THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 02 - 2014 GESELLSCHAFT 09.01.2014

 

Wer ist hier das Opfer?

Funktionaler Antifaschismus: Ungarn und die große Holocaust-Gedenkshow 2014

Das Jahr 2014 liefert drei bedeutende historische Gedenktage und damit drei Vorlagen für die Festigung der ideologischen Neuerfindung der "Nation" Orbánscher Prägung. Die Regierungspartei hat früh dafür gesorgt, die Gedenkevents zentral zu steuern, auf dass die Geschichte in ihrem Sinne interpretiert wird. Doch die Verantwortlichen stolpern schon heute von einem Fettnäpfchen ins nächste, ihre wahre Gesinnung und die offensichtliche Zielstellung ihrer "Gedenkshow" können sie nur schwer maskieren.

Begangen wird 2014 der 70. Jahrestag des Einmarschs Nazideutschlands in Ungarn und damit der Holocaust, der industrielle Massenmord an den ungarischen Juden sowie der 100. Jahrestags des Beginns des für Ungarn so schicksalhaften Ersten Weltkrieges. (Nebenbei auch der 25. Jahrestag der politischen Wende, die, natürlich erst von dieser Regierung vollendet wurde.)

Gedenken, das sind immer mehrere paar Schuhe, erst recht im heutigen Ungarn. Hier das berührende Erinnern an die Opfer ungarischer Naziverbrecher an der Donau.

Dort eines der vielen neuen Trianon-Denkmäler, vornehmlich in von Jobbik- und Fidesz-Bürgermeistern besetzten Orten.

Ein Denkmal für das Opfer Ungarn

Über die zentrale, diskursbefreite Steuerung des Gedenkens an das größte Verbrechen auch in der ungarischen Geschichte, ließ die Regierung schon zum Auftakt des Jahres keinen Zweifel. Heimlich still und leise wurde im weihnachtlichen Amtsblatt die Errichtung eines "Mahnmals zur Erinnerung an die deutsche Besetzung Ungarns vor 70 Jahren" verkündet, bis 19. März soll es errichtet sein, die Finanzmittel stehen bereit. Das Denkmal soll auf den Freiheitsplatz kommen, in Sichtweite des Ehrenmals für die bei der Befreiung Budapests gefallenen Rotarmisten. Die Botschaft ist eindeutig: Faschismus war ein ungewollter Import aus Deutschland, Ungarn war das Opfer, genauso wie bei der Okkupation durch die stalinistische Sowjetunion.

Sowohl der Verband der jüdischen Gemeinden in Ungarn, Mazsihiz, einige Romavertreter als auch die Mitte-Links-Opposition protestierten umgehend: gegen den Standort, das Mahnmal an sich und auch die Art der "Ausschreibung". Offenbar - und dieser Vorwurf wird uns noch öfter begegnen - geht es der Regierung nicht um die Opfer, nicht um historische Aufarbeitung und schon gar nicht um einen gesellschaftlichen Diskurs über die Lehren der Geschichte und die Art und Weise der Erinnerung. Es geht um Indoktrination nach innen und PR nach außen.

Ein Vertreter der Partei E2014/PM forderte, dass nicht dem Einmarsch, sondern dem Widerstand dagegen und den Opfern der Okkupation gedacht wird. Gedenken könne man nicht "erzwingen". Romavertreter, freilich solche, die den linken Parteien zuzuordnen sind, sprechen davon, dass man den "Naziokkupanten einen Altar" errichte und den Neonazis damit einen Wallfahrtsort schaffe. Die Erinnerung an die Verfolgung der Roma hingegen habe die Regierung nach Pécs, in den südlichsten Zipfel des Landes verbannt (dort wurde gerade ein Roma-Holocaust-Museum eingerichtet, von den Fidesz-Roma wiederum frenetisch begrüßt).

