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(c) Pester Lloyd / 15 - 2013   POLITIK 13.04.2013

 

Größtmöglicher Zaunpfahl

Spannungen zwischen EU und Ungarn wachsen. Orbán ist das recht.

EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso sandte am Freitag einen weiteren Brief an den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Darin wiederholte er seine Warnung, dass sich die europäischen Institutionen Abweichungen vom europäischen Recht und den europäischen Grundwerten nicht gefallen lassen werden. Doch den Repräsentanten dieser Grundwerte und ihren Institutionen schlägt in Budapest offene Verachtung entgegen. Selbst die Konservativen merken langsam, dass es für Orbán keine rote Linie gibt, die ihn aufhält. Bericht & Analyse

Die Kommission habe, obwohl die endgültige Prüfung der 4. Verfassungsänderung in Ungarn noch nicht abgeschlossen ist, bereits eine Reihe von "ernsthaften Bedenken" hinsichtlich der Kompatibilität mit EU-Regeln, so Barroso in seinem Schreiben an Premier Orbán. Sollte die ungarische Regierung ihrem erklärten Willen zur Zusammenarbeit keine praktischen Schritte folgen lassen, werde man nach Abschluss der Untersuchung alle nötigen Schritte zur Aufnahme von Vertragsverletzungsverfahren einleiten. "Ich appeliere dringend an Dich und Deine Regierung auf diese Bedenken zu reagieren und zwar auf eine entschlossene und unmissverständliche Weise."

Zum Thema:
Die Ein-Mann-Demokratie
Wie erklärt man es dem Ausland? Sechs Fragen und Antworten zu Ungarn

Orbán reagierte stante pede und bekannte sich in einem siebenzeiligen Antwortbrief wieder einmal “voll” zu den europäischen Werten, ja, er hätte zu den konkret benannten Punkten “bereits die erforderlichen legislativen Schritte” eingeleitet. Die Antwort auf Barrosos Brief kam wie aus der Pistole geschossen, eine Heißluftpistole wie Barroso von vielen vorherigen Antworten weiß.

Hier das Schreiben Orbáns (pdf)

Bereits konkret als unvereinbar mit EU-Recht angesprochen hatte Barroso Regelungen, wonach Geldstrafen, die durch EU-Urteile über das Land kommen, durch Steuererhöhungen oder Sondersteuern beglichen werden sollen, der Passus, wonach die Chefin der Justizverwaltung beliebig Fälle von gesetzlich zuständigen Gerichten abziehen und anderen zuweisen kann sowie die Einschränkungen der Wahlwerbung (u.a. dass Werbespots nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschaltet werden dürfen). Es ist davon auszugehen, dass mit eingehender Prüfung die Liste noch deutlich erweitert werden wird, z.B. um die Möglichkeit der Kriminalisierung von Obdachlosen, die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit bei Hochschulabsolventen.

Fraglich ist jedoch, ob der Systemwechsel, der strukturelle Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, der durch die praktische Umkehr der Machthirarchie (in Fragen die Verfassung betreffend, zu Gunsten des Parlamentes) sowie die Unmöglichkeit politischer Gestaltung durch eine andere als die aktuelle Parlamentsmehrheit (mit 2/3-Mehrheit abgesicherte Kardinalsgesetze + ausufernd viel Tagespolitik im Kerntext der Verfassung), überhaupt durch EU-Recht beeinspruchbar sein werden. (Hier, im Artikel "Die Systemfrage" nochmal genauer erläutert). Letztlich ließe sich dies stichhaltig nur durch Bezugnahme auf den Grundrechtsartkel 2 des Lissabon-Vertrages beanstanden. Ein grober Verstoß dagegen würde jedoch auch die Tür zur einem Artikel-7-Verfahren aufstoßen, was erhebliche Spannungserhöhungen mit Ungarn zur Folge hätte und in der Umsetzung äußerst kompliziert erscheint. Mehr zu "Europas Hammer - Ist Artikel 7 eine Option gegen Ungarn?".

