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(c) Pester Lloyd / 11 - 2013   POLITIK 11.03.2013

 

Das Letzte Wort

Ex-Präsident zum Verfassungsputsch: Präsident von Ungarn muss Veto einlegen

In einem dramatischen Appell redet der ehemalige ungarische Staatspräsident, László Sólyom, einst Präsident des Verfassungsgerichtes, seinem Nachfolger hinsichtlich der geplanten Änderungen ins Gewissen. Der bekennende Konservative, von Fidesz 2010 dennoch umgehend kaltgestellt, warnt vor dem "Ende der Gewaltenteilung in Ungarn" und sieht in einem Veto des jetzigen Präsidenten Áder die letzte Chance, den Weg des Rechtsstaates und der verfassungsmäßigen Ordnung beizubehalten.

Die Funktion der Verfassung als Ganzes in Frage gestellt

Sólyom, der bis 2010 Präsident war und, obwohl ein ausgewiesener Konservativer, als "nicht fideszes" keine Chance auf ein weiteres Mandat hatte, wiewohl er den Machtwechsel kräftig mit unterstützt hatte, beklagt, dass die Erwiderungen der Regierung auf die Vorhaltungen der Kritiker "selbstgerecht" seien und an der Sache vorbei gehen. Es sei einfach nicht hinzunehmen, dass die in 22 Jahren organisch gewachsene Rechtsprechung des VfG mit einem Federstrich annulliert werde und dass auch aktuelle Entscheidungen des Gerichtes durch die inflationäre Aufnahme neuer Passagen in den Kerntext umgangen und ausgehebelt werden. Doch genau der langfristige Prozess, der Dialog zwischen den Gewalten, die Abstimmung und gegenseitige Akzeptanz zwischen Legislative und Judikative führe dazu, dass die Verfassung Teil einer nationalen Identität werden könne. Die jetzigen Maßnahmen brechen diesen Prozess ab, in dem sie die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichtes als Wächter über die Verfassung und damit auch die Funktion als Grundgesetz selbst einschränken, so Sólyom.

Ex-Präsident Sólyom und das aktuelle Staatsoberhaupt, János Áder beim Gedankenaustausch auf der Besuchertribüne im Parlament. Wird er ihn überzeugen können?

Erinnerungen an kommunistischen Einparteienstaat

Worum geht es?

Änderungen an den Kompetenzen, der Arbeits- und Funktionsweise des Verfassungsgerichtes
mit weiterführenden Links zur Verfassungsgeschichte seit 2010

“Selbstermächtigung”: Beitrag zu den Änderungen am Kerntext der Verfassung und Details bezüglich VfG
Originaltext der geplanten Verfassungsänderungen (pdf, engl.)

Brief Außenminister Martonyi an die europäischen Außenminister (pdf, engl.)

Tausende protestieren gegen den “Verfassungsputsch” + Stimmen aus USA, Barroso etc.

Kritik von Europarat,
dt. Bundesregierung, EU-Kommission

Die neue Verfassung und der Umgang mit ihr kehrt ihre Bestimmung um, denn das Grundgesetz ist nicht für das Parlament geschaffen, sondern sie ist praktisch das höchste Organ der Staatsmacht und repräsentiert die Interessen aller im Lande lebenden Menschen. Mit den jetzigen Maßnahmen funktioniert das Parlament die Verfassung in einer Weise um, wie das im kommunistischen Einparteienstaat zuletzt der Fall war. Dieses Vorgehen sei auch deshalb so einschneidend, da Ungarn nach der Wende von vornherein als konstitutionelle Demokratie gestaltet wurde und nicht, wie z.B. Großbritannien oder die Schweiz über andere, traditionelle politische Ausgleichsmechanismen verfügt, Verfassung und Verfassungsgericht hier also eine zentrale Rolle einnehmen. Die unbegrenzte Macht des Parlamentes wirkte weder bei uns, noch in Mitteleuropa insgesamt jemals demokratisch und entfacht sehr böse historische Erinnerungen, schreibt der Altpräsident.

Werkzeug der Tagespolitik mit politischem Ziel

Sólyom führt weiter die verschiedenen Beschränkungen ein, die die Fidesz-Regierung von Anfang an am VfG verübt hat, vom Entzug der Zuständigkeit für "Fragen, die das Budget betreffen" über die Aufstockung der Richterzahl und der entsprechenden Besetzungspolitik bis hin zur Negierung fast sämtlicher Urteile durch nachträgliche Änderungen von Gesetzen, manche sogar mit retroaktiver Wirkung. Es sei zu einer reinen Routinehandlung geworden, Urteile des VfG zu umgehen, zu überstimmen. Sólyom führt das an einzelnen Beispielen genauer aus und kommt zu dem Schluss: Fidesz benutzt immer stärker die Verfassung als "Werkzeug der Tagespoltitik" im "Dienste eines politischen Ziels".

Priorität der Grundrechte wird umgangen

Doch all das sei letztlich nur eine Ouvertüre zu den heute vorliegenden Änderungsvorhaben gewesen, die dem Verfassungsgericht die Grundlage für seine Arbeit entziehen. Die Regierung habe dem VfG das letzte Wort zur Verfassung abgenommen, das Parlament bzw. die es dominierende Mehrheit richtet selbst über die Verfassungsmäßigkeit ihrer Gesetze, die von der Verfassung vorgesehene Gewaltenteilung als Beschränkung der Machtbefugnisse einer einzelnen Gewalt ist de facto und nun bald auch de jure aufgehoben. Hinzu kommt, dass die Veränderungen am Kerntext der Verfassung, mit der damit verbunden Verhinderung der Bewertung dieser Bestimmungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit, die notwendige und bisher angewandte Hirarchie der einzelnen Verfassungsbestimmungen verhindert. Das VfG behandelte die Grundrechte stets als solche, was bedeutet, dass sich der Menschenwürde, der Unverletzbarkeit des Lebens und anderen "angeborenen Rechten" alle anderen Bestimmungen zu unterwerfen hatten. Durch den jetzigen Umgang mit der Verfassung wird diese Hirarchie umgangen.

Die Macht des Präsidenten gegen einen "unsichtbaren Systemwechsel"

 

Sólyom sieht einen unsichtbaren Systemwechsel, denn auf dem Papier bleibt das VfG noch immer der wichtigstee Schutz der Verfassung, aber in der Realität regiert eine Zweidrittelmehrheit darüber hinweg. Der Altpräsident warnt davor, dass dieses neue System zerstörerisch sei, nicht nur was die Durchsetzung einzelner - eigentlich nicht verfassungsgemäßer - Bestimmungen betrifft, sondern die "verfassungsmäßige Ordnung" insgesamt. Zwei Dekaden verfassungsmäßiger Entwicklung hinwegzufegen, ist nicht nur eine symbolische Handlung.

Im Lichte der Entwicklungen, so redet Sólyom seinem Amtsnachfolger ins Gewissen, bleibt nur eine Hoffung, eine Option, ja, eigentlich nur eine Möglichkeit: das Veto des heutigen Präsidenten, János Áder (Fidesz, ruhend) gegen die am heutigen Montag im Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen. Ihm fällt nun, da das Verfassungsgericht dies nicht mehr kann, die Rolle als Bewahrer der "demokratischen Funktionsfähigkeit" des Landes zu. Er muss dafür sorgen, dass auch in Zukunft das letzte Wort über das Grundgesetz vom Verfassungsgericht gesprochen wird. Das zu gewährleisten, dazu muss der Präsident all seine Macht, die ihm übrigens von der Verfassung eingeräumt wird, anwenden.

red. / cs.sz.

 

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