Neonazis begrüßen Regierungsplan für Okkupationsdenkmal

Der jüdische Dachverband wünscht sich ein "Tempo und eine Art und Weise" der Errichtung von Denkmälern, die "eine breite Anerkennung in der Bevölkerung" findet. Die Regierungsvorgabe sei überhastet und nicht im Sinne der Sache. Doch die Entscheidung wird Bestand haben, auch die jubilierende Zustimmung von Seiten der Neonazi-Partei Jobbik, der zweitstärksten Oppositionskraft im Lande, lässt auf der Regierungsseite keine Zweifel aufkommen. Natürlich hätte Jobbik gerne noch das Sowjetdenkmal abgeräumt und am liebsten auch ein Mahnmal für die jüdische Okkupation des Landes seit der Wende (Ungarn, das europäische Palästina...), aber dieses Mahnmal sei, so spricht es aus der Partei: "ein sehr guter Anfang..." und werde daher "begrüßt".

Generalstabsmäßiges Gedenken

Die Regierung investiert sehr viel Geld und personellen Aufwand in das nationale Großgedenken 2014. Hochrangig, bereits seit Ende 2012 besetzte Regierungskommissionen und Gedenkkomitees, aufgehübscht mit Botschaftern, Professoren und Honoratioren geben die Direktiven und Gelder, manchmal auch nur ein paar Anmerkungen für die "Events". Generalstabsmäßig wie das Tabakhandelsmonopol oder die neue Verfassung, wickelt man auch das Gedenkjahr ab. Übrigens mit den gleichen Leuten. Die Regierung richtete, damit das meist "fehlinformierte" Ausland auch ja alles versteht, eigens eine englischsprachige Webseite ein, auf der unsere Leser auch die Details über Kommissionen, Konferenzen, Gedenkstätten etc. entnehmen können:
http://holocaustmemorialyear2014.gov.hu/

Auftaktlapsus: Staatssekretär rechnet 600.000 Juden nicht als Ungarn

Doch die wirkliche Zielstellung und die dahinterstehende Gesinnung lässt sich weder durch die Vielzahl von neuen Einrichtungen und Veranstaltungen, noch die fabelhaftesten Lippenbekenntnisse verbergen. Die antisemitischen "Ausrutscher", auch die geplanten, fassten wir bereits hier ausführlich zusammen und auch dieses Jahr hat schon seinen ersten kapitalen Lapsus hervorgebracht: Innenstaatssekretär Bence Rétvári, dem man die Memory-Show rund um WW1 in die Agenda gedrückt hatte, rechnete vor, dass der Erste Weltkrieg mit 350.000 toten Ungarn "doppelt so viele ungarische Opfer gekostet hat wie der Zweite Weltkrieg". Merke: 600.000 ungarische Juden sind also keine ungarischen Opfer, nur die Soldaten an der Front und die Toten des Russenbombardements zählt Rétvári dazu. Ein wahrlich Freudscher Versprecher.

Einige Hundert Millionen Forint hat Rétvári an Kommunen für lokale Gedenkfeierlichkeiten zu verteilen, die meisten zielen freilich auf den "Schandvertrag" von Trianon, also den Ausgang des Krieges, der Ungarn natürlich wieder zum Opfer machte. Die Frage, wer von dem Bündnis mit Österreich seit 1867 profitierte, das das Land letztlich in den Weltkrieg zog und im Verlust der Kronländer mündete, diese Frage wird nicht gestellt. Wichtig ist, dass auch das letzte Pissdorf noch ein Trianon-Denkmal mit Großungarnblumenbeet, am besten gedünkt mit dem Kompost aus allen ehemaligen Kronländern, bekommt!

Der "tragische" Holocaust "traumatisierte" die Ungarn...