Den Abgesandten der freiheitlichen Demokratie
schlägt in Budapest offene Verachtung entgegen

EU-Kommissionspräsident Barroso hatte den Fall Ungarn vor zwei Wochen zur Chefsache erklärt und sich bei der Bearbeitung des Falles auch mit der Venedig-Kommission des Europarates zusammengetan. Deren Delegation weilt seit Freitag in Budapest, musste sich aber vorerst mit einem Treffen mit einem Justizstaatssekretär abspeisen lassen. Robért Répássy (Foto) ließ auch keinen Zweifel an seiner Verachtung für die Gruppe, "die meisten Fragen demonstrierten Befangenheit und Vorurteile", sie seien "nicht bereit ihre Meinung zu ändern" und "unsere Dokumentationen zu lesen", sagte er und fuhr damit unbeirrt die offizielle Regierungslinie weiter, die besagt, dass die neue ungarische Verfassung "ein Vorbild für ganz Europa" sei, man bei "technischen Details" kooperationsbereit ist, alles andere aber eine "politische Schmutzkampagne der europäischen Kommunisten, Sozialisten, Gründen und Liberalen".

Répássy hat sich, so schilderte es dieser Zeitung ein Delegationsmitglied, aufgeführt wie ein Rumpelstielzchen und u.a. in die Runde gefragt, wer hier überhaupt bereit sei, die Prüfung anhand von Fakten vorzunehmen anstatt Ungarn weiter mit "Doppelstandards" zu behandeln. Dabei warf er eine 50seitige "Erklärung" seines Hauses zu den Kritikpunkten nebst einer "Neuübersetzung" der Verfassungsänderungen ins Englische auf den Tisch. Als er auf diesen präpotenten und diplomatisch ungehörigen Ausfall keine Antwort bekam, meldete er der Öffentlichkeit: "Niemand von denen ist dazu bereit."

EU-Politik wird an der Stimmung der Wählerschaft ausgerichtet - pragmatischer Instinkt des Volkes als letzte Hoffnung für die Demokratie?

Fidesz macht - indirekt aber deutlich - mit jedem Wort und jeder Handlung klar, dass Zugeständnisse an die EU, einschl. der Einhaltung von Grundnormen, nur anhand der Auswirkungen auf die Machtbasis des Fidesz bewertet werden. Im Moment ist die strikte Anti-EU-Haltung politisch nützlicher als eine Kooperation. Wie das nach einem Entzug von Mitteln aussieht, der sich in einem weiteren wirtschaftlichen Verfall der Mehrheit niederschlägt, ist immer noch offen.

Möglich, dass Orbán seine Truppen dann noch fester hinter sich versammeln kann (Opfermythos, Fremdschuldthese, Stellvertreterkriege (einschl. rassistischer und ideologischer Ausgrenzung von Bevölkerungsteilen, Bayer ist ja kein Zufall!, völkische Legendenbildung). Möglich aber auch, dass der pragmatische Instinkt "des Volkes" die Überhand gewinnt, der spürt, dass eine totale Abkehr von den europäischen Partnern vor allem materielle Einbußen bedeuten muss, wenn schon das Argument einer höheren Schutzmacht in Fragen von Grundfreiheiten und -rechten, auch aufgrund sträflicher Versäumnisse der EU in der "Transformationszeit" nicht so recht ziehen mag. Dieser sagenhaft billige Mechanismus, die EU-Politik an der Stimmung der nationalen Wählerschaft auszurichten, ist zwar ein europaweites Geschäft, doch Ungarn hat darin einen Grad der Demagogie erreicht, der mit dem Begriff Wahltaktik oder Machtwille schon nicht mehr beschreibbar ist. Ungarns Regierung setzt ihr Land als Teil Europas bereits offen aufs Spiel.

Merkel und Barroso Opfer "linksliberaler Dominanz"?

Dass auch die Konservativen in Europa Orbán mittlerweile nicht mehr alles als "demokratisch legitimiert" (bisher Standardausrede von CDU/CSU, Adenauer-Stiftung & Co.) durchgehen lassen, lässt sich u.a. an dem persönlichen Engagement Barrosos für diese Sache sowie an den kämpferischen Statements von Justizkommissarin Reding erkennen, die beide aus dem Lager rechts der Mitte entstammen. Auch hier bügelt Budapest in gewohnter Manier ab,
Reding führe einen "persönlichen Krieg gegen Ungarn" (Justizminister und Orbán-Vize Navravcsics) und Barroso, genauso wie Merkel müssten sich der "linksliberalen Dominanz" in Europa beugen, außerdem stünden in Deutschland und Österreich Wahlen an, der Wahlkampf würde auf "dem Rücken Ungarns" ausgetragen, man versuche sich nur auf Kosten des Landes zu profilieren.

