zuzugestehen oder zu verwehren ist nun Teil der Kernverfassung und nicht mehr Teil von Anhängen bzw. Übergangsbestimmungen. Damit sind sie der inhaltlichen Überprüfung durch das Verfassungsgericht entzogen. Verstießen sie also gegen andere Grundrechte, wie das der Religionsfreiheit, könnte ein Urteil nur noch eine formale Anpassung, z.B. durch einen Zusatz bei der Religionsfreiheit, aber... verlangen, aber nicht mehr den Passus selbst annullieren, da er Teil der Verfassung ist, den die Verfassungschützer(!) zu schützen haben.

Nun geht es aber ans Eingemachte: hinsichtlich des Wahlgesetzes betreibt die Regierungspartei ganz unverhohlenen Grundrechteabbau. Während das Verfassungsgericht am 4. Januar, neben der verpflichtenden Wählerregistrierung eine ganze Reihe von restriktiven Bestimmungen der Wahlordnung mit der Begründung gekippt hatte, dass dadurch andere verfassungsmäßige Rechte, wie die Meinungs- und Pressefreiheit durch das Verbot von Wahlwerbung im Privatfernsehen "überproportional" beeinträchtigt würden, schrieb sich die Regierungspartei nun das "Recht zur Limitierung von Wahlkampagnen" in den Kerntext der Verfassung, mit der Anmerkung, dass alles weitere durch ein Gesetz zu regeln ist. Was da auf die wahlwerbenden Parteien zukommen kann, sei hier angedeutet. Die Wählerregistrierung kommt spätestens zum Wahljahr 2018, wie uns der Justizminister schon wissen ließ, ebenfalls mit der "Ausräumung verfassungsrechtlicher Hürden".

Außerdem bekommt das Verfassungsgericht weitere Ketten in Form von Handlungsbeschränkungen auferlegt. In Zukunft soll verhindert werden, dass das Gericht eingebrachte Prüfungsanträge, wie z.B. beim Wahlgesetz kürzlich durch den Präsidenten, über die zur Prüfung beantragten oder "eng damit in Zusammenhang stehende" Bestimmungen hinaus prüfen darf. Soll heißen, wenn der Präsident oder ein anderer Antragsteller (also das Parlament, die Regierung oder der oberste Richter bzw. der Ombudsmann für Minderheitenrechte, Individualklagen sind bereits abgeschafft) nach der formalen Richtigkeit eines Gesetzes anfragt, dürften die Richter nicht auch noch die inhaltliche Konsistenz prüfen. Dieser Passus ist ein reiner Racheakt, weil Fidesz der Meinung ist, das Gericht habe den Prüfungsauftrag des Präsidenten, der einen rein formalen Akt darstellen sollte, missbraucht und damit den "eigenen" Präsidenten hereingelegt. Nun wird das dem Gericht untersagt.

Auch die bereits befürchtete "Festplattenlöschung" beim Verfassungsgericht ist Teil des Entwurfes. Bisher lief es so, dass die Verfassungsrichter Urteile aus den letzten 22 Jahren Rechtsprechung - also seit der Wende - zu aktuellen Fällen hinzugezogen haben, ob als Prüfungsgrund für die Annahme eines Verfahrens oder auch zur Urteilsbegründung und -vertiefung. So konnte es geschehen, dass auch Verfahren zur neuen Verfassung mit Bezug auf Fälle aus der alten Verfassung geregelt wurden, wenn die betreffenden Bestimmungen nicht vollkommen abweichend waren. Das ist allgemein geübte Rechtspraxis und die Urteilshistorie wichtiger Teil einer Rechtskontinuität, die wiederum eine rechtsstaatliche Errungenschaft darstellt. Bleibt es bei dem Änderungsantrag, dann "können die Richter die alten Urteile gerne in ihrer Freizeit lesen", merkt die HVG sarkastisch an, für ihre Rechtsprechung dürfen sie sie nicht mehr heranziehen.

Das Urteil über das Verbot der Kriminalisierung von Obdachlosen brachte, die den Volkswillen behütende Regierungspartei im November des Vorjahres besonders in Rage. Zunächst sollte eine "nationale Konsultation" mit Hilfe von 8 Millionen Fragebögen herausfinden, ob "Sie wollen, dass in Ihrer Straße oder vor Ihrem Haus dauerhaft Obdachlose hausen." Die Arbeit kann man sich nun ersparen. Den Spruch der Verfassungsrichter, dass der Umstand der Obdachlosigkeit an sich noch keine Straftat sein kann, umgeht die Regierung nun, in dem sie die Auszeichnung "obdachlosenfreier Zonen" den Kommunen als verfassungsmäßiges Recht überlässt, womit die Jagdgesellschaft auf die untersten Glieder der sozialen Kette ihren Jagdschein erhält. Das VfG hatte auch die soziale Aufgabe vor der Law-and-Order-Lösung bei dieser Thematik betont, aber dafür war auf den 26 Seiten offenbar kein Platz mehr.

Interessant ist - auch die vor der EU anhängige - Thematik der Studienverträge, die den arbeitsrechtlichen Bleibezwang für Studenten regeln, die auf staatlich (teil)finanzierten Studienplätzen studieren. Diese verpflichten sich bekanntlich, das Doppelte ihrer Studienzeit - koste es, was es wolle - im Lande zu arbeiten, andernfalls koste es, was es solle. Hier stellten die Verfassungsrechtler verdutzt fest, dass diese Regelung, die aller Voraussicht nach gegen jegliches Grundrecht der Freizügigkeit nationaler, europäischer, wie allgemein menschenrecehtlicher Prägung verstößt, gar nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten werden kann, weil: Achtung! ss in keinem Gesetz steht. Die Verträge beruhen bisher lediglich auf einer ministeriellen Weisung, sozusagen einem dekretarischen Parallelrecht. Kein Gesetz, keine Annullierung, so einfach ist das.

 

So wird die ungarische Legislative immer mehr von zwei Säulen getragen, die das ganze Gebäude sehr schief erscheinen lassen: auf der einen Seite stehen in den in der Verfassung verankerten "Kardinalsgesetzen" Details aus dem politischen Alltag, wie Steuersätze oder wettbewerbsrechtlicher Kleinkram, die dort - weil durch eine 2/3-Mehrheit abgesichert - gar nicht hingehören, kommenden Regierung aber eine verändernde Politik unmöglich machen, also antidemokratisch wirken. Auf der anderen Seite aber werden sehr wesentliche Dinge, wie z.B. die Berufs- und Bewegungsfreiheit der jungen Generation wie auf Zuruf durch Dekrete geregelt, die sich keiner Gesetzesprüfung stellen müssen. Das ist nicht nur eine Aushöhlung, das ist direkter Abbau des Rechtsstaates, es ist Selbstermächtigung.

Als fast marginal, aber doch in die Gesamtshow passend, wurde auch die über 400 Mann-starke Parlamentsgarde in die Verfassung aufgenommen. Sie untersteht laut Grundgesetz nun direkt dem Parlamentspräsidenten und soll - bewaffnet - die Sicherheit der Funktionsfähigkeit des Parlamentes und der Krone gewährleisten. Herr Kövér hat also eine verfassungsgemäße Privatarmee, aber das Parlament funktioniert auch so, wie man sieht, reibungslos. Noch ein paar Jahre später wird auch das Verfassungsgericht selbst kaum mehr Anlass für solche kapitalen Kraftanstrengungen geben, dann nämlich, wenn auch die letzten unabhängigen Richter durch parteinahe "Freunde" ersetzt worden sein werden.

red. / ms.

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