Für das zentral gesteuerte Holocaust-Gedenken, dass Regierungs-PR-Posaune Ferenc Kumin - ebenfalls unfreiwillig offenbarend als "würdiges Gedenken an den 70. Jahrestag des tragischen (!), ungarischen Holocaust" einleitet, werden allein 1,5 Milliarden Forint, also rund 5 Mio. EUR für NGO´s und Kommunen ausgeschrieben, mindestens nochmal ebenso viel für die zentralen Feiern, die Kosten für die Errichtung einer weiteren, von einem Militärhistoriker (!) zu leitenden Holocaustgedenkstätte (
bei der ersten ließ man 2011 die Leitung austauschen, weil der ungarische Nazismus zu offen als solcher, noch dazu auf Horthys Mist gewachsener präsentiert wurde), die genannten Denkmale etc., laufen in einem weiteren Extrabudget. - "Tragisch" war also der Holocaust in Ungarn, so tragisch wie ein Erdbeben, ein Tsunami? Nicht vielleicht schlicht verbrecherisch? In der gleichen Regierungsaussendung heißt es wörtlich weiter: er, der Holocaust, führte zu einem der größten Traumata in der ungarischen Geschichte. Also die Ungarn leiden heute unter dem Holocaust. Wer ist hier das Opfer?

Dem Ausland keine "Vorlagen" liefern

Die Regierung erinnert daran, dass sie "die erste in Europa" gewesen sei, die
soundsoviele amtliche Gedenktage für Land und Schulen einführte und man fühle sich "stark verpflichtet", das "Wissen über den Holocaust in der allgemeinen Öffentlichkeit" zu vertiefen und "auch den kleinsten Hauch von Antisemitismus" zu bekämpfen, was "bereits durch verschiedene überzeugende Wortmeldungen von verschiedenen Staatsoffiziellen bewiesen" worden sei. Eine dieser - das ungarische Nazitum zerschmetternden - Wortmeldungen, anlässlich der Errichtung einer Horthy-Statue seitens der Jobbik in der Budapester Innenstadt, offenbarte wie "stark verpflichtet" sich die Regierung fühlt: Fidesz-Fraktionschef Rogán verurteilte die Huldigungsaktion und begründete seine Abscheu darüber damit, dass man den ausländischen Journalisten nur wieder eine dankbare Vorlage liefere "über Ungarn als antisemitisches Land zu hetzen". Nicht die Statue für den Hitler-Paktierer und Massenmörder an eigenem und fremdem Volk ist das Problem, sondern die, die darüber berichten.

Die staatliche Holocaust-Gedenkshow 2014 hat zwei maßgebliche Ziele zu erfüllen:

1.
Ein äußeres: die Präsentation Ungarns und seiner Regierung als Vertreter der postulierten 0-Toleranz-Politik gegenüber Antisemitsmus und Rassismus im öffentlichen Leben und damit die publizitäre Eliminierung von Kritik an der wahltaktischen Kuschelpolitik mit den Neonazis von Jobbik. Das Vergessenmachen
antisemitischer Erscheinungen in der Regierungspartei selbst. Hier wird die Doppelstrategie fortgesetzt werden, die bereits bei der Tagung des Jüdischen Weltkongresses und der anschließenden, von der Regierung im Parlament abgehaltenen Antisemitismuskonferenz veranstaltet wurde: blumige, dem westlichen Mainstream angepasste Schuld- und Sühnebekenntnisse, die von Orbán-Freunden, die den Antifaschismus gerne als linke PR-Waffe in Gänsefüsschen apostrophieren, als "historisch" bejubelt werden und als Ersatz für tätige Politik zu genügen haben.

2. Die zweite Aufgabenstellung ist eine innenpolitische und strategische: die Interpretationshoheit über die Lehren der Geschichte, also die Pflege des Mythos` vom fremdbeherrschten, unterdrückten Ungarn als Opfer der Geschichte und Opfer größerer Mächte. Die Schaffung eines Geschichtsbildes also, das die heutige "Macht der Multis und Finanzmärkte" in eine Reihe mit den Besatzern früherer Zeiten stellt und gleichzeitig die Zeit ab dem Ausgleich 1867 (also K+K) bis hin zur Horthy-Ära als vorbildhaft für die Ambitionen der Orbán-Regierung zurechtbiegt. Das Leitbild des unabhängigen, gottesfürchtigen Ständestaates, das sowohl in der Politik vorgelebt als auch in den Schulen, Dank "Nationalem Rahmenlehrplan" und ideologischer Unterwerfung der Lehrerschaft, gelehrt wird und bis zum Tag des deutschen Einmarsches am 19.3.1944 als die Ära der Selbstbestimmung in der Verfassung verankert ist, stellt den ideologischen Überbau des Orbánschen Wunsch- oder - je nach Interpretation - Trugbildes vom idealen Ungarn dar.

Nazismus als Lebensversicherung des gemeinen Kapitalismus - Reinwaschung des “Konservativismus”

Die Verbrechen der Vorokkuppationszeit, das Aufkommen der ungarischen Nazibewegung, der Kriegseintritt mit zigtausenden Toten 1942, die Massaker in den besetzten Gebieten, die Verfolgung Andersdenkender, werden einfach unter den Tisch fallen gelassen oder als singuläre Ausrutscher, höchstens noch als bedauerliche Zeiterscheinungen beschrieben. Keinesfalls darf jedoch der Eindruck entstehen, der Faschismus stehe in irgendeinem Zusammenhang mit dem Machterhaltungstrieb der auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhenden Grundordnung.

Der Faschismus, so die rechte Lehrmeinung, ist nur ein radikaler Ausrutscher, eher schon eine Reaktion auf den ebenso schlimmen Bolschewismus und außerdem eine deutsche Erfindung. Nicht etwa die (Über)-Lebensversicherung des gemeinen Kapitalismus, die Notbremse, die eingesetzt wird, wenn alle Stricke zu reißen drohen, weil man es in seiner Gier einmal wieder übertrieben hat. Es war jedoch das "konservative" Zentrum, das Hitler mit ermächtigt hatte als Sozis und Kommis schon in den KZ´s saßen, es waren Bankierskreise, bei denen Papen und Hindenburg die Sache mit Hitler auskasperten, Krupp und Daimler, die von ihm profitierten. Aber nein, der wohlmeinende Konservativismus, dieses niedliche Wort für die zementierte Ungerechtigkeit dieser Welt, er muss unbefleckt bleiben, da sind sich Orbán und seine ausländischen Gesinnungsgenossen einig.

Wiedererfindung der Nation vor Lehre aus der Geschichte

 

Die Jubiläen 2014 bieten dafür willkommenen Anlass, Vorlagen für die Festigung der lernresistenten, rechtspopulistisch-völkischen Ideologie der Regierungspartei und ihrer Strategen. Die Feiern sollen Ungarn und "die Ungarn" weiter von eigenem Verschulden und damit auch von Verantwortung für Geschichte, Gegenwart und Zukunft reinwaschen. Dafür ist man bereit, sich nach außen devot gedenkend und kämpferisch antifaschistisch zu geben, gleichzeitig zelebriert man Relativismus und Revisionismus, marschieren weiter ungestraft nazistische Banden - trotz gestzlichen Verbots - durch Budapester Straßen und ungarische Dörfer, wird die Zementierung der Standesgesellschaft, die Bürger quasi von Geburt an zuordnet und mit unterschiedlichen Rechten ausstattet, vorangetrieben, für das höhere Ziel eines starken, unabhängigen Ungarn, versteht sich.

Es geht im Inneren um die (Wieder)Erfindung einer Nation, die - wie jede Nation - auch diesmal eine Chimäre, ein zweckerfüllendes Konstrukt bleibt, mit Potemkinscher Geschichtsschreibung und einer mentalen Massage für das Wahlvolk. Der politische Nutzen gibt den Ausschlag für das Handeln, nicht die Erinnerung an die Opfer, nicht die Lehren, die aus Mord und Selbstvernichtung für eine "höhere Sache", für Ungarn, seine Politik und für seine Zukunft in Europa zu ziehen wären.

Marco Schicker

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