Mehr zur konservativen Schlingerlinie hier in: Argumentum ad ignorantiam
Ungarn, Merkel und die europäische Selbstenthauptung

Die EVP denkt bereits über eine politische Verbannung Orbáns nach

Nicht so ganz in dieses Bild passen jedoch Berichte, wonach die EVP, also die Fraktion der gesammelten Konservativen im Europaparlament bereits in einer Sitzung unter Fidesz-Ausschluss über den Ausschluss der ungarischen Schwesterpartei nachdenkt. Dazu bedürfte es einer breiten, übernationalen Mehrheit. Man sei sich demokratiepolitisch sogar einig über die Richtigkeit eines solchen Bannes, wäge derzeit lediglich nur noch ab, ob man der europäischen "Linken" mit einem solchen Schritt nicht ein zu großen Triumph spendiert. Noch längeres zuwarten aus ideologischer Nibelungentreue jedoch könnte die Blamage jedoch noch größer machen, denn mittlerweile haben auch die jahrelangen Orbánverteidiger in den Reihen der EVP erkannt, dass es für Orbán beim Ziel "Machtfestigung" keine rote Linie gibt, die er nicht gewillt sein würde, zu übertreten. Dazu hat man 3 Jahre gebraucht...

Alles ist möglich: Stellungnahmen, Verfahren, Geldkeule, Artikel 7

Der EU-Fahrplan im Umgang mit Ungarn ist mehrgleisig, strebt aber dasselbe Ziel an. In der kommenden Woche, am 17. April, ist Ungarn mal wieder - für geplant eine Dreiviertelstunde - Thema im Parlament in Straßburg (Orbán kommt diesmal nicht selbst, er ist lieber bei der Beerdigung von Margret Thatcher in London, will aber vorher eine EVP-Fraktionssitzung “briefen”), bis 16. Juni fertigt die Venedig-Kommission einen Bericht an die EU-Kommission mit ihrer an Rechtsstaatlichkeit und verfassungsmäßiger Ordnung angelehnten Prüfung der 4. Verfassungsänderungen, kurz davor wird die Prüfung zu allfälligen Verstößen mit EU-Regularien fertig. Danach werden die "begründeten Stellungnahmen", einschließlich Änderungswünschen und Terminsetzung an Budapest übermittelt werden, denen, hat Budapest nichts Relevantes einzuwenden, der letzte Schritt vor der Klage oder Klagen sind.

 

Schon im Mai steht außerdem nochmals das EU-Defizitverfahren auf der Tagesordnung, bei dem sich Ungarn aufgrund positiv gestalteter Zahlen zum Budget 2012 und dem mit Hilfe der privaten Rentenbeiträge zum Überschuss manipulierten Budget 2011 auf der Siegerstraße fühlt. Sowohl "faktisch" als auch "moralisch" gehört Ungarn aus der "Exzessiven Defizitprozedur" entlassen, meint die Regierung, allerdings gibt es nach wie vor wesentliche Differenzen bei der Einschätzung des Budgets und des Defizitziels 2013 und nicht geringe Zweifel an der "Strukturiertheit und Nachhaltigkeit" der "Budgetreformen" und der Wirtschaftspolitik sowieso.

Barroso mahnt Dialog an

Barroso blieb in seinem Schreiben an Orbán nur noch, die ungarische Regierung aufzufordern, endlich wieder in einen politischen Dialog mit den europäischen Institutionen zu treten (lies: anstatt zu mauern und zu leugnen). Im Juni plant das EP eine politische Resolution mit dem Titel: "Situation der Grundrechte in Ungarn: Standards und Praxis". Diese gäbe es nicht, hätte man in Europa nicht bereits größere Zweifel an der Grundrechtspraxis in Ungarn, also am Stand von Demokratie und Rechtsstaat. Indirekt erwähnte der EC-Präsident also doch Artikel 7 und Barrosos Schreiben ist damit ein weiterer Wink mit dem größtmöglichen Zaunpfahl. Ob Orbán die Zeichen der Zeit lesen kann, ist nicht die Frage, sondern, ob er sie lesen will.

red